Authentizität der anderen Privatheit

Die Frage nach der Zukunft des Ich schaffte es auf die Titelseite der WIRED. „Es spricht mehr dafür, dass wir im Netz authentischer sind.“ Mit diesem Satz des Oxforder Philosophen und Informationsethikers Luciano Floridi bricht eine Kontroverse neu auf, die das „virtuelle Ich“ gegen das „biografische Ich“ zu stellen versucht.

IMG_2060

In der WIRED-Ausgabe des Oktober plädiert Google-Berater Floridi für eine Neubewertung des Privaten: „Darum dreht sich ja die Frage nach der Privatsphäre: nicht um Informationen, die wir besitzen, sondern um Informationen, die wir SIND.“ Als Ethiker warnt er davor, eine Kultur zu forcieren, die vortäuscht, man könne im realen Leben auch mit der Löschtaste Geschehenes ungeschehen machen.

WIRED-Journalist Joachim Hentschel spitzt die Position des amerikanischen Philosophen Patrick Stokes zu. Dieser erklärte, es sei das Verdienst der sozialen Online-Netzwerke, dass sie die Differenz der „sozial konstruierten öffentlichen Identität“ und dem „ich, das sich als Subjekt der eigenen Erfahrung wahrnimmt“, erst „anschaulich“ mache. Hentschel fragt lakonisch, ob wir nun Descartes‘ ,Ich denke, also bin ich‘ ersetzen sollen durch ,Ich googelte und fand mich‘.

In dieser etwas ironischen Gegenüberstellung findet sich aber ein wesentlicher Aspekt, nämlich der des Zeitprozesses. Das Erleben des echtzeitig gegoogelten Ich ist ein gegenwärtig-zeitgleiches Wahrnehmen von Daten und Bildern. Im Denken des Menschen vollzieht dagegen sich die Berücksichtigung des Vorzeitigen und des Ungleichzeitigen. Eine Suchmaschine hat kein Bewusstsein. Bewusstlosigkeit versus Bewusstsein. „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“ (Ernst Bloch)

 

 

Identität der Entfremdung

Andreas Boes (Foto: © Welf Schröter)

Der Münchner Sozialwissenschaftler Andreas Boes hat sich auf einer gemeinsamen Stuttgarter Tagung der Evangelischen Akademie Bad Boll und des Forum Soziale Technikgestaltung in gebotener Schärfe mit dem Wandel der Arbeit in der globalen IT-Wirtschaft auseinandergesetzt.

Mit spitzer „Feder“ seziert er dabei die sich ausbreitende Strategie großer Konzerne, ihre Stammbelegschaften zu verkleinern und diese gleichzeitig in einen alltäglichen Wettbewerbsstress mit den global nomadierenden Freelancern zu treiben.

Neue Leistungssysteme sollen Feste (Jobbing) mit Freien (Tasking) dynamisch gegeneinander verschränken. Boes spricht vom sich radikalisierenden „System permanenter Bewährung“. Die ausgeweitete Transparenz offenbart stetig das Leistungsvermögen des Einzelnen und ordnet ihn in Rankings ein. Der sich verkehrende Community-Traum der „Liquids“ spült mit der Gestik des Innovativen soziale Sicherheiten beiseite. 

Der ideologisierende Imperativ der Community „Privatheit ist Diebstahl“ reduziert das Individuum zur „funktionalen Identität“ (Boes), die ständig hohe Leistung und Kreativität entäußern muss. „Funktionale Identitäten“ sind technikgestützte Wettbewerbsrollen im „globalen Informationsraum“ (Boes) im Prozess digitaler oder digital assistierter Wertschöpfung mit Hilfe des Auswahlmodells Crowdsourcing. Auch die dabei noch verbliebenen Kapazitäten an Individualität und „Creativity“-Alleinstellungsmerkmalen werden nun der „Inwertsetzung“ (Boes) unterworfen.

Die Analyse von Andreas Boes und die Darlegung der „funktionalen Identität“ offenbaren die Kräfte der Entfremdung, die in den globalen Informationsgesellschaften auf Erwerbstätige und Erwerbssuchende einwirken. Doch hinter bzw. unter der Bewußtseinsschicht der Rolle „funktionale Identität“ liegen die noch unabgegoltenen Bewußtseinsschichten des nach Eigenständigkeit und Unabhängigkeit strebenden kreativen Subjekts, das als Mensch nach Ausdrucksformen emanzipatorischer Identitätsstiftung sucht.

Das Eine ist mit dem Anderen nicht gleichzeitig. Das Alte wirkt weiter und wirkt in das Neue hinein. Rudolf Bahro sprach einst ganz dialektisch von der gesellschaftlichen Kraft „überschüssigen Bewusstseins“. So betrachtet ist das System Crowdsourcing immanent burnoutgefährdet. Schwarm-Intelligenz lässt sich nicht dauerhaft in ein System sperren. „Funktionale Identitäten“ sind nicht nachhaltig, auch ökonomisch nicht.