Blochs „mehrschichtige Dialektik“ als Gestaltungsansatz in der „digitalen Transformation“

In der Geschichte der Gesellschaften in Europa und insbesondere in der deutschen gebrochenen Historie führten tiefgreifende Transformationen immer wieder zu Polarisierungen zwischen jenen, die das Bisherige bewahren, und jenen, die das Vorhandene überschreiten wollten. Bei Übergängen und Umbrüchen innerhalb einer sozialökonomischen Formation markierten die Beschleunigungen des Wandels nicht selten eine größere Rolle als die Richtung des Wandels selbst. Geschwindigkeit dominierte die subjektive Wahrnehmung und die psychologischen Reaktionsmuster.

Der durch die Globalisierung eingeleitete Bedeutungsverlust des Nationalen und des Nationalstaates wird durch den Prozess der beschleunigten Digitalisierung bzw. der „digitalen Transformation“ abermals akzentuiert. Die seit mehr als zwei Jahrzehnten voranschreitende Entortung und Entzeitlichung menschlicher Begegnungsmöglichkeiten erscheint angesichts weltumspannender Internetinfrastrukturen als Bestätigung des Nicht-Nationalen und als sich verstärkende Ausrichtung weg vom nationalen Denken.

Foto: © Welf Schröter

Die „digitale Transformation“ wird dabei zunächst subjektiv in ihrer Veränderungskraft als durchsetzungsfähiger empfunden, als sie zu Beginn in ihrem faktischen Gehalt ist. Die sich beschleunigende Transformation des virtuellen Raumes mit dem gleichzeitig sich qualitativ konvergierenden Mensch-Netz-Interaktionsraum löst Emotionen aus, die ungleichzeitig zum Realen und ungleichzeitig zum Historischen wirken. Menschen sehen sich nicht mehr als souverän Handelnde sondern als immer häufiger bloße Assistenten oder Entmündigte von Technik.

In ihrem sozialpsychologisch-soziologischen Deutungsverhalten hinken Sozialwissenschaften und Philosophie größtenteils hinter dem derzeit vorherrschenden Primat des Technisch-Digitalen hinterher. Eine wesentliche Stärkung des Primats des Gesellschaftlich-Sozialen und der Subjektidentität ließe sich erreichen, wenn ein interdisziplinärer Diskurs sich auf der Basis von Ernst Blochs „mehrschichtiger Dialektik“ vorantreiben ließe. Blochs Begriff der „Ungleichzeitigkeit“ entfaltet im Hinblick auf gesellschaftlich-kulturelle wie sozialpsychologische Herangehensweisen und Methoden seine ganzheitliche Wirkung.

Angesichts des Wandlungsprozesses der Arbeit und deren latenzhafter Identität-Nicht-Identität der weiteren Entfremdung des tätigen Menschen und seiner Emanzipationspotenziale mit Hilfe des Abstrakt-Virtuellen kann die „mehrschichtige Dialektik“ zur Aufhebung unabgegoltener „belehrter Hoffnungen“ (Bloch) beitragen. Die „digitale Transformation“ des Hier und Jetzt in ein humanes Morgen gelingt eher auf der Basis „mehrschichtiger Dialektik“.

Eine Aussage des Tübinger Philosophen Helmut Fahrenbach, die dieser unter Rückgriff auf Blochs Kritik an ökonomistischem Denken traf, ließe sich methodisch heute neu lesen: „Wenn die marxistische Aufklärung gegen diese Irrationalismen nur objektive ökonomische Wahrheiten setzt, anstatt in der dialektischen Kritik des Irrationalen auch die utopisch-subversiven Elemente (Potentiale) freizulegen und zu reflektieren, wird sie am Lebensgefühl und Bewusstsein der Menschen wirkungslos vorbeireden.“ (Helmut Fahrenbach: Philosophie – Politik – Sozialismus. 2016. ISBN 978-3-89376-1586)

 

Reich der Notwendigkeit – Reich der Freiheit

Unter dem Titel „Reich der Notwendigkeit – Reich der Freiheit: Arbeitswelten in Literatur und Kunst“ lädt der Verband deutscher Schriftsteller zu seiner Tagung vom 26.–28. Mai 2017 nach Berlin ein. Der Wandel der Arbeit und das Thema Arbeitswelten in der Literatur stellen die Leitmotive des Treffens dar.

„Arbeit wurde in einem Wörterbuch um 1800 beschrieben als Mühe, Last und Verausgabung, auch Abnutzung und bisweilen Qual. Immer stand aber dem „Reich der Notwendigkeit“ auch die Sehnsucht nach dem „Reich der Freiheit“ gegenüber, das nur auf der Basis der materiellen Produktion aufblühen könne, d.h. es galt den Traum zu verwirklichen, so würdig und wirksam wie möglich zu arbeiten und jenseits dessen viel Zeit für autonome, selbstbestimmte Erfüllung individueller Bedürfnisse zu finden. In Kunst und Literatur, im Theater und in der Musik wurde Arbeit vielfältig thematisiert. Wie diese selbst sich im Laufe der Geschichte veränderte, fand auch die Verarbeitung spezifische Ausdrucksformen.“

Eine Veranstaltung der Gewerkschaft ver.di, des Bildungs- und Begegnungszentrums Clara Sahlberg, der GewerkschaftsPolitische Bildung gemeinnützige GmbH,
des Ver.di Bundesfachbereichs Medien-Kunst-Industrie, des Ver.di Landesbezirks Nord, des Bundesvorstands des Verbands deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS), des Talheimer Verlags und von CLARA e.V. In Kooperation mit dem Germanistischen Institut an der Schlesischen Universität Katowice.

Zu den Vortragenden gehören Prof. Dr. Jost Hermand, Günter Wallraff, Heinrich Bleicher-Nagelsmann, Lothar Schröder, Welf Schröter und andere. Siehe auch das vollständige Programm: pdf-Datei