Einladung zu Online-Lesungen in der Reihe „Kristalle der Hoffnungen“ im Rahmen von “30 Tage im November – Vom Wert der MenschenRechte”

Die Fähigkeit zu hoffen, stellt eine wesentliche Lebensbedingung des Menschen dar. Das Hoffen spiegelt nicht nur die persönliche und private Sehnsucht. Hoffnungen müssen auch enttäuscht werden, um lernen zu können. Die solcherart „belehrte Hoffnung“ eröffnet den Weg zur Humanisierung des Menschen. Hoffnungen des einzelnen Menschen können Realität werden, wenn sie sich zu gemeinsamen gesellschaftlichen Hoffnungen auf Wandel entwickeln. „Kristalle der Hoffnungen“ sind die Vorboten gesellschaftlicher Hoffnungserfüllungen. Lassen Sie uns solche „Kristalle der Hoffnungen“ in Lesungen und Vorträgen auffinden. Dabei folgen wir den Spuren von Menschen, die ihren Hoffnungen verbunden geblieben sind.

Die Online-Veranstaltungsreihe „Kristalle der Hoffnungen“ als Teil der Reihe „30 Tage im November“ wird getragen von: Redaktion „Latenz“, Redaktion „bloch-akademie-newsletter“, Löwenstein-Forschungsverein e.V., Hans-Mayer-Gesellschaft e.V. und Talheimer Verlag.

Online-Veranstaltungsreihe „Kristalle der Hoffnungen“ im Rahmen des Projektes „30 Tage im November – Vom Wert der MenschenRechte”. Öffentliche Veranstaltungsreihe vom 27. Oktober bis 04. Dezember 2022. Siehe: https://30tageimnovember.de/

Anmeldung bei schroeter@talheimer.de mit Angabe des Datums der gewünschten Veranstaltung. Wer sich anmeldet, erhält einen Zoom-Link zugesandt. Eintritt frei.

Freitag, den 4. November 2022 von 17.30 Uhr bis 18.45 Uhr
„Widerstand ist nichts als Hoffnung“
Online-Lesung aus dem Buch „Widerstand ist nichts als Hoffnung“. Es lesen Heinrich Bleicher (Vorsitzender der Hans-Mayer-Gesellschaft e.V.) und Welf Schröter (Redaktion bloch-akademie-newsletter). Erinnerungen an den „Dichter der Résistance“ René Char, an den spanischen Schriftsteller, Jorge Semprún, einem Gegner von Hitler und Franco sowie an den DDR-Oppositionellen Jürgen Teller. Länge ca. 50 Minuten plus anschließendes Gespräch.

Lesehinweis: Heidi Beutin, Wolfgang Beutin, Heinrich Bleicher-Nagelsmann, Michael Walter, Claudia Wörmann-Adam (Hg.): „Widerstand ist nichts als Hoffnung“ Widerständigkeit für Freiheit, Menschenrechte, Humanität und Frieden. 2021, 384 S., ISBN 978-3-89376-190-6.

Freitag, den 11. November 2022 von 17.30 Uhr bis 18.45 Uhr
„Erinnerungskultur stärkt Demokratie“
Online-Lesung aus dem Buch „Erinnerungskultur stärkt Demokratie. Zur Verteidigung der Menschenwürde“. Das Buch wurde Doris Angel und Harold Livingston, den Nachkommen der Familie Löwenstein gewidmet. Irene Scherer (Vorsitzende des Löwenstein-Forschungsvereins e.V.) und Welf Schröter (Redaktion bloch-akademie-newsletter). Länge ca. 45 Minuten plus anschließendes Gespräch.

Lesehinweis: Irene Scherer, Welf Schröter (Hg.): Erinnerungskultur stärkt Demokratie. Zur Verteidigung der Menschenwürde. Gewidmet Doris Angel (Doris Löwenstein) und Harold Livingston (Helmut Löwenstein). 2019, 144 S., ISBN 978-3-89376-183-8.

Freitag, den 18. November 2022 von 17.30 Uhr bis 18.45 Uhr
Zur Bedeutung und Aktualität von Richard Schmid
Online-Vortrag von Hans-Ernst Böttcher, ehem. Landgerichtspräsident in Lübeck, Mitglied im Löwenstein-Forschungsverein. Richard Schmid war ein Freund Fritz Bauers seit den 1920er Jahren und in der bundesdeutschen Nachkriegszeit 1953 bis 1964 ein etwas anderer Oberlandesgerichtspräsident. Der Autor und Vortragende hat 2013 in Mössingen die Bedeutung Richard Schmids für die Rehabilitierung des Mössinger Generalstreiks dargelegt. Länge ca. 50 Minuten plus anschließendes Gespräch.

Lesehinweis: Hans-Ernst Böttcher: Freiheitsgrundrechte und Gleichheitssatz – kein Widerspruch in sich. Oder: Von Richard Schmid als Verfassungsinterpret lernen. In: Latenz – Journal 5|2021. Ist der Liberalismus am Ende? Ausgabe 05|2021. Hrsg. von Irene Scherer und Welf Schröter. 2021, 204 S., ISBN 978-3-89376-191-3. 

Freitag, den 25. November 2022 von 17.30 Uhr bis 18.45 Uhr
„Die Geschichte der Löwenstein’schen Pausa. Zwischen Bauhaus, Mössinger Generalstreik und nationalsozialistischer Zwangsenteignung“
Bebilderter Online-Vortrag des Löwenstein-Forschungsvereins e.V. Mössingen zur Geschichte des Löwenstein’schen Textilunternehmens Pausa, der Bedeutung der rebellischen Bauhausfrauen in der Pausa, der Verbindung zur Stuttgarter Netzwerkerin Lilly Hildebrandt und des Widerstands der Pausa-Belegschaft gegen Hitler am 31. Januar 1933. Mit zahlreichen Bildern. Vortragende sind Irene Scherer (Vorsitzende des Löwenstein-Forschungsvereins e.V.) und Welf Schröter (Redaktion bloch-akademie-newsletter). Länge ca. 60 Minuten plus anschließendes Gespräch.

Lesehinweis: Irene Scherer, Welf Schröter, Klaus Ferstl (Hg.): Artur und Felix Löwenstein. Würdigung der Gründer der Textilfirma Pausa und geschichtliche Zusammenhänge. 2013, 396 Seiten, ISBN 978-3-89376-150-0.

Fünfter Online-Termin am Freitag, den 2. Dezember 2022 von 17.30 Uhr bis 18.45 Uhr
Karola Bloch – Aus meinem Leben
Online-Lesung aus der Autobiografie Karola Blochs über Widerstandsarbeit, Flucht, Exil. Länge ca. 60 Minuten plus anschließendes Gespräch. Es lesen Irene Scherer und Welf Schröter vom Talheimer Verlag. Länge ca. 50 Minuten plus anschließendes Gespräch.

Lesehinweis: Karola Bloch: Aus meinem Leben. 1995, 324 Seiten, kt., ill., 28,00 €
ISBN 978-3-89376-037-4.

Sechster Online-Termin am Freitag, den 9. Dezember 2022 von 17.30 Uhr bis 18.45 Uhr
Hans Mayer – Der unbequeme Aufklärer
Online-Lesung aus dem Buch „Der unbequeme Aufklärer – Gespräche über Hans Mayer“. Eine Lesestunde über den großartigen Literaturwissenschaftler, Gegner des Nationalsozialismus und Kritiker der SED, Freund von Ernst und Karola Bloch sowie Inge Jens. Es lesen Heinrich Bleicher (Herausgeber und Vorsitzender der Hans-Mayer-Gesellschaft e.V.), Irene Scherer und Welf Schröter vom Talheimer Verlag. Länge ca. 60 Minuten plus anschließendes Gespräch.

Lesehinweis: Heinrich Bleicher (Hg.): Der unbequeme Aufklärer. Gespräche über Hans Mayer. zweite überarbeitete Auflage 2022, 296 Seiten, ISBN 978-3-89376-195-1

Einladung zur Präsenzveranstaltung „Oberlandesgerichtspräsident Richard
Schmid (1899 – 1986) – ein Radikaler in öffentlichen Dienst“ am 24. November

Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Nachdenken über den Rechtsstaat“ zur Ausstellung „NS-Justiz in Stuttgart“ referiert Hans-Ernst Böttcher, Präsident des Landgerichts Lübeck i. R. über Richard Schmid (1899 – 1986): „Oberlandesgerichtspräsident Richard Schmid (1899 – 1986) – ein Radikaler in öffentlichen Dienst“ am 24. November 2022.

Die Justiz in Westdeutschland bestand nach 1945 fast ausschließlich aus Richtern und Staatsanwälten, die schon vor 1945 im Dienst waren. Eine Ausnahme war Richard Schmid (1899 – 1986). Als Rechtsanwalt in Stuttgart war er während der Nazidiktatur als Verteidiger in Kontakt mit verfolgten Sozialisten und Kommunisten und schließlich selbst Mitglied einer Widerstandsgruppe der illegalen Sozialistische Arbeiterpartei. Er erlitt Konzentrationslager und drei Jahre Zuchthaus. 1945 wird Richard Schmid Generalstaatsanwalt, 1953 kurz Justizminister und schließlich bis 1964 Oberlandesgerichtspräsident in Stuttgart.

Richard Schmid war ein Meister des Wortes, juristisch wie literarisch. Er war bis kurz vor seinem Tod schriftstellerisch und journalistisch aktiv, in der juristischen Presse ebenso wie in allgemeinen Zeitungen und Zeitschriften und im Funk. Wichtige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu den Grundrechten gehen auf Richard Schmid zurück.

Hans-Ernst Böttcher kannte Richard Schmid seit 1976 noch persönlich gut; er berichtet von Leben und Werk und würdigt dessen bleibende Verdienste. Er zeigt, dass die verfassungsrechtlichen Anregungen Richard Schmids heute mehr denn je Grundlagen für eine demokratiegeleitete Anwendung und Auslegung der Gesetze und für ein klares ‚Nein!‘ gegen jede Form des Auflebens von Alt- und Neonazismus sein können.

Die Ausstellung „NS-Justiz in Stuttgart“ im Landgericht Stuttgart dokumentiert die nationalsozialistische Strafjustiz und die Radikalisierung der Urteilspraxis von 1933 bis 1945. Die Dokumentation beleuchtet u.a. auch die Biografien der Richter und Staatsanwälte des Sondergerichts und der Strafsenate des Oberlandesgerichts, die an Todesstrafen mitwirkten. Die meisten machten ab 1950 wieder Karriere im Justizdienst.

Weitere Informationen zur Ausstellung siehe: www.hdgbw.de/ausstellungen/projekte/

Die Veranstaltungsreihe will Fragestellungen der Ausstellung durch weiterführende Vorträge u. ä. aufgreifen und vertiefen. Dabei sollen nicht nur historische Teilaspekte und der Umgang mit der NS-Vergangenheit der Justiz Thema sein, sondern der Blick soll auch auf aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen des Rechtsstaats gerichtet werden.

Oberlandesgericht Stuttgart, 24. November 2022, 18.00 Uhr bis 19.30 Uhr, Ort: Oberlandesgericht Stuttgart, Eingang zur Veranstaltung über Archivstraße 15 A, Stuttgart

„Widerstand ist nichts als Hoffnung“ (I) – Ein Konzept

30 Tage im November – Vom Wert der MenschenRechte – Öffentliche Veranstaltungsreihe vom 27. Oktober bis 04. Dezember 2022

Siehe: https://30tageimnovember.de/

Der Blick auf die deutsche Geschichte zeigt, wohin Intoleranz, Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit führen können. Heute gilt es mehr denn je, Wissen und Werte zu vermitteln, die uns befähigen, Frieden, Demokratie und Freiheit immer wieder neu zu fordern, zu bewahren und die Allgemeinen Menschenrechte zu verteidigen!

Erinnerungskultur stärkt die Demokratie: Unsere Initiative versteht sich als ein Lernort der Geschichte. Das Neue darf das Alte nicht verdecken, wenn es gilt, die Geschichte zu verstehen und unsere Gegenwart zu gestalten: An Morgen erinnern.

Die AnStifter laden Kulturinitiativen, KünstlerInnen, Kinos und Theater, Büchereien, Schulen und Unis, Kirchen und Gewerkschaften, Verbände sowie die Stadtgesellschaft zum Mitmachen ein: als VeranstalterIn, AkteurIn, als Publikum, VorleserIn, AnStifterIn, als Verantwortliche für Frieden, Demokratie und Menschenrechte. Die Reihe will mit Ihnen und Euch, den Kulturschaffenden aus Stadt und Region, auf die Suche gehen, mit Bild, Text und Ton, Theater, Musik und Film, mit Freude an Experimenten, Dialog, öffentlichem Denken und Machen.

Unser Konzept basiert auf Eigenwilligkeit und Eigeninitiative, Vielfalt und Solidarität der Mitwirkenden. Sie unterstützen uns, auch wenn Sie die „30 Tage im November“ nur nominell mittragen wollen. Sie können eigene Veranstaltungen für die Reihe entwickeln, passende Vorschläge aus Ihrem November-Programm einreichen, Kooperationen anbieten oder in ganz anderer Form eingreifen. Wir bitten, im Rahmen der „30 Tage“ auf Ihren Bühnen, vor oder nach Ihren Veranstaltungen in geeigneter Form Ihnen wichtig erscheinende Artikel der Menschenrechte zu präsentieren oder Ihre Veranstaltung der Menschenrechtspräambel zu widmen.

Die Reihe „Vom Wert der Menschenrechte“ mit mehr als 100 Veranstaltungen wird von mehr als 200 Initiativen, Theatern und anderen Einrichtungen mitgetragen. Zu der Reihe erscheint im Herbst eine 20-seitige Programmzeitung, es gibt Plakate und Flyer, Hinweise über die sozialen Medien, eine Website und Ihre eigenen Hausprogramme.

(Aus der Ankündigung von Peter Grohmann und dem Team „Die AnStifter“)

 

Widerspruch gegen vermeidbare Dummheiten

Zugegeben, den demokratischen Bewegungen in Europa weht an vielen Orten der Wind rückwärtsgewandter Nationalismen entgegen. Zugegeben, die Kräfteverhältnisse zur weiteren Humanisierung der sozialen Lebensbedingungen in den europäischen Staaten sind nicht ermutigend. Aber reicht dieses aus, um vorsätzlich vermeidbare Dummheiten zu begehen?

Spätesten seit dem Ersten Weltkrieg wissen wir, dass die Ideologisierung des nationalstaatlich bornierten Denkens eine der wesentlichen Gegnerinnen der Demokratie war. Wenn in Frankreich, Holland und Österreich heute mit der Wiederzurschaustellung schon mehrfach gescheiterter völkischer Parolen versucht wird, Enttäuschte hinter falscher Flagge zu versammeln, muss dann aus den Mündern von jenen, die sich links nennen, eine zwar andere – in der Wirkung aber vergleichbare – Parole kommen? Glauben die Lafontaines, Wagenknechts, Mélenchons und die Anhänger der Fünf-Sterne-Bewegung tatsächlich, dass für ihren Neo-Links-Nationalismus die Lehren des Ersten Weltkrieges nicht gelten?

Foto: © Welf Schröter

Wenn unter den gegebenen Rahmenbedingungen für jene, die sich als demokratische Linke verstehen, heute etwas gilt, dann ist es folgende unabgegoltene und ungleichzeitige Last europäischer Geschichte: Wer heute sich für den zivilgesellschaftlichen Fortschritt einsetzen will, der kann nicht anders, als zuförderst die Werte der Trikolore Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – ergänzt um soziale Gerechtigkeit – als zentrale Gemeinsamkeiten einer dezentralen, emanzipatorischen und antitotalitären Demokratiebewegung in Europa zu verteidigen. Es gilt, die Erbschaften einer Hannah Arendt und eines Ernst Bloch mit dem Denken eines Jürgen Habermas und einer Ágnes Heller in ihrem Identisch-Nicht-Identischen zu verknüpfen.

Nicht die Erbschaft leninistischer Sackgassen eröffnet neue Perspektiven, sondern die herausfordernde Negation der Negation der Droits de l’homme zeigt den Weg.
Der Linksnationalismus ist keine Perspektive. Er ist eine Dummheit. Dies gilt es, auch einem Slavoj Žižek deutlich zu sagen, der – in einer schlechten Kopie der schon damals verheerend falschen „Sozialfaschismusthese“ eines Dimitrow – in Hillary Clinton den Hauptfeind der amerikanischen Demokratie witterte.

Arno Münster hat völlig Recht, wenn er in seinem Aufsatz in der Buchzeitschrift „Latenz“ über die französische Linke kritisch schreibt, nicht Spaltung und Ausgrenzung sondern Zusammenstehen für die gemeinsamen solidarischen Werte ist angesagt.

 

Wer ist das Volk? Die Vermessung der Demokratie – Spannungen im zivilgesellschaftlichen Bewusstsein

978-3-89376-170-8Für die Erneuerung und Ausweitung der Demokratie in Europa setzt sich die erstmals zur Frankfurter Buchmesse 2016 erschienene Buchzeitschrift „Latenz“ ein. Das Journal für Philosophie und Gesellschaft, Arbeit und Technik, Kunst und Kultur wird von einer fünfköpfigen Fachredaktion geleitet. Dreißig international renommierte Fachexpertinnen und Fachexperten aus Frankreich, Polen, Österreich, Kroatien und Deutschland bilden einen kompetenten Beirat. Der Schwerpunkt der ersten Ausgabe legt Antworten auf die Frage vor „Wer ist das Volk?“ und leistet Beiträge zur Neuvermessung der europäischen Idee der Demokratie.

„Nach mehr als 25 Jahren verlegerischer Tätigkeit auf dem offenen Feld des Sachbuches sehen wir den Bedarf nach einer Buchzeitschrift, die das aufklärerische Denken aus Philosophie und Sozialwissenschaften mit gesellschaftspolitischem Handeln verbindet,“ betonen die Herausgeber Irene Scherer und Welf Schröter: „Es geht einerseits um die Verteidigung und Aufhebung der Werte der „Trikolore“ als Erbschaft der Citoyennes und der Citoyens, um Sichtung des Unabgegoltenen und scheinbar Verschollenen, um die Wiederentdeckung enttäuschter ungleichzeitiger Hoffnungen als Gärstoff für Besseres. Zugleich rückt die Weiterentwicklung der Gegenwart zugunsten einer Humanisierung des Menschen unverändert auf die Tagesordnung.“

Das Journal „Latenz“ will ein Debatten-Forum sein. Autorinnen und Autoren unterschiedlicher Fachdisziplinen und gesellschaftlicher Gruppierungen sollen eine Plattform erhalten, auf der innerhalb eines breiten Themenspektrums zwischen Gesellschaftstheorie und historisch-politischer Analyse, ökonomischer Prognose und ästhetischer Kritik versucht werden soll, die Gegenwart zu vermessen, deren innere Dynamik aufzuspüren und auf ihr eventuell emanzipatorisches Potenzial hin zu befragen.

Buchangaben 

Rosas „Resonanz“ ohne Blochs „Heimat“

Foto: © Welf Schröter

Foto: © Welf Schröter

Die neue Ausarbeitung des Soziologen Hartmut Rosa mit dem Titel „Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehung“ (2016) hat große Erwartungen erzeugt. Ausgehend von seinem hervorragenden Band „Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung“ (2012) war zu glauben, dass er seine Analyse der Zusammenhänge von Beschleunigung und Demokratie, von Zeitwahrnehmung und Selbstwahrnehmung vertiefen und erweitern würde. Doch im Kern hat er sich von seiner früheren Perspektive schrittweise entfernt und sich einer affirmierenden Positionierung genähert. (Siehe dazu „Schwierigkeiten beim Lesen von Hartmut Rosas ,Resonanz‘“.)

Rosa legt eine hochinteressante Darlegung der beiden neu definierten Kategorien „Resonanz“ und „Entfremdung“ vor. Nachteilig wirkt sich aus, dass er die Entstehung seiner Theorie früheren Denkern wir Marx, Adorno, Habermas und Bloch geradezu buchstäblich in den Mund legt, als ob diese die wissenschaftliche Tür für Hartmut Rosa geöffnet hätten.

In einem grundlegenden Missverständnis des Bloch‘schen Werkes schreibt Rosa etwa (740): „Kinder sind Resonanzwesen, so hat es sich gezeigt; nicht zuletzt deshalb konnte Bloch postulieren, die (resonante) Heimat, in der noch keiner gewesen sei, scheine uns aus der Kindheit her.“

Rosa nennt zwar das dreibändige Werk von Ernst Bloch „Das Prinzip Hoffnung“ als Referenzliteratur, hat es offensichtlich aber nicht ausreichend rezipiert. Auf 815 Seiten kommt er lediglich zwei Mal auf Blochs „Heimat“-Begriff zu sprechen. Jedoch verwendet er lediglich das auf der Buchrückseite des dritten Bandes zitierte Schlusszitat. Die für die „Resonanz“-Diskussion notwendige Aufhebung des Bloch’schen Begriffes der „Ungleichzeitigkeit“ unterlässt er völlig (604). In der produktiven Spannung von „Resonanz“ und „Ungleichzeitigkeit“ läge aber eine der Schlüssel-Thesen und Anti-Thesen einer zukunftsweisenden systematischen Theorie moderner Gesellschaftlichkeit.

Auch die hegelianische Subjekt-Objekt-Beschreibung mit ihren emanzipatorischen Kritiken durch Marx und Bloch erscheint für Rosa als materialistisch zu wendende Dialektik wenig bedeutsam. Er spricht von seiner eigenen These, in der „Subjekt und Welt einander antworten“(482, 65). Rosa erinnert an die Marx’sche Verdinglichungsanalyse (544, 579), zieht sich aber von der Möglichkeit eines oder mehrerer gesellschaftlicher Subjekte zurück.

„Resonanz ist das Andere der Entfremdung“ (306). Dieser Kernaussage Rosa schiebt der Autor eine Definition von Entfremdung nach, die sich materiell-ökonomischen Konnexen kaum zu öffnen wagt: „Entfremdung bezeichnet damit eine Form der Welterfahrung, in der das Subjekt den eigenen Körper, die eigenen Gefühle, die dingliche und natürliche Umwelt oder aber die sozialen Interaktionskontexte als äußerlich, unverbunden und nichtresponsiv beziehungsweise als stumm erfährt“ (306).

Jenseits von Blochs „belehrter Hoffnung“ („docta spes“) verwandelt Rosa Hoffnung in individuelle Zuversicht: „Resonanz entsteht also niemals dort, wo alles ,reine Harmonie‘ ist, und auch nicht aus der Abwesenheit von Entfremdung, sondern sie ist vielmehr gerade umgekehrt das Aufblitzen von Hoffnung auf Anverwandlung und Antwort in einer schweigenden Welt“ (321).

Gegen die „belehrte Hoffnung“ Blochs erscheint Rosas Hypothese wagemutig, dass „die Resonanzkraft der Geschichte erlischt, dass die geschichtlichen Ereignisse uns nichts mehr zu sagen haben“ (511).

 

Nous sommes Charlie Hebdo! – Wir sind Charlie Hebdo!

705558-uneafficheSolidarität mit den französischen Verlegern und Journalisten

Mit großer Trauer nimmt die Redaktion des bloch-blog Anteil an dem Leid der Angehörigen der ermordeten Journalisten und Verleger der französischen Zeitung „Charlie Hebdo“. Als Arbeitende des Wortes erklären wir uns solidarisch mit den Kolleginnen und Kollegen bei „Charlie Hebdo“. Wir sehen uns verbunden mit den landesweiten Protesten in ganz Frankreich zur Verteidigung der Meinungsfreiheit und der Pressefreiheit.

Die große Errungenschaft der „Französischen Revolution“ ist die Durchsetzung der Bürgerrechte als Citoyenne und Citoyen. Diese Erbschaft mit der Trennung von Kirche und Staat bildet die Grundlagen moderner Zivilgesellschaften nicht nur in Europa.

Wer das Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit angreift, will die Demokratie schädigen. Demokratie aber ist die Grundlage unseres Zusammenlebens in politischer Toleranz.

Mit der Aussage „Nous sommes Charlie Hebdo!“ – „Wir sind Charlie Hebdo!“ schließen wir uns den europaweiten und weltweiten Solidaritätsbekundungen an.

Wer versucht, Religion über die Demokratie zu stellen, will rückwärtsgewandte Unmündigkeit statt nach vorne gerichteter Aufklärung hin zu individueller Freiheit.

Wer versucht, Religion zu instrumentalisieren, um Menschen auszugrenzen und ihrer Rechte zu berauben, hat die Werte der Trikolore und die Werte des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus siebzig Jahre nach der Befreiung durch die Alliierten nicht verstanden.

„Unmündigkeit ist trotz größter zivilisatorischer und kultureller Entfaltung nach wie vor geblieben. Unsere Aufgabe ist es, unaufhaltsam aufzuklären, das Bewußtsein des Menschen wachzurütteln. Andere Waffen haben wir nicht.“ (Karola Bloch)

 

Ein Europäer und demokratischer Citoyen ist tot

(Foto: © Welf Schröter)

(Foto: © Welf Schröter)

Er sezierte die Moderne und suchte die Fugen ihrer zentrifugalen Fragmente. Ob Kritik der Technik und Kritik des Gesellschaftlichen, ob Analyse der „Individualisierung“ als Voraussetzung der Emanzipation des Individuums oder hoffnungsvoller Blick auf ein antitotalitäres Europa, er forderte heraus und verlangte seinen Leserinnen und Lesern viel ab. Mit Leidenschaft und Humor ironisierte er die Innenzentrierung des Akademisch-Universitären, organisierte eher Dialoge und Diskurse mit der Zivilgesellschaft. Er drängte auf eine neue Zeit globaler Demokratie und Humanität. Er wollte ein neues Verständnis von Moderne und eine Modernisierung des Sozialen als konkret-utopisches Nahziel.Einer seiner zentralen Begriffe lautete „Entgrenzung“. Dieser analytische Begriff wurde methodischer Bestandteil des gesellschaftlichen Diskurses über die Zukunft der Arbeit. Dort wurde die strukturelle Entgrenzung der Arbeit im Wandlungsprozess hin zu neuen Infrastrukturen der Arbeit als westlicher Vorgang der digital-technischen Umbaus der Industriearbeit benannt. „Entgrenzung“ korrespondiert heute – im Angesicht der Perspektive von „Industrie 4.0“ – mit wachsender Komplexität und Abstraktion als neue Rahmenbedingung der Individuation.

Der überraschende Tod des Soziologen Ulrich Beck, Autor des Werkes über die „Risikogesellschaft“, wendet den Blick auf seine fachlich-wissenschaftlich wie auch gesellschaftlich-politischen Leistungen. Ulrich Beck war kein „Blochianer“, aber er schätzte bei Ernst Bloch vor allem dessen Methodenbaukasten. So war es keine Überraschung, als Beck die Laudatio für die Verleihung des „Ernst-Bloch-Preises“ an den französischen Soziologen Pierre Bourdieu hielt und mit folgender Formulierung seine Rede eröffnete:

„Das Werk und Leben Ernst Blochs lehrt unsereins, dass der Weg zu einer Gesellschaft der Individuen – zu einem Europa der Individuen – nur in Brüchen und Widersprüchen, auch zu sich selbst, möglich wird: ,Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst’ lautet der einleitende Satz Ernst Blochs damals wie heute.“

Ulrich Beck sprach auch über sich, als er Bourdieu würdigend ausführte:

„Pierre Bourdieu […] ist der europäische Intellektuelle, der – um Ernst Bloch zu zitieren – ,Widerstand der sozial-humanen Vernunft’ leistet, ,aktiv, ohne Ausrede’. Bloch nannte dies ,Pazifismus der Stärke’ und grenzte es gegen den ,Pazifismus der Schwäche’ ab, den er ein ,häufiges Gemisch von Limonade und Phrase’ nannte. Da alle großen Utopien gescheitert sind, argumentiert Bourdieu, können sich selbstkritische Intellektuelle nun endlich darauf besinnen, was sie ganz pragmatisch tun können, beispielsweise ihren Beitrag zu einem Europa der Bürger leisten. Dies mit dem unbeirrbaren Blochschen Blick auf die zu organisierende Mündigkeit getan zu haben und zu tun, macht den umtriebigsten europäischen Intellektuellen Pierre Bourdieu zum Ernst-Bloch-Preisträger 1997.“ (Zitat aus: Ulrich Beck: Mißverstehen als Fortschritt. Europäische Intellektuelle im Zeitalter der Globalisierung. In: Klaus Kufeld (Hg.): Zukunft gestalten. 1998, ISBN 978-3-89376-074-9)

In diesen Sätzen kommt nicht nur das Profil Bourdieus zum Tragen. Hierin lebt vor allen die wache Grundhaltung eines Ulrick Beck.

 

Eine nicht gehaltene Rede in der Nikolaikirche Leipzigs

Fünfundzwanzig Jahre nach dem von Montagsdemonstranten erfolgreich eingeleiteten Sturz des SED-Regimes in der DDR ist es Zeit an einen historischen Moment zu erinnern, der mit großen Emotionen vorbereitet wurde und doch nie stattfand. Es geht um eine nicht gehaltene Rede in der Leipziger Nikolaikirche.

Leipziger Nikolaikirche (Foto: © Welf Schröter)

Leipziger Nikolaikirche (Foto: © Welf Schröter)

In Tübingen fanden sich schon vor 1989 immer wieder prominente DDR-Kritiker ein, die von der StaSi bedrängt, verfolgt und letztlich aus ihren Wirkungsstätten zwangsweise ausgebürgert wurden. Karola Bloch empfing Rudolf Bahro (1935-1997), Jürgen Fuchs (1950-1999), Jürgen Teller (1926-1999) und viele mit weniger bekanntem Namen. Auch Lew Kopelew (1912-1997) und Vertreter der im polnischen Untergrund tätigen Gewerkschaft Solidarnosc traf die Architektin, Bauhausanhängerin und Antifaschistin in der Neckarstadt.

Mit großer Sympathie und Herzblut verfolgte Karola Bloch im Frühjahr, Sommer und Herbst des Jahres 1989 die Ereignisse in Leipzig. Sie stand unzweideutig auf der Seite des „Neuen Forum“ und der Montagsdemonstranten. So war es ihr eine Freude, nach dem damaligen November das Leipziger „Haus der Demokratie“ mit einer besonderen Buchspende zu unterstützen. Auf Wunsch der dortigen „Initiative für Demokratie und Menschenrechte“ sandte sie eine Gesamtausgabe der Werke Ernst Blochs für die öffentliche Bibliothek des Hauses. Die Leipziger bedankten sich: „Da es in der DDR sehr schwer ist, an die Bloch-Gesamtausgabe heranzukommen, sie ist nicht einmal in der Leipziger Universitätsbibliothek zu lesen, freut uns ihr Besitz umso mehr. Unsere Bibliothek wird von sehr vielen Leuten frequentiert, so dass sie dort allen Interessenten zur Verfügung steht.“

Wochen zuvor saßen in Leipzig Vertreter des „Neuen Forum“, von „Demokratie Jetzt“ und der örtlichen Friedensgruppe sowie einem Gast aus Tübingen im Büro von Pfarrer Christian Führer (1943-2014) zusammen. Es sollte eine Rede und Lesung Karola Blochs (1905-1994) in der Nikolaikirche im Frühjahr 1990 vorbereitet werden. Jürgen Teller, als früherer – von der StaSi verfolgter – Bloch-Assistent war als einleitender Referent vorgesehen. Die Leipziger Bürgerbewegungen wollten zu dieser Veranstaltung einladen.

Karola Bloch war von dieser Einladung sehr berührt. Sie wollte sie annehmen und sich auf die Seite der Demokratie „von unten“ stellen. Doch zu diesem Auftritt kam es nicht. Ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich. Die 85-Jährige konnte nicht reisen. Ein besonderer Moment in Leipzig fand nicht statt. Dieser konnte auch nicht mehr nachgeholt werden.

Schon im Herbst 1989 hatte Jürgen Teller, dem die DDR-Regierung seinen wissenschaftlichen Werdegang zerstörte, nach Tübingen geschrieben: „Karola, […], fehlt uns heute in Leipzig.“

Lesehinweis: Welf Schröter: Utopie und Moral. In: Francesca Vidal (Hg.): Wider die Regel. Mössingen 1991. S. 53-69. ISBN 978-3-89376-015-2

„dann erst kann … wahrhaft Freiheit sein“

Inschrift “Tempel des Literaturgottes” auf der Leipziger Buchgrafik-Ausstellung gegen den nahenden Krieg 1914 (Foto: © Welf Schröter)

Es waren nicht nur Tausende von Menschen auf dem „Platz des himmlischen Friedens“. In zahlreichen Städten Chinas gingen Millionen von Menschen für mehr Demokratie und Freiheitsrechte auf die Straße. Sie forderten keinen Umsturz, sie forderten Verbesserungen für ihr Land. Sie gingen im Geiste ihrer Literatur und Lesekultur, ihrer Bücher und ihres kulturellen Wissens auf den großen Platz der Öffentlichkeit.

Als vor 25 Jahren am 4. Juni 1989 in Peking mit Waffengewalt gegen Studenten, Arbeiter, Professoren, Schriftsteller vorgegangen wurde und am Ende mehrere tausend Tote auf der Straße lagen, ging ein Schock nicht nur durch die Oppositionsbewegungen in Leipzig, Warschau und Prag. Würden die Kommunistischen Parteien auch dort zu den Waffen greifen lassen? Hätte die „Samtene Revolution“ eine Chance?

Im Juni 1989 nahm Karola Bloch die Nachrichten von Tiananmen-Platz mit tiefem Erschrecken zur Kenntnis: „Es ist furchtbar, was in Peking geschieht. Sie erschlagen Menschen und lassen sie hinrichten, obwohl sie gar nicht Feinde des Sozialismus sind, sondern lediglich Demokratie und Reformen verlangen. Ich bin entsetzt, wenn ich erfahre, wie Menschen zum Tode verurteilt werden. Es ist etwas so Unwiederbringliches. Sind wir jetzt nicht zu Ende mit dem Kommunismus?“ (Sehnsucht 2, 94)

Für sich persönlich beantwortete Karola Bloch die gestellte Frage negativ: „Ich sehe, dass der Kommunismus nicht fähig war, die Menschen zu ergreifen und zu erobern.“ Dabei unterschied sich ihr persönliches Verständnis der kommunistischen Idee von denen Stalins, Ulbrichts und andere grundlegend. Für die Polin, Architektin und Sozialistin aus jüdischem Haus waren Freiheit und Demokratie untrennbar mit dem Tagtraum eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ verbunden.

Ähnlich hatte sich ihr späterer Mann Ernst Bloch schon 1918 gegen den Ersten Weltkrieg als sehnlichst Hoffender und enttäuscht Kritiserender der „Russischen Revolution“ geäußert: „Erst muß diese Phase: die bürgerliche, die politische Freiheit, das demokratische Minimum überall, vor allem aber in den Zentralstaaten, zu Ende gebracht werden; dann erst kann die soziale Freiheit, die ökonomisch-soziale Demokratie, das demokratische Maximum wahrhaft Freiheit sein und bleiben.“

Und an anderer Stelle schrieb er: „Weil also Marx allein mit dem Hochkapitalismus zu rechnen gelehrt hatte, gab man der beginnenden proletarischen Fabrikverschmutzung Rußlands als der programmgemäßen Antithesis in kommunistisch-kapitalistisch-sozialistischer Wirtschaftsdialektik den gottlosen Segen; und machte gerne, mit der Minderheit an Soldatenpöbel und Fabrikarbeitern, preußisch-zaristische ,Diktatur des Proletariats‘.“

Es gibt Dinge, über die heute ein anständiger Mensch nicht zweierlei Meinung sein kann. So eines der gängigen Bloch-Zitate. Wer heute also die Unabgegoltenheit Blochschen Denkens artikuliert oder artikulieren will, wird dies vom Standpunkt der Überlebenden des Tiananmen vom Juni 1989 aus leisten müssen, wenn Glaubwürdigkeit die eigene Rede prägen soll.

 

Anne Frommann, Welf Schröter (Hg.): Karola Bloch – Die Sehnsucht des Menschen, ein wirklicher Mensch zu werden, Reden und Schriften. Zwei Bände, Mössingen 1989.

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Maidan

Es waren öffentliche Plätze, auf denen gesellschaftliche Akteure den Tagtraum einer besseren Gesellschaft aufleben ließen. Es waren Orte, wo aus dem „Ich“ ein „Wir“ zu werden begann.

Der Orte gab es mehrere. Sie standen für Aufbruch wie auch für Niederlagen. Sie zeigten aber die Kraft des Unabgegoltenen und Uneingelösten des zivilgesellschaftlichen Emanzipationsbestrebens.

Zu den Namen „Wenzelsplatz“ in Prag, „Augustusplatz“ in Leipzig, „Platz des Himmlischen Friedens“ in Peking, „Azadi-Platz“ in Teheran und „Tahrir-Platz“ in Kairo kam jetzt der „Maidan“ im ukrainischen Kiew. Auf letzterem verschmolzen die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Würde mit dem Wunsch nach Demokratie, nach Verschränkungen von direkter und repräsentativer Demokratie.

Hans-Jürgen Krahl war es, der zutreffend bezüglich der Handelnden im „Prager Frühling“ feststellen musste, dass die Revolutionäre doch immer auch mit den Muttermalen desjenigen Systems versehen sind, gegen das sie ankämpfen. Im „Prager Frühling“ wollten sich die Akteure auf dem „Wenzelsplatz“ zu spät von der faktischen Dominanz der Rolle einer Partei lösen. Die Revolte auf dem „Tahrir-Platz“ suchte, alte Eliten zu beseitigen, hatte aber das Denken in autoritären Lösungsschritten geerbt. Nun der „Maidan“.

Er unterscheidet sich, da die Menschen sich an einem Traum orientierten, der von außen in Attraktivität zu leuchten begann. Es war das Bild von Europa, das ihnen vermittelt war. Dieses Bild von Demokratie, Rechtsstaat und Lebensqualität setzte ungeahnte Durchhaltekräfte von Tausenden von Menschen frei. Sie wussten, wogegen sie waren. Sie wussten, wo sie hinwollten. Verschwommen blieb eine scheinbare aber wesentliche Rahmenbedingung. Doch dieses Bild stand in gegensätzlicher Spannung zur Erbschaft des Charakters des Nationalstaats aus dem 19. Jahrhundert als einem von mehreren Altlasten.

Während die 28 Staaten der Europäischen Union im Inneren damit ringen, tendenziell die Grenzen des Nationalen zu überwinden, um Europa im globalisierten Wirtschafts- und Finanzmarkt zu stärken, betrachtet der „Maidan“ seinen Weg nach Europa vorwiegend als nationalstaatlichen Denkschritt. Es ist der Wunsch nach nationaler Identität, nach Kompensation des Fehlens eines historischen ukrainischen Nationalstaates. Hier zeigt sich das Muttermal der früheren Herrschaft.

Nun sind es die Gegner des „Maidan“, die mit der nationalen Karte den Weg des „Maidan“ nach Europa blockieren wollen. Und es wirkt wie eine Farce, dass sich ausgerechnet einer von den wichtigen Orten der Beratungen der Anti-Hitler-Koalition auf der ehemals sowjetischen Krim befindet. Mit der neuen nationalen „Ordnung“ von Jalta des Jahres 1945 hatten die Alliierten die Einflusssphären in Europa aufgeteilt. Diese brachen erst 1989/1990 ein. Der „Geist“ von Jalta scheint dem „Maidan“ Steine in den Weg zu legen.

Entscheidend wird sein, wie sich die europäischen Gesellschaften öffnen, um bei der Europäisierung Europas voranzukommen. Der beschleunigte Abschied vom Nationalen fehlt auf dem „Maidan“. Und dennoch gibt dieses Manko fremden Militärs kein Recht, in verdrehter Verlängerung der Okkupations-Jahre 1956 (Budapest), 1968 (Prag) und 1979 (Kabul) im Land des „Maidan“ einzumarschieren.

Seit vielen Jahren verbreitet sich – ausgehend vom Krim-Konflikt – zum ersten Mal wieder Sorge um den Frieden in Europa. Mag auch ein militärisch-kriegerisches Szenario überzogen sein, so wird doch wenige Wochen vor den Europa-Wahlen die Bedeutung der Europäischen Union für den Erhalt einer nichtkriegerischen Interessensaushandlungskultur überdeutlich. Europa entfaltet grundsätzlich die Möglichkeit zur nichtmilitärischen Überwindung des Nationalstaatsdenkens. Jüngst erst hatte auch der Philosoph Jürgen Habermas eine Beschleunigung der Europäisierung und Demokratisierung des Kontinents gefordert.

Ernst Bloch hatte 1918 in seinem „Vademecum für heutige Demokraten“ gegen Ende des Ersten Weltkrieges warnend geschrieben: „Der Krieg selber kann gewiss nicht alles leisten. Durchaus nicht, er kann nur brechen, nicht bilden.“