Von der Ent-Betrieblichung der Arbeit zur Ent-Betrieblichung der Betriebe

Foto: © Welf Schröter

Erneut hat ein hochkarätig besetzter „IT-Gipfel“ der Bundesregierung den Stellenwert der dynamischen Informations- und Kommunikationstechnologien unterstrichen. In der „Essener Erklärung“ vom 14. November 2012 werden die Ziele eines noch immer vor allem technikzentrierten Ausbaus der IT formuliert. Versteckt aber leicht zu finden ist in der Verlautbarung auch eine Aussage, die vorsichtig andeutet, welche Folgen unausgesprochen impliziert sind: „Digitale Technologien bewirken einen tief greifenden Wandel der Wirtschaft und der industriellen Prozesse.“

Nähert man sich diesem nur scheinbar allgemeinen Satz empirisch und analytisch, so stellt sich heraus, dass wir es hinter dem Rücken der Beteiligten mit einem sehr weit reichenden Umbauvorgang zu tun haben. Der in Gang gekommene Prozess der Ent-Betrieblichung der Arbeit berührt die verfassten Grundlagen traditioneller Unternehmensvorstellungen: Die langsame Ent-Betrieblichung der Betriebe durch eine sich beschleunigende Virtualisierung. War früher der Betrieb als Ort der Arbeit und der abhängigen Beschäftigung der Hort erlebter Gleichzeitigkeit und sozialer Sozialisation, so lässt sich heute erkennen, dass immer mehr Arbeitvolumina aus dem verfassten Ort Betrieb auf Dauer auswandern und sich jenseits des „Prinzips Betrieb“ ungleichzeitig erlebt aufhalten. Die neuen labilen Milieus lassen sich mit Begriffen wie „Industrie 4.0“, „Smart Factory“ oder „Crowd Sourcing“ nur annähernd beschreiben.

Die Dezentralisierungstendenzen alter tradierter Wirtschaftsorganisationen erhöhen die Gefahren der Individualisierung und Atomisierung von Beschäftigung. Der „Industrie 4.0“ wird eine sich verstärkende „Entfremdung 4.0“ folgen, wenn diese zentrifugalen Vorgänge mit ihren Implosionen erlebter Vertrautheiten die soziale Tragekraft einer Zivilgesellschaft überbelasten. Der durch IT-Einsatz erzeugte Wandel der Arbeits- und Erwerbswelt ist nicht primär eine Frage in den Händen technischer Expertise sondern eine Schlüsselherausforderung unserer Gesellschaft.

Der nächste „IT-Gipfel“ sollte als Leitmotive die Begriffe „Soziale Kohäsion“, „Differenz“, „Entfremdung“, „Ungleichzeitigkeit“ und „Diversity“ aufgreifen. Dann könnte man melden: „Die zivilgesellschaftlichen Impulse bewirken einen tief greifenden Wandel der IT-Technik.“

Ungleichzeitigkeiten im Konzept „Industrie 4.0“

Nach der Entwicklung erster Manufakturen samt Landflucht und der Maschinisierung der Industrie über die mikroelektronischen Umbauten bis hin zur Virtualisierung globaler Unternehmen hat die Wirtschaftsgeschichte vier Stufen erklommen. Heute sprechen wir von „Industrie 4.0“ und meinen damit die weitgehende Reorganisierung von Arbeit und Produktion auf globaler Ebene. An die Stelle der verorteten Fabrik tritt langsam die „smart factory“ mit dem „smart working“. An die Stelle der Standortkommune kommt die „smart city“. Die Energiewende verlangt nach den „smart grids“. Die Wortstücke sind mehr als nur die Sammlung von modischen Wichtigtuereien. Dahinter steckt der starke Wandel hin zu „Neuen Infrastrukturen der Arbeit“ (Schröter). Doch darunter verbergen sich Hoffnungen und Verunsicherungen von Menschen. Die einen sind noch in der zweiten oder dritten Stufe der Industrialisierung, andere ringen schon mit den Herausforderungen digitaler Entfremdung. Menschen, die sich gleichzeitig treffen, sind in ihrem Denken und Fühlen nicht mehr gleichzeitig. Altes schwingt mit und mischt sich ein. „Industrie 4.0“ unterbricht und trennt Tradiertes, fügt Neues interkulturell zusammen. Verlust und kulturelle Bereicherung liegen nahe beisammen. Doch wie soll es gelingen, dass in der Geschwindigkeit der Herausbildung der „Identität in der Virtualität“ niemand verloren geht? „Industrie 4.0“ ist im Kern eine soziale Veränderung. Wir müssen das Undenkbare denken: Kann gesellschaftliche und individuelle Emanzipation mit Hilfe des „smart working“ und im Einklang mit virtuellen Identitäten erfolgen oder nur gegen sie? 

Karola Bloch (1905-1994) im Jahr 1988. (Bild: © Welf Schröter)

Im Jahr 1988 sprach ich mit der Architektin und Sozialistin Karola Bloch (1905-1994) über den Wandel der Arbeit und die wachsende Technisierung. Sie antwortete damals: „Wenn die Technisierung fortschreitet, wird es immer notwendiger werden, für die Menschen Beschäftigung zu finden. Das wirkt sich auf die gesamte Industrie aus und vergrößert das Problem der Arbeitslosigkeit. Es wird mit der Zeit eine ganz andere Ökonomie kommen müssen. Wenn die Menschen eigentlich nicht mehr soviel arbeiten, aber von irgend etwas leben müssen, brauchen sie eine Bezahlung, ein notwendiges Substrat, um existieren zu können. Unsere Gesellschaft hat sich wahnsinnig verändert und wandelt sich noch. Bis jetzt hat der Einzelne einen Lohn bekommen in der Höhe, die seiner geleisteten Arbeit entsprach. Wenn nun aber die Arbeit wegfällt, muß er dennoch einen Lohn bekommen, um leben zu können. Das ist eine ganz andere Vorstellung, eine andere Ökonomie. Der Begriff der Arbeit als solcher wird sich ändern. Auch die Zukunft der Gewerkschaften wird anders sein, als man sich das heute vorstellt. (…) Ich denke dabei immer an den Menschen, an den Sinn des Lebens. Da kommen ganz andere Faktoren in die Arbeit hinein. Ich habe den Eindruck, als ob die Menschen – vielleicht unbewußt – eigentlich auch an ihrer Zerstörung arbeiten. Denn der Verlust einer Arbeitsfunktion ist doch gleichzeitig etwas Zerstörerisches. Arbeit spielt doch für die Menschen eine ganz enorme Rolle. Wir können uns ein sinnvolles Leben heute ohne Arbeit nicht vorstellen.“ (Karola Bloch: Denkende Maschinen. In: Anne Frommann, Welf Schröter (Hg.): Karola Bloch – Die Sehnsucht des Menschen, ein wirklicher Mensch zu werden“. Reden und Schriften, Band 2. 1989, Seite 96.)