Zum Tode von Helmut Fahrenbach. Erinnerungen an einen Philosophen.
Ein Nachruf von Welf Schröter
„Denn aus der Grundsituation und Bewusstwerdung des Menschen, dass er sein Leben als Aufgabe der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung zu führen hat, entspringt das philosophische Fragen des Menschen nach sich selbst und den Bedingungen und Sinnmöglichkeiten seiner Existenz.“ In diesem Satz von Helmut Fahrenbach lässt sich das zentrale Leitmotiv seines philosophischen Denkens, seines wissenschaftlichen Arbeitens und seines gesellschaftspolitischen Handelns unzweifelhaft herauslesen. Fahrenbach, der Philosoph, und Fahrenbach, der Hochschullehrer, sowie Fahrenbach, der Materialist, waren sich der Einfachheit der Frage und der enormen Komplexität der Antwortsuche bewusst. Jener Schlüsselsatz lädt ein zu den Themen, die des Fragens würdig – also im Sinne Helmut Fahrenbachs „frag-würdig“ – sind. Doch auch für den dialektisch-widersprüchlichen Weg des Antwortens hatte er das Ziel der Praxis eines human-ethischen Regelwerks, einer „Philosophie kommunikativer Vernunft“ in Anlehnung an Jaspers sowie im Dialog mit Habermas vor Augen. Dabei blieb er präzisen Analysen einer komplexen Welt zugewandt, die – seiner wiederholten Ansicht nach – den Spuren der materialistischen Erkundung und Differenzierung methodisch folgen müssen.
Den Mittelpunkt seines belesen-umfassenden Gesamtwerkes bildet das umgewälzte Verständnis einer „Philosophischen Anthropologie“. Zurückgreifend auf Kant, Hegel, Kierkegaard. Löwith, Plessner und Marx ging er auf die Grundfrage des Menschen zu. Im Vorwort zum ersten Band seiner „Philosophischen Anthropologie“ fasste er auf Wunsch seiner Verlegerin Irene Scherer sein Anliegen in eigenen Worten zusammen: „Der Titel ,Philosophische Anthropologie‘ fungiert im Folgenden nicht als Bezeichnung für eine ,philosophische Teil-Disziplin‘, die sich ihrem systematischen Status und ihrer Reflexionsform nach von anderen philosophischen Problemstellungen (etwa ontologischen, erkenntnistheoretischen, moralphilosophischen) und von thematisch analogen wissenschaftlichen Fragestellungen (naturaler, sozialer, kultureller Anthropologie) unterscheidet. Er soll vielmehr die grundlegende und zentrale Thematik der Philosophie kennzeichnen, in der es um die Selbst- und Seins-Erkenntnis des Menschen geht, deren Ermöglichung allem konkreten und lebensbezogenem Philosophieren motivierend und sinngebend zugrunde liegt.“
In seinem Beitrag zum Band „Unterwegs zum Menschen“ unterstrich Martin Böhler die hohe Aktualität des Fahrenbachschen Ansatzes. Böhler schrieb: „Der von Interessen geleitete Verlust traditioneller, sicherer Fundamente seiner Selbstbestimmung (z.B. Religion, Humanismus) erzeugen für den modernen Menschen in der Tendenz eine prinzipielle Unsicherheit hinsichtlich seines Selbstverständnisses, was für ihn die Frage nach sich selbst um so dringlicher werden lässt: Was ist das – der Mensch? Was heißt es, ein Mensch zu sein? Die Antwort auf diese Frage ist die Aufgabe der Philosophischen Anthropologie.“
Das Fahrenbachsche Verstehen des Begriffes „Ermöglichung“ nimmt in kritischer Reflexion das theologische Wort der „Hoffnung“ auf, um es ins Diesseits wendend sowohl mit Bloch als auch in vorwärtstreibender Weise über Bloch hinaus ins Weltoffene, sich abkehrend vom Utopischen viel eher hin ins Konkret-Utopische auf der Basis eines antizipierenden wie auch eines antizipatorischen Bewusstseins praktisch werden zu lassen. Nicht nur in diesem Sinne ist Helmut Fahrenbachs Philosophie eine „Philosophie der Zukunft“.
In die Betonung des gesellschaftlichen Potenzials der Möglichkeit bzw. der Möglichkeiten bettet Fahrenbach die notwendige „Erschließung des Problemfeldes zwischen philosophischer Anthropologie, Ethik und Gesellschaftstheorie“ ein. Philosophisch begründet forderte er ein neues Aufeinanderzugehen der Gesellschafts- und Sozialwissenschaften in Richtung auf eine sich selbst hinterfragende Philosophie. In dem Großteils fehlenden Aufeinanderzugehen der genannten Disziplinen sah er eine strategische Lücke in der erforderlichen Interdisziplinarität.
In diese Lücke stieß Fahrenbach mit seiner Bloch-Rezeption, mit der er zu einer praktischen Philosophie aufrief: „Die faszinierenden und irritierenden Züge von Blochs Denken verstärken und komplizieren sich noch einmal dadurch, dass es Bloch nicht nur um Philosophie, sondern um deren wesentlichen Zusammenhang mit der marxistischen Theorie bzw. um unverkürzte ‚marxistische Philosophie‘ geht. In diesem Zentrum der Bloch’schen Philosophie bündeln sich Anziehungskraft und Irritation für Philosophen und Marxisten. Denn die von Bloch behauptete und in bestimmter Weise auch realisierte Einheit von Philosophie, auch als besonderer ‚aktiver Metaphysik‘ und marxistischer Theorie irritiert Philosophen und marxistische Theoretiker gleichermaßen, da beide doch zumeist auf gegenseitige ‚Aufhebung‘ oder zumindest auf kritische Unterscheidung bzw. abgrenzende Kritik eingeschworen sind.“
Die Rezeption durch Fahrenbach verbindet den Anspruch des Möglich-Verändernden mit dem Kommunikativ-Diskursiven: „Denn in einer sozio-kulturell differenten und politisch-ökonomisch disparaten Weltgesellschaft, deren Differenzen aber zugleich in einer komplexen Verflechtung und Abhängigkeit zueinander stehen, muss auf den verschiedenen Ebenen eine diskursiv kommunikative Verständigung über die allgemeinen und differenten Interessen und ihren Ausgleich gesucht werden, wenn gleichberechtigte Anerkennungsverhältnisse erreicht und der Weg zu einem solidarischen ‚weltbürgerlichen Zustand‘ beschritten werden soll.“
Deutlicher wird Fahrenbach in seinem Verständnis kommunikativer Vernunft, die er als „interkulturell notwendige Denkform“ betrachtet: „Kommunikative Vernunft ist die der selbstkritisch reflektierten Moderne zugehörige Vernunftform, die den Geltungsmodus und Wahrheitserweis von Erkenntnis- und Gewissheitsansprüchen kognitiv-theoretischer und normativ-praktischer Art weder subjektiven Evidenzen oder apriorischen Gewissheiten noch einer positivistisch oder instrumentell reduzierten Verstandes-Rationalität überantwortet, sondern – zumal in Dissenslagen – der kommunikativ-diskursiven Klärung, Prüfung und möglichen Verifikation im Sinne intersubjektiv allgemeiner Anerkennung bzw. Anerkennungsfähigkeit.“ Spätestens bei dieser Aussage wird die brennende Aktualität Fahrenbachschen Denkens angesichts militärischer Konflikt- und Kriegspropaganda und internet-algorithmischen Manipulierungsversuchen mehr als offensichtlich.
In den letzten Jahren ist es in der Öffentlichkeit um Helmut Fahrenbach nur scheinbar ruhiger geworden. Voller Energie und Tatendrang nahm er sich am Schreibtisch vor, sein schriftliches Werk zu sichten. Im Talheimer Verlag fand er einen Partner, mit dem er über rund zehn Jahre hinweg zwischen 2015 und 2025 seine letztlich zwölfbändige elf Titel enthaltende Gesamtausgabe zuzüglich eines Ergänzungsbandes publizieren konnte. Das Sortieren, Gliedern, Konzipieren, das Lektorieren und Korrigieren teilte sich der Autor mit der Übersetzerin der Schriften Ivan Golls, Monika Fahrenbach-Wachendorff, und dem Verlag.
Einige Wochen vor seinem Tod wurde das Gesamtwerk des Autors auf dem „Tübinger Bücherfest 2025“ gewürdigt. Im Beisein von Monika Fahrenbach-Wachendorff und weiterer Familienmitglieder lasen Irene Scherer und Welf Schröter aus mehreren Titeln der Gesamtausgabe. Die Lesung war eine Würdigung des Werkes und seines Autors wie auch Ausdruck besonderer Wertschätzung eines ungewöhnlich belesenen Denkers, der in freundlichem Ton auch enge intellektuelle Mitstreiter wie Bloch, Küng, Habermas mit Freude sachlich kritisch hinterfragte. In seiner „frag-würdigen“ Weise.
Zu Lebzeiten Helmut Fahrenbachs hat sich die Institution Universität von ihm abgewandt. Die Alma Mater hat die hohe Aktualität seines Denkens offiziell nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Im Nachhinein gereicht dies – trotz aller Schmerzen der Enttäuschungen – ihm zur Ehre. Doch auch die Bloch-Community wollte mehrheitlich mit ihm nicht in Verbindung treten. Während dieser Teil der Community auf Themen wie Glücksphilosophie, Dekonstruktion und Ästhetik setzte, drängte Fahrenbach zur materialistischen Analyse, zum Fragen-Lernen, zur gesellschaftlichen Fundierung der Ethik und zur Kontroverse über die Universalität der Menschenrechte im Geiste eines zu erweiternden Weltethos-Gedankens. Für den genannten Teil der Community galt er zumeist als störend.
Für seine Störungen und seine Rolle als Störender sind wir ihm gerade dankbar. Sein klares Denken, seine präzise Analyse, sein Fragen waren anstrengend, fordernd, herausfordernd. Bertolt Brecht sagte einmal, der Kopf sei rund, damit das Denken die Richtung wechseln könne. Dieser nicht nur humorvoll zu nehmende Satz passt zum Autor Helmut Fahrenbach, der Bertolt Brecht sehr schätzte.
Es ist an der Zeit, dass ältere und junge Menschen dem aufrechten Gang wieder mehr Bedeutung beimessen, sich dem Abenteuer des Lesens, des Diskutierens, des Argumentierens zuwenden. Es gilt, im Fahrenbachschen Sinne das Fragen zu lernen, um Gegebenes hinterfragen zu können. Es ist an der Zeit, Mut zum Widerspruch zu entwickeln, Mut zu fassen, selbst denken zu wollen. Es gilt, erneut Antworten auf die Frage zu finden: Was ist der Mensch und was könnte er sein? Vielleicht hatte Karola Bloch schon eine der Antworten gefunden, als sie einst von der „Sehnsucht des Menschen, ein wirklicher Mensch zu werden“ sprach.
Es ist an der Zeit, sich Fahrenbachs „Philosophische Anthropologie“ vorzunehmen, um sie zu erkunden und mit anderen darüber zu reden. Das wäre der beste Weg, seinem Denken gerecht zu werden.
Helmut Fahrenbach starb am 12. Dezember 2025 in Tübingen. Wenige Tage später wäre er am 18. Dezember 97 Jahre alt geworden.