„Wohlan, ich will aufrührerisch sein“

(Foto: © Welf Schröter)

(Foto: © Welf Schröter)

Es gibt Momente, in denen scheinen die Worte „Unabgegoltenheit“ und „Sehnsucht“ geradezu mit den Fingern greifbar zu sein. Wenn ältere Gesichter, in deren Augen noch immer das Feuer der begründeten und „belehrten Hoffnung“, der „docta spes“ (Ernst Bloch) lodert, aus ihren Lebensfalten Rückbesinnungen entpacken auf gemeinsames öffentliches Leben, auf Protest und Widerspruch, auf Leidenschaft für die „gemeinsame Sache“ (Karola Bloch), dann blitzt ein vorzeitiger Vorschein der Identität aus Vernunft und Wirklichkeit (Hegel) auf, der Ermutigung bringt und Hoffnung sät. Solche Momente sind nicht eben häufig. Doch im Erdgeschoß eines mittelalterlichen Fachwerkhauses in der Tübinger Innenstadt trat dieser Moment der ungleichzeitigen Gleichzeitigkeit ein.

Im Rahmen des Tübinger Bücherfestes 2015 fand am 17. Mai eine Lesung im Rahmen der derzeit noch laufenden Ausstellung zur Tübinger Protestbewegung der siebziger Jahre statt. Die Lesung im „Protestmuseum“ (Kornhaus) trug den Titel „Wohlan, ich will aufrührerisch sein“ (Ernst Bloch) – Rebellische Reden, freche Worte und aufmüpfige Beiträge von Karola und Ernst Bloch sowie Gretchen und Rudi Dutschke.

Zwei Stimmen aus den siebziger Jahren lasen zur aktuellen Ausstellung „Protest“ aus Briefen und Schriften, aus „Lieber Genosse Bloch“ und „Dutschke und Bloch“ sowie „Karola Bloch – Die Sehnsucht des Menschen, ein wirklicher Mensch zu werden“. Rund 100 Zuhörerinnen und Zuhörern quittierten die knapp einstündige Wanderung durch Texte der Blochs und der Dutschkes mit einem außergewöhnlich langanhaltenden Beifall.

Viele Junge und Junggebliebene aus dem Auditorium ließen sich durch den ersten Dialog Ernst Blochs mit Rudi Dutschke im Februar 1968 in Bad Boll an rebellische Zeiten erinnern. Da wurden emanzipatorisches Christentum und antitotalitäre Marxrezeption lebendig. Da waren Christus neben dem „Prager Frühling“, Gretchen Dutschke neben Elisabeth Käsemann präsent.

Die Zuhörenden folgten mit Schmunzeln Karola Blochs humorvoll spitzer Bemerkung über fliegende Tomaten auf Professoren. Sie spürten der Frage nach, was an dem Denken der Dutschkes und Blochs noch immer unabgegolten ist und welche Impulse uns heute bei der Verteidigung der Menschenrechte wieder aktuell erscheinen.

Den Schlusspunkt setzte ein Zitat aus dem Munde Rudi Dutschkes, der schon im Februar 1968 den heute hochaktuellen Begriff und die allseits akzeptierte Notwendigkeit einer „lernenden Gesellschaft“ als Basis einer stetigen Emanzipation „von unten“ formulierte.

In den Gesichtern der innerlich Junggebliebenen glätteten sich die Falten. Im Herzen wurden sie wieder Twens und es schien, als ob sie in sich „Ton, Steine, Scherben“ und Wolf Biermanns Ermutigungen für Ermutiger summten. Vielleicht waren auch ein paar Töne von Jimi Hendrix und Janis Joplin dabei.

 

Willi Baumeister revisited

Foto: © Welf Schröter

Der Gang durch die Stuttgarter Ausstellung „Willi Baumeister – International“ 2013/2014 zwingt den Betrachtenden in eine Zeitreise, die in die Anfänge der zwanziger Jahre führt und doch die Gegenwart konfrontiert. Es sind die „Mauerbilder“ (1923) und die „Maschinenbilder“ (1924) Baumeisters, die einem noch heute den Atem nehmen. Es ist die Wucht seiner abstrakten Sprache, die den Betrachter geradezu umwirft, wenn er die
Reihe der Figuren (1920/21) und Konstruktionen gewahr wird.

Der Begriff „Mauerbilder“ – von Baumeister selbst gewählt – führt zunächst in die Irre, denn nicht Bilder von Mauern entstanden, sondern das Materiale, die Kombination von Sand, Holz, Farbe gab dem Auge eine Oberfläche vor, die durch Blicke als mauerartig steinig erkannt werden konnten.  Willi Baumeister (1889–1955) – geboren vor 125 Jahren am 22. Januar – verlässt die bis dahin weit verbreitete Form der künstlerischen Darstellung, reduziert Körper auf Flächen, Farben und geometrische Konstrukte, zerlegt diese und ordnet sie neu an. Das scheinbar statische Bild erzeugt in der Kommunikation mit dem Ansehenden Bewegung. „Eine Steigerung der Bewegung, mit der gleichsam eine Zeit-Substanz in das Kunstwerk eingeführt wird“ (Willi Baumeister). Diese Bewegung ist Aufbruch und Umbruch. Aufbruch nach den Schrecken des Weltkrieges, Aufbruch durch die Rationalität neuer Technik, die offenbar das Mythisch-Emotionale in nüchterne Funktionalitäten umlenkt.

Baumeister bricht mit dem bisher Gesehenen. Er bricht mit dem Sehen. Er bricht mit dem Sehenden. Wie fasst es Erich Franz treffend in Worte: „Form ist nicht Zustand, sondern Werden und Wandlung, und Sehen nicht Feststellen, sondern unaufhörliches Sich-Umstellen des Blicks.“

Baumeisters „Mauerbilder“ und „Maschinenbilder“ antizipieren das „Noch-Nicht“. Franz zitiert im Ausstellungskatalog mit František Kupka einen der Pioniere der Abstraktion: „Es müsse „ein Begriff von der gleichzeitigen atmosphärischen Durchdringung [der Oberfläche] gefunden werden.“

Willi Baumeister, von Le Corbusier gepriesen, von Fernand Léger beeinflusst, von Wassily Kandinsky inspiriert und mit zahlreichen Rebellen wie Oskar Schlemmer, Kurt Schwitters, Paul Klee und anderen freundschaftlich verbunden, hat gültige (Kunst-)Gesetze gebrochen und neue Perspektiven eröffnet. Das macht sein Schaffen aktuell. Sein „Drucker“, HAP Grieshaber, fand später für den Neues Schöpfenden und vom Nazi-Regime als „entartet“ Verfemten den beziehungsreich vielsinnigen Ausdruck: Baumeister – ein „Gesetzgeber in gesetzloser Zeit“.