Harold Livingston (1923 – 2014)

Harold Livingston (Foto: © Welf Schröter)

Harold Livingston (Foto: © Welf Schröter)

Es war der 22. Juli 2009, als sich in der schwäbischen Kleinstadt Mössingen am Rande der Schwäbischen Alb zwei Männer trafen, die sich zuvor nie begegnet waren und doch indirekt verbunden schienen. Der Philosoph und Naturwissenschaftler Jan Robert Bloch gab dem Unternehmer Harold Livingston die Hand.

Monate später schrieb Jan Robert Bloch in seinem letzten Text vor seinem Tod über das Treffen in Mössingen: „Etwas stieg auf, was entschwunden schien. Etwas kehrte ein, wovon kaum jemand sprach.“ Jan Robert Bloch erinnerte sich an die Freundschaft seiner Eltern Ernst und Karola Bloch mit Adolph Lowe und Beatrice Lowe geb. Löwenstein.

Nur wenige Wochen vor seinem 91. Geburtstag im Oktober starb Harold Livingston in London. Er war der Sohn von Artur Löwenstein, dem Bauhaus-Anhänger und Mitbegründer des Mössinger Textilunternehmens Pausa sowie Bruder von Beatrice Löwenstein. Als 13-jähriger Junge wurde er zusammen mit seinen jüdischen Eltern und weiteren Angehörigen von den Nationalsozialisten vertrieben. Die Firma Pausa wurde in einer geplanten Aktion zwangs„arisiert“. Als 22-jähriger kam Harold Livingston als britischer Soldat zurück. Er gehörte nicht nur zu den Befreiern Deutschlands von der NS-Diktatur sondern auch zu den Befreiern der Inhaftierten im KZ Bergen-Belsen.

Auf Grund der Initiative von Bürgern konnten im Jahr 2009 Mitglieder der Familie Löwenstein 73 Jahre nach ihrer erzwungenen Emigration erstmals wieder Mössingen besuchen. Im Namen der Stadt entschuldigte sich der damalige Oberbürgermeister bei der Familie. Beim seinem dritten Besuch im Sommer 2013 kam Harold Livingston auf Einladung des Theaters Lindenhof und des Löwenstein-Forschungsvereins in die Steinlachstadt. Er nahm als Ehrengast an der Aufführung des Stückes „Ein Dorf im Widerstand“ teil. In einer beeindruckenden Rede entschuldigte sich bei diesem Aufenthalt der örtliche Landrat persönlich bei Harold Livingston für das verbrecherische Verhalten der Behörden und der Bank im Jahr 1936 im Zuge der Enteignung von Artur und Felix Löwenstein.

In hohem Alter konnte Harold Livingston wieder Zugang finden zu den Orten seiner Kindheit, Stuttgart und Mössingen. In Jan Robert Bloch hatte er einen sensiblen Gesprächspartner gefunden. Für den damals 72jährigen Bloch war das Zusammentreffen mit dem damals 85-jährigen Livingston das Symbol für eine andere, glaubwürdige und authentische Erinnerungskultur. Beide standen sie gegen jedwede Ausprägung des Antisemitismus.

 

Löwensteins, Lowes und Blochs

(Foto: © Welf Schröter)

Die einen waren Brüder, die anderen waren langjährige Freunde. Gemeinsam waren ihnen nicht nur ihre jüdische Herkunft, ihr Interesse am Bauhaus und ihre Gegnerschaft zum Nationalsozialismus. Sie mussten Deutschland verlassen, um ihr Leben zu retten.

Bei den einen handelte sich um die Stuttgarter Textilinnovatoren Artur und Felix Löwenstein mit ihren Partnerinnen Flora und Helene Löwenstein, die zusammen im Jahr 1919 das schwäbische Unternehmen „Pausa“ in Mössingen gründeten. Sie verbanden das Bauhaus-Design (gegründet 1919) aus Weimar und Dessau mit modernster Stoffdrucktechnik. Ihr Erfolg, ihre antinazistische Haltung und ihr globales Denken wurden ihnen nach 1933 zum Verhängnis. Die „Pausa“ wurde enteignet, die Löwensteins von Nationalsozialisten vertrieben. Dies geschah 1936.

In Berlin war zuvor 1933 der kritische Ökonom Adolph Löwe – später Lowe – vom NS-Staat aus der Universität gedrängt. Er ging mit seiner Partnerin Beatrice Lowe, geborene Löwenstein – Schwester von Artur und Felix Löwenstein – nach Manchester. Die Lowes konnten mit Hilfe englischer Freunde 1936 Felix und Helene Löwenstein in die britische Textilmetropole in Sicherheit bringen.

Von Prag aus retteten sich Ernst und Karola Bloch rechtzeitig vor den heranrückenden deutschen Truppen über Polen in die USA. Die Architektin und Bauhaus-Anhängerin Karola Bloch hatte in der Moldaustadt mit der Bauhäuslerin Friedl Dicker ein gemeinsames Design-Büro. Friedl Dicker hatte zuvor unter anderem für die Löwensteinsche „Pausa“ gearbeitet.

In die USA emigrierten auch die Lowes. Sie gehörten zu den engsten Freunden der Blochs. So fanden sich an der amerikanischen Ostküste die Blochs, die Lowes und Teile der Löwensteins.

Rund achtzig Jahre danach gab der Löwenstein-Forschungsverein nun den Anstoß zur Gründung einer „Forschungs- und Archivstelle Artur und Felix Löwenstein“, in der unter anderem auch das Zusammenwirken der Blochs, Lowes und Löwensteins untersucht werden soll. Aus mehreren Kontinenten haben sich 34 Nachkommen der Familie Löwenstein gefunden, die dieses Vorhaben unterstützen. Zu den Unterstützern des Löwenstein-Forschungsvereins gehörte auch der im Jahr 2010 gestorbene Jan Robert Bloch, Sohn von Ernst und Karola Bloch.

„Es ist die Aufgabe einer klugen Gedenkarbeit, an die Schrecken der Shoah zu erinnern und zugleich das Unabgegoltene und Unaufgehobene, die verschütteten Tagträume früherer Zeiten und Generationen in das heutige Bewusstsein zurückzuholen“, betonte Welf Schröter, neben Irene Scherer Mitinitiator der „Forschungs- und Archivstelle Artur und Felix Löwenstein“, anlässlich seines 60. Geburtstages.