Erinnerungskultur und Zivilgesellschaft

Sibylle Thelen (Foto: Schröter)

Anlässlich des siebzigsten Jahrestages des jüdischen Aufstandes im Warschauer Ghetto am 19. April 1943 ergriffen in einer „Matinée gegen Antisemitismus“ der langjährige Landesrabbiner von Württemberg, Joel Berger, und die Leiterin des Fachbereichs Gedenkstättenarbeit der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Sibylle Thelen, das Wort.

Sie mahnten am Ort des Mössinger Generalstreiks 1933 gegen Hitler eine aktive Erinnerungskultur an. Joel Berger wandte sich gegen den politischen Mißbrauch des historisch unzweideutig belegten Begriffs „Ghetto“ in der aktuellen Tagespolitik. Damit werde der Schrecken der Shoah verharmlost.

Sibylle Thelen ermutigte dazu, Gedenkstätten als gelebte Erinnerungskultur zu sehen und zu stärken:

„Und dies alles geschieht auch heute zumeist dort, wo Bürgerinnen und Bürger zu fragen und zu forschen begonnen haben, und wo angesichts der zusammengetragenen Rechercheergebnisse das Bedürfnis entstanden ist, das Wissen mit anderen zu teilen und an künftige Generationen weiterzureichen – am besten verankert am authentischen Ort. Es ist gut, dass diesem Bürgeranliegen heute von offizieller Seite mit Aufgeschlossenheit und Anerkennung begegnet wird. Unterstützung ja, Vereinnahmung nein – denn diese wäre das Ende einer ungezähmt kritischen Herangehensweise, derer es gerade auf Feldern bedarf, auf denen noch manches abzuklären ist. In solchen Auseinandersetzungen um die Vergangenheit gibt es unterschiedliche Rollen. Entscheidend dabei ist: Es sind heute viele Akteure beteiligt, keiner muss mehr alleine stehen. Konflikte um die Deutung der Vergangenheit, die offen ausgetragen werden, sind lehrreich – kein Vergleich zu dem Schweigen der Nachkriegszeit. Wie allein muss man sich in einer Gesellschaft fühlen, die sich in ein solches Schweigen des Vergessens und Verdrängens, des Nichtwissens und Nichtwissenwollens hüllt.“

Es gelte öffentliche Erinnerungsarbeit zu leisten, um Vergangenes zu bewahren. Konflikte mit jenen, die eher einen Schlussstrich wollten, müsse man aushalten. Die dialektische Anstrengung des Begriffs bleibt unabdingbar.