Land der Ungleichzeitigkeit

Foto: © Welf Schröter

In Robert Musils Werk „Der Mann ohne Eigenschaften“ ringt ein Mann mit der Moderne, mit jenem neuen Denken, das durch die Spannung des historischen Moments im Jahr 1913 und dessen Erschütterung durch die flächendeckenden Verwüstungen und Tötungen im industrialisierten Ersten Weltkrieg emporgehoben wurde. Das alte wilhelminische Verbeugen vor der zu wenig hinterfragten Obrigkeit wurde überlagert und überschichtet vom neuen, sich aufrichtenden Ich, der Vorschein der Moderne.

Noch mit den Muttermalen des Ancién Régime versehen, entbirgt der Eigenschaftslose seine Utopie. Noch drängte das Alte nach vorne und holte das Hindenburgische hervor, während im Republikanischen das Demokratische noch keine ausreichende Kraft finden konnte.

Ernst Bloch sprach von Deutschland als dem „klassischen Land der Ungleichzeitigkeit“, in dem „unerledigte Vergangenheit“ die Widersprüche prägt und sich die „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“ regt.

Im achtzigsten Jahr der Machtübergabe an Hitler bricht diese Erinnerung an das Unabgegoltene wieder auf. Am Beispiel des „Mössinger Generalstreiks“ gegen Hitler am 31. Januar 1933, bei dem 800 Frauen und Männer die Arbeit niederlegten und gegen das NS-Regime demonstrierten („Hitler bedeutet Krieg!“), zeigt sich wiederum das ungleichzeitige Deutschland.

Während im Jahr 2013 die einen ihre „Erinnerungsarbeit“ in der Denunziation des damals kulturell-aufklärerischen Protestes und des besonderen humanen schwäbischen Dorfkommunismus als Vorstufe von Stalins Gulag diskriminieren, wählen andere den furchtvollen Weg der rein formalen Geschichtsbetrachtung. In der Angst davor, anstößig zu wirken, reduziert sich die Erinnerungsarbeit auf einen Tag, einen einzigen, geradezu ahistorischen gesehenen Tag. Seine Bedeutung für den Nationalsozialismus, seine Relevanz für den beginnenden staatlichen Antisemitismus treten in den Hintergrund. Nun ringt er wieder mit der Moderne, der Mann ohne Eigenschaften.

Stattdessen wäre es unabdingbar, klar und unzweideutig den Widerstand einfacher Arbeiterinnen und Arbeiter, Bauern, Tagelöhner und Arbeitslose zu würdigen und ihnen für den legitimen Widerstand gegen Hitler endlich zu danken, den Familien Maier, Maier, Stotz, Ayen, Haap, Wagner, Gauger, Textor, Steinhilber und weiteren. – Dies wäre für uns alle heute eine bessere Erbschaft dieser Zeit.

 

Mut zum Mut

Foto: © Welf Schröter

Inmitten des spannungsgeladenen Ringens um Erinnerung und die Würdigung des Widerstandes einfacher Menschen gegen Hitler, tritt eine Frau ans Mikrophon. Sie ist unüberhörbar Schwäbin, noch zögerlich, zum ersten Mal am Podium eines wissenschaftlichen Fachsymposiums. Sie spricht, immer sicherer werdend, dreißig Minuten über das Leben ihres Vaters und ihrer Mutter. Martin Maier war einer der maßgeblich Aktiven im „Mössinger Generalstreik“ gegen Hitler.

Beinahe dreißig Jahre lang erhob keine Person aus dem Kreis der Nachkommen der einst von der Gestapo verfolgten Teilnehmer des Generalstreiks öffentlich mehr die eigene Stimme. In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts waren die greisen Streikenden ein letztes Mal zu vernehmen. Nun tritt die über fünfzigjährige Rosemarie Vogt in die Öffentlichkeit. Bevor steht der achtzigste Jahrestag des Aufstandes in dem damaligen Textildorf am Rande der Schwäbischen Alb.

Sie spricht geradlinig, deutlich und nicht schüchtern. Sie verteidigt das Handeln ihrer Eltern. Ihr Vater hatte gesagt: „Ich hätte mir beim Rasieren nicht mehr in die Augen schauen können. Es war doch unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit den Leuten zu sagen, wer Hitler wählt, wählt Krieg. Wir konnten sie doch nicht mit offenen Augen ins Unglück rennen lassen.“

Die Tochter des bis zu seiner Amtsniederlegung 1933 aktiven Gemeinderats Martin Maier, der für seine Tat von der NS-Justiz zu 358 Tagen Gefängnis wegen Landeshochverrat und Hausfriedensbruch verurteilt, nach 1945 gerichtlich rehabilitiert und wieder zum Gemeinderat und Kreisrat gewählt wurde, lobte seinen „idealen Kommunismus“, der ihn trieb, sich für seine Mitmenschen einzusetzen. Später sprach sich Maier gegen die Ulbricht-Mauer und gegen die Sowjetpanzer in Prag aus. Sein Kommunismus war nicht der Kommunismus der Stalins, Breschnews etc.

Doch während in anderen Städten sich ein gewisses stolzes Selbstbewusstsein breit machen würde, spaltet die Erinnerung an den legitimen Widerstand der Mössinger gegen Hitler das heutige Stadtgeschehen. Rosemarie Vogt spricht von der Gegenwart, wenn sie die heutige „Verleumdung oder wenigstens üble Nachrede“ anprangert.

Während der NS-Zeit waren es vielfältige Denunziationen, die 98 Streikteilnehmer vor Gericht brachten. Nach 1945 war es das Schweigen und die subkutane Herabwürdigung der 800 Mutigen. Sie wurden als Wegbereiter von Stacheldraht und Lagern, als „Zuchthäusler“ und Gewalttätige bezeichnet. Heute im Januar 2013 braucht es in Mössingen erneut Zivilcourage, um gegen jene zu sprechen, die den Eindruck erwecken wollen, dass Hitler weniger schlimm gewesen sei als Stalin. – Als ob man zwischen zwei Mördern wählen könnte.

Am Ende ihrer Rede mit der Überschrift „Mut zum Mut“ lächelt Rosemarie Vogt und sagt selbstbewusst und augenzwinkernd: „Ich hoffe und wünsche mir, dass ich das Bild, das sich der eine oder andere von den ,schrecklichen‘ Kommunisten machte, etwas milder zeichnen konnte. Denn was zählt ist wie ein Mensch gelebt hat und wie er handelte.“

Ein kaum enden wollender Beifall gibt der Rednerin Ermutigung zurück. Sie hatte auch aus dem Herzen zahlloser Nachkommen der Generalstreikerfamilien gesprochen, die den Tränen nahe in den mittleren Reihen des Auditoriums sitzen. Es war ein Stück Zivilcourage in der Zivilgesellschaft gewachsen.