Ungleichzeitigkeiten im „System der Systeme“

(Foto: © Welf Schröter)

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Nein, es ist nicht  die „Polyrhythmik der Materie“ von Ernst Bloch, die einem in den Sinn kommt, wenn Informatiker vom „System der Systeme“ (system of systems)(SoS) sprechen, um die Wirkungsweise eines scheinbar neuartigen technischen Zaubers mit der Rund-um-Sorglos-Lösung „Cyber-Physical Systems“ – kurz „CPS“ – zu erläutern. Es ist schon eher Blochs Kategorie der „Ungleichzeitigkeit“, die neue Fragen aufwirft und überprüft werden will. Der Diskurs „Arbeitswelt trifft Philosophie – Philosophie trifft Arbeitswelt“ erhält so ein weiteres Themenfeld.

Zunächst handelt es sich nur um die Montage von Sensoren und Chips auf Bauteile, Werkzeuge und Gegenstände. Die „Dinge“ sollen „Intelligenz“ bekommen. Darunter ist keineswegs ein sozialwissenschaftlich-philosophischer Begriff von „Intelligenz“ gemeint. Die IT-Welt erkennt in der Zuordnung von Daten zu Dingen, deren GPS-Ortung und Online-Abrufbarkeit, deren Remote-Steuerbarkeit und deren automatisiert-„selbstständige“ „Kommunikation“ mit anderen Sensoren und Chips einen neuen Weg zur Echtzeit-„Schwarmintelligenz“.

Wenn solche Einzel-CPS sich zu CPS-Flotten „selbsttätig“ zusammenschließen, lässt sich vom flexiblen „System der Systeme“ sprechen. Die „SoS“ ordnen sich auftragsbezogen prozessorientiert stetig neu. Sie bilden ständig neue „Schwärme“. In Echtzeit. Eine unscharfe Betrachtung fasst diese Vorgänge als „intelligent“. Besser noch: Dem CPS-Verbund als „SoS“ wird die „Eigenschaft“ zugeschrieben, er könne „denken“. Eine Formulierung, denen die Sozialwissenschaften sofort mit Verve widersprechen.

Doch die wirkliche Herausforderung liegt weniger in der angeblichen Potenzialität eines Denkvermögens sondern in der Prognose: „CPS denkt voraus.“ In diesem „voraus“ steckt die wirkliche „Challenge“.

Mit diesem „Voraus“ erhebt das „selbstlernende System der Systeme“ den Anspruch, Arbeitsprozesse vorzustrukturieren, den Menschen in der Arbeit zu „führen“, ihm Vorgaben zu machen, örtlich, zeitlich, taktvorgebend. Die Verknüpfung von mehreren CPS-Lösungen zu einem „System of Systems“ ermöglicht die horizontale Vernetzung unterschiedlichster Prozessdaten für die echtzeit-automatisierte Steuerung von Produktion, Service und Mensch. An die Stelle der emanzipatorisch erhofften Autonomie und Selbstbestimmung des arbeitenden Menschen tritt ein neuer Gedanke: Das Produkt steuert mit Hilfe der „SoS“ die Fertigungsprozesse und die menschlichen Bewegungen samt Taktrhythmen. Die Fragen nach der Entfremdung und deren Aufhebbarkeit sind neu zu stellen.

Das „Voraus“ beinhaltet nicht nur eine lineare zeitliche Vertaktung nacheinander ablaufender Handlungsschritte. Darin findet sich ebenso die zeitliche Überholung – im Sinne von Geschwindigkeit – der menschlichen Wahrnehmung und Reaktionsfähigkeit durch „Echtzeit-Kommunikation“ der „SoS“. In diesem „Voraus“ wird der Prozessablauf nach vorne strukturiert. Im „Idealfall“ ist „S-o-S“ der Handlung des arbeitenden Menschen mindestens zwei Schritte voraus.

Soziale Technikgestaltung müsste demnach entweder durch geeignete Assistenzsysteme die CPS/„S-o-S“ interventionistisch adäquat in Echtzeit personalisieren – d.h. auf die Geschwindigkeit des handelnden Menschen verlangsamen – oder die Vorbedingungen und Vorstufen der Prozessstrukturverankerung im CPS/„S-o-S“ beeinflussen im Sinne der Humanisierung des Arbeitsablaufes und seiner Rahmenbedingungen.

Soziale Technikgestaltung muss sich also die Welt der CPS/„S-o-S“ als ein zentrales Thema vornehmen im Sinne von: „Humanität denkt voraus.“ Dem technikzentrierten Leitbild einer Strategie „Industrie 4.0“ muss ein menschenzentriertes, menschengerechtes Leitbild gegenüber- bzw. entgegengestellt werden. Die Latenz des Tagtraumes eines humanen Arbeitslebens benötigt eine ungleichzeitige Aktualisierung in die Gegenwart. Die konkrete Utopie der Arbeit kommt nicht aus dem „SoS“, sondern wesentlich aus den kategorischen Imperativen vorgelagerter Erfahrungsdispositionen und „belehrten Hoffnungen“.

Die Metamorphose der Kommunikation

© Foto: Welf Schröter

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Es war Alexander Kluge, der schon in seiner einschlägigen Edition „Chronik der Gefühle“ aus dem Jahr 2004 einen gut zu findenden Schlüsselsatz versteckte: „Die Kommunikation beruht auf Vertrauen, über das Ohr verknüpft.“ Er fügte hinzu: „Es funktioniert gegen alle Wahrscheinlichkeit.“

Wer vor mehr als einem Jahrzehnt – noch vor dem sich alsbald beschleunigenden Prozess der Informatisierung, Digitalisierung und Virtualisierung unserer Lebens- und Arbeitswelten – diese Aussage las oder hörte, fand schnell zu einem zustimmenden Kopfnicken. Heute aber sieht uns dieser Satz fremd, wenn nicht ver- und entfremdet an.Inzwischen hat der Einsatz der Informations- und Kommunikationstechniken den Kern dieser ohrbezogenen Analyse beinahe hinweggespült. An die Stelle der gleichzeitig-synchronen Kommunikation von Menschen zu Mensch ist inzwischen eine technisch reduzierte, zumeist asynchrone „Kommunikation“ von „Mensch zu Maschine“ und „Maschine zu Mensch“ geworden. Fachleute aus der Informatik und aus den Ingenieurwissenschaften bezeichnen einen zielgerichteten und strukturierten Datenaustausch nun als „Kommunikation“.

© Foto: Welf Schröter

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Der ganzheitlich kulturell-soziale Begriff Kommunikation, bei dem Menschen von Angesicht zu Angesicht, mit Worten, Gesten, Mimik, Augenkontakt und Körpersprache Botschaften austauschen, wird aus dem Zukunftsszenario „Industrie 4.0“ schrittweise ausgegrenzt. Statt nach Vertrauen in den Menschen fragen wir nach „Vertrauen“ in das IT-System. Der echtzeit-automatisierte, re-sychronisierte virtuelle Transaktionsraum will Daten durch Daten, Softbots durch Softbots, Maschinen durch Maschinen abprüfen lassen, um verlässliche Ergebnisse bzw. Befehle als „vertrauensvoll“ einordnen zu können, um die Bestätigung der Geschwindigkeit als Vertrauenssignal zu deuten.

Das Ohr im Klugeschen Sinne ist nicht mehr im Zentrum unserer Wahrnehmung. Im Hinblick auf unsere Medien- und Netznutzung stehen wir an der Schwelle zu einem gravierenden Wechsel: Bald wird die „Kommunikation“ im Netz mehrheitlich eine „Kommunikation“ zwischen Dingen, zwischen Geräten, zwischen materiellen und immateriell vorgespiegelten Gegenständlichkeiten sein.

In der zwischenmenschlichen Kommunikation vermittelt(e) die Sprache und die sie ergänzenden Ausdrucksformen den Vorschein, die Möglichkeit der Vertrauensbildung. Vertrauen wuchs durch sinnlich-körperliche Kommunikation. Die individuelle Identitätsarbeit für das Entstehen des eigenen Ichs realisierte sich vorwiegend entlang unseres kommunikationskulturellen Verhaltens. Der Sozialpsychologe Heiner Keupp spricht zu Recht von einer zu erreichenden Kohärenz: „Identitätsarbeit hat als Bedingung und als Ziel die Schaffung von Lebenskohärenz.“

Die paradigmatische Verschiebung des Schwerpunktes im öffentlichen Kommunikationsverständnis stellt nicht nur eine technische Herausforderung dar. Es ist vor allem ein ganzheitlich-kultureller Prozess, der die Erbschaft der bisherigen Errungenschaften humaner Sozialität in Frage stellt und das Unabgegoltene und Ungleichzeitige in der Ich-Werdung aufdeckt. Identität will in der Virtualität und aus der Virtualität entstehen. Die biografisch erworbene „Identitätskonstruktion“ (Keupp) konfrontiert sich mit dem virtuell modellierten Identitätsmanagement: „Biografisches Ich“ und „Virtuelles Ich“ (Schröter) beginnen sich zu polarisieren und fragmentieren die ungleichzeitige Identitätsarbeit. Das gesellschaftliche Werden und der Erwerb von solidarischer Sozialkompetenz stehen am Scheideweg angesichts der sich atomisierenden Identitäten im Netz.

Die zunehmenden Digitalisierungen von Arbeitswelten und Gesellschaft verlangen heute vor allem einen nichttechnisch ausgelegten Rückgriff auf unsere öffentlichen Emanzipationsmuster einer demokratischen Zivilgesellschaft. Lange war Blochs Diktum nicht so aktuell wie heute: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“ – Das „Wir“ gilt es zu betonen.

(Dies ist der 100. Beitrag im bloch-blog.)

 

Ein Europäer und demokratischer Citoyen ist tot

(Foto: © Welf Schröter)

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Er sezierte die Moderne und suchte die Fugen ihrer zentrifugalen Fragmente. Ob Kritik der Technik und Kritik des Gesellschaftlichen, ob Analyse der „Individualisierung“ als Voraussetzung der Emanzipation des Individuums oder hoffnungsvoller Blick auf ein antitotalitäres Europa, er forderte heraus und verlangte seinen Leserinnen und Lesern viel ab. Mit Leidenschaft und Humor ironisierte er die Innenzentrierung des Akademisch-Universitären, organisierte eher Dialoge und Diskurse mit der Zivilgesellschaft. Er drängte auf eine neue Zeit globaler Demokratie und Humanität. Er wollte ein neues Verständnis von Moderne und eine Modernisierung des Sozialen als konkret-utopisches Nahziel.Einer seiner zentralen Begriffe lautete „Entgrenzung“. Dieser analytische Begriff wurde methodischer Bestandteil des gesellschaftlichen Diskurses über die Zukunft der Arbeit. Dort wurde die strukturelle Entgrenzung der Arbeit im Wandlungsprozess hin zu neuen Infrastrukturen der Arbeit als westlicher Vorgang der digital-technischen Umbaus der Industriearbeit benannt. „Entgrenzung“ korrespondiert heute – im Angesicht der Perspektive von „Industrie 4.0“ – mit wachsender Komplexität und Abstraktion als neue Rahmenbedingung der Individuation.

Der überraschende Tod des Soziologen Ulrich Beck, Autor des Werkes über die „Risikogesellschaft“, wendet den Blick auf seine fachlich-wissenschaftlich wie auch gesellschaftlich-politischen Leistungen. Ulrich Beck war kein „Blochianer“, aber er schätzte bei Ernst Bloch vor allem dessen Methodenbaukasten. So war es keine Überraschung, als Beck die Laudatio für die Verleihung des „Ernst-Bloch-Preises“ an den französischen Soziologen Pierre Bourdieu hielt und mit folgender Formulierung seine Rede eröffnete:

„Das Werk und Leben Ernst Blochs lehrt unsereins, dass der Weg zu einer Gesellschaft der Individuen – zu einem Europa der Individuen – nur in Brüchen und Widersprüchen, auch zu sich selbst, möglich wird: ,Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst‘ lautet der einleitende Satz Ernst Blochs damals wie heute.“

Ulrich Beck sprach auch über sich, als er Bourdieu würdigend ausführte:

„Pierre Bourdieu […] ist der europäische Intellektuelle, der – um Ernst Bloch zu zitieren – ,Widerstand der sozial-humanen Vernunft‘ leistet, ,aktiv, ohne Ausrede‘. Bloch nannte dies ,Pazifismus der Stärke‘ und grenzte es gegen den ,Pazifismus der Schwäche‘ ab, den er ein ,häufiges Gemisch von Limonade und Phrase‘ nannte. Da alle großen Utopien gescheitert sind, argumentiert Bourdieu, können sich selbstkritische Intellektuelle nun endlich darauf besinnen, was sie ganz pragmatisch tun können, beispielsweise ihren Beitrag zu einem Europa der Bürger leisten. Dies mit dem unbeirrbaren Blochschen Blick auf die zu organisierende Mündigkeit getan zu haben und zu tun, macht den umtriebigsten europäischen Intellektuellen Pierre Bourdieu zum Ernst-Bloch-Preisträger 1997.“ (Zitat aus: Ulrich Beck: Mißverstehen als Fortschritt. Europäische Intellektuelle im Zeitalter der Globalisierung. In: Klaus Kufeld (Hg.): Zukunft gestalten. 1998, ISBN 978-3-89376-074-9)

In diesen Sätzen kommt nicht nur das Profil Bourdieus zum Tragen. Hierin lebt vor allen die wache Grundhaltung eines Ulrick Beck.

 

„Verhinderte, im Jetzt enthaltene Zukunft?“ (Bloch)

(Foto: © Welf Schröter)

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Die wachsenden Abstraktionen, Virtualisierungen, Komplexitäten, Beschleunigungen und neue Verzeitlichungen fordern Antworten für die Neuverortung des Menschen in einer sowohl evolutionär als auch revolutionär anmutenden globalisierten Vernetzung von Menschen, Dingen, Maschinen und Produkten heraus. Virtuelle und nicht-virtuelle Wirklichkeiten in den Geschäfts- und Arbeitsumgebungen greifen ineinander und erzeugen eine ganzheitlich wahrnehmbare Mischform der Arbeitswelt.Eines der zentralen wachsenden Zukunftsthemen für die Erwerbswelt ist das Entstehen, Sichern und Pflegen von Identität, von Identitätsstiftung aus virtuell-flüchtigen Arbeitsumgebungen. Darin liegt eine wesentliche gesellschaftspolitische Gestaltungsaufgabe. Für eine ökologische, soziale und gesellschaftliche Gestaltung dieses Veränderungsbündels bedarf es einer Erweiterung der bisher zur Verfügung stehenden Handlungskategorien. Eine neue Kategorie ist in der besonderen Hervorhebung einer ganzheitlich verstandenen Sicht der Identität des Individuums in die Perspektive und Praxis von „Industrie 4.0“ zu erkennen. Eine solche positive Aufhebung von Identität ist unabdingbar, um die Entfremdungsdynamiken in der Arbeit und von der Arbeit zu begrenzen und zu bändigen.

Was passiert mit dem menschlichen Subjekt im Spannungsgefüge von Realität und Virtualität, zwischen fiktiver Realität und realer Virtualität? Erleichtert dieses Spannungsgefüge die gesellschaftliche und individuelle Emanzipation oder stellt es ein wachsendes Hemmnis dar? Der Wandel der materiell schöpferischen Arbeit hin zu einer vermehrt immateriell schöpferischen Tätigkeit führt zur Erhöhung der Abstraktion und der Komplexität des Arbeitens. Virtuelle Arbeit erfährt ihren Wert und bringt als Ergebnis der Quantität von Kommunikationsarbeit und Vernetztheit „virtuelle Identität“ hervor. Das „biografische Ich“ verhält sich dabei zu seinem „virtuellen Ich“ ungleichzeitig.

Der Biokybernetiker Valentin Braitenberg (1926-2011) sah in der Erfindung des Computers die sachlich-analytische Antwort und Kritik an der nationalsozialistischen Vergewaltigung der Sprache und der Germanistik. Die Computerei war für Braitenberg, dem Maturana-Schüler, ein aufklärerisch-antitotalitärer und basisdemokratischer Handlungsansatz. Im Gespräch betonte er, dass die Menschen sich mit Hilfe der Rechner von ideologischen Verbrämungen selbst befreien könnten.

„Wenn Du die Welt verändern willst, gib den Menschen die passenden Werkzeuge in die Hand!“ (Sinngemäß zitiert aus den studentischen Forderungen des gesellschaftskritischen „Free Speech Movement“ in Berkeley, California im Jahr 1968). So lautete der Reflex der Protestbewegung der sechziger Jahre. Teile dieser Bewegung entwickelten deshalb die ersten Personal Computer und die passende Netz-Software.

Spiegelt sich mehr als vierzig Jahre danach Unangegoltenes und Uneingelöstes? Ist dies – heute betrachtet – in den Worten Blochs eine „verhinderte, im Jetzt enthaltene Zukunft“?

„Das letzte Wort im Hauptwerk ,Das Prinzip Hoffnung‘ heißt ,Heimat‘. Der Philosoph hofft, daß einmal der Tag kommt, an dem der Mensch seine Identität, seine Heimat finden wird.“ (Karola Bloch)

Entbirgt die Spannung zwischen „biografischem Ich“ und „virtuellem Ich“ ein neues Humanum? Eine endlich humane „Ich“-Identität in Richtung auf die – im Sinne Blochs – vor uns liegende Genesis?

 

Das Digitale als Allianz zwischen Mensch und Technik?

Klaus Kornwachs am 29. November 2014 auf Einladung des Forum Soziale Technikgestaltung im Ernst-Bloch-Zentrum in Ludwigshafen am Rhein (Foto: © Welf Schröter)

Klaus Kornwachs am 29. November 2014 auf Einladung des Forum Soziale Technikgestaltung im Ernst-Bloch-Zentrum in Ludwigshafen am Rhein (Foto: © Welf Schröter)

Vor einem übergroßen Porträt des Philosophen Ernst Bloch eröffnete der blochkritische Technikphilosoph Klaus Kornwachs seine nachdenkliche Rede über „Industrie 4.0 – Ungleichzeitigkeit und Allianztechnik“ mit einem Bloch-Zitat aus dem „Prinzip Hoffnung“: „Unsere bisherige Technik steht in der Natur wie eine Besatzungsarmee im Feindesland und vom Landesinneren weiß sie nichts, die Materie der Sache ist ihr transzendent.” 

Nach ausgiebiger Analyse ökonomischer und produktionstechnischer Tendenzen der letzten Jahre wandte sich der technikaffine Redner den prognostizierbaren Auswirkungen von „Industrie 4.0“ zu. Bezugnehmend auf den Titel der Tagung „Identität in der Virtualität“ in der Reihe „Arbeitswelt trifft Philosophie – Philosophie trifft Arbeitswelt“ wagte er eine anspruchsvolle These zur Notwendigkeit neuer Wege der Technikgestaltung im Hinblick auf die heraufziehende Logik von „Industrie 4.0“: „Das Entstehen von Fachkräftemangel und Sockelarbeitslosigkeit durch Anpassungsprobleme an gestiegene Qualifikationsanforderungen ist nicht nur eine Herausforderung an die Ökonomie und Wirtschaftspolitik (Politische Ökonomie), sondern auch an die Technikgestaltung und die Innovationsfähigkeit.“ (Kornwachs)

Kern der Überlegungen Kornwachs‘ ist die Annahme, dass die neue Generation digitaler Software und leistungsfähiger Netze die Widersprüche zwischen Mensch und Technik weniger vertiefen sondern eher aufheben helfe. Er setze auf eine Vermittlungsfunktion des Digitalen, die eine neuartige, durchaus kreative Allianz zwischen Mensch und Technik möglich mache.

Die Transformation der Arbeit geschehe dabei unter den Bedingungen gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und technologischer Ungleichzeitigkeit. Kornwachs: „Außerdem lösen die technischen Möglichkeiten nicht nur die klassischen Vorstellungen von Arbeitsort und Arbeitszeit und Identität auf, sondern es gibt jetzt schon eine breite Koexistenz völlig unterschiedlicher Formen von Arbeitsorganisationen und Formen von Arbeitsteilung nebeneinander, die miteinander zu vermitteln durch die IKTs immer besser ermöglicht wird, für den Einzelnen aber undurchschaubar ist.“ 

Blochs Allianzverständnis müsse daher aktualisiert und in Kritik am Hegelschen Arbeitsbegriff weiterentwickelt werden.

 

 

Die Zukunft des Ich

Der Diskurs über „Identität in der Virtualität“, wie er seit mehreren Jahren im Spannungsverhältnis von sozialer Technikgestaltung und Blochscher Philosophie geführt wird, bekommt nun von prominenter Seite weiteren Rückenwind.ZukunftICH

Bisherige Grundlage der laufenden Debatte ist die These, dass der Begriff der „Identität“ in der E-Society sich aus dem Konvergieren von biografischer und virtueller Identität neu entwickelt. Für die Kontroverse um „Industrie 4.0“ bedeutet dies, dass Identität zu einem zivilgesellschaftlichen Schlüsselthema der Transformation der „Wissensgesellschaft“ wird: Die Einflüsse und Chancen der „virtuellen Identitäten“ und ihre Rückwirkungen auf das „biografische Ich“ erfordern einen ganzheitlichen Blick und ein auf Ganzheitlichkeit angelegtes Gestaltungskonzept. (Schröter)

Die deutsche Oktober-Ausgabe der IT-Zeitschrift „WIRED“ stellt die Frage nach der Zukunft des „Ich“ und meint: „Soziale Netzwerke und Internet of Things verändern die menschliche Identität radikal.“

Joachim Hentschel sieht die „Technologie als Krücke der Ich-Konstruktion“ und das digitale Ich als „ein Backup der eigenen Persönlichkeit“: „Dass die Ich-Digitalisierung heute noch so oft als Dystopie und Bedrohung verstanden wird, hat aber wohl weniger mit der Angst vor dem Datenmissbrauch zu tun. Eher mit einem verbreiteten bürgerlichen Konzept von Authentizität, in dem das Technische, Virtuelle, Nicht-Körperliche per se als weniger maßgeblich gilt.“ Hentschel warnt – in seiner Sicht immanent konsequent – davor, „Online- und Offline-Ich zu apodiktisch zu trennen.“

Zweifellos steckt in seinem Hinweis auf besagte Authentizität ein richtiges Argument. Das „Virtuelle Ich“ wird in seiner Bedeutung und Wirkungsweise noch immer unterbewertet. Jedoch unterschätzt der Autor das gewachsene soziale und kulturelle Gewicht der Entstehungsgeschichte des „biografischen Ichs“. Das Humanum kann technisch ergänzt, nicht aber ersetzt werden. In Hentschels Prognose steckt zuviel transhumanistischer Perspektive.

 

Vierte industrielle Revolution?

Henning Kagermann (Foto: © Welf Schröter)

Er ist von Hause aus habilitierter Physiker, war Vorstandssprecher der SAP AG und übt heute das Amt des Präsidenten der Deutschen Akademie für Technikwissenschaften (acatech) aus. Prof. Dr. Henning Kagermann folgt einem besonderen Traum, der den Charakter der Vision schon hinter sich gelassen hat. Er plädiert für die „vierte industrielle Revolution“ – auch „Industrie 4.0“ genannt – bei der eine neue Qualität der Automation in einer „intelligenten Fabrik“ neuen Typs realisiert werden soll.

Grundlage sei die Option der „Vernetzung von allen“ (Menschen) und der „Vernetzung von allem“ (Sachen bzw. Geräte) mit Hilfe sogenannter physisch-virtueller Umgebungen (Cyber-Physical Systems). Kagermann sieht hierin die „Veredelung des Bestehenden“. Er weist das Technikbild der „menschenleeren Fabrik“ vehement als falsch zurück, kritisiert den alten zentralistischen Denkansatz und setzt auf die kommende Bedeutung des Individuums in dezentralen Fertigungsprozessen.

Die neuen soziotechnischen Systeme bedürfen seiner Meinung nach einer allseitigen Partizipation der Arbeitenden, da sonst die neue dezentral ausgerichtete Welt der Produktion nicht handhabbar wird. Es bedarf der Personalisierung und Individualisierung. Daher sucht er den Dialog mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, Betriebsräten und Gewerkschaften. Vor mehr als 200 eher honoratiorengleichen Repräsentanten der Technikforschung in Stuttgart – darunter nur zwei Gewerkschafter – würdigte er anlässlich der Verleihung des „Forschungspreises Technische Kommunikation 2013“ der Alcatel-Lucent Stiftung die Rolle und Haltung der IG Metall. Die Gewerkschaft wolle die positive Gestaltung von „Industrie 4.0“, um eine neue Autonomie der Beschäftigten durchzusetzen. Umbau als Chance für Interventionen.

Kagermann geht auf die Gewerkschaft zu und unterstreicht, dass Komplexität und Komplexitätsreduzierung operative Akteurscluster benötigen, dass prozessbezogen – von Anfang an – eine Strategie der „Akzeptanz by design“ erforderlich ist. Kagermann will heraus aus der „Komplexitätsfalle“, will bestehende Technik verfahrenstechnisch optimieren, will „Industriekonvergenz“ vorantreiben und setzt auf die „wandlungsfähigen Produktionsstätten“. Mutig spricht er von „disruptiver Innovation“ und der Notwendigkeit „kreativer Zerstörung“.

Kagermanns Angebot zum Gestaltungsdialog reflektiert den aufgeschlossenen und modernen Flügel gegenwärtiger Industriepolitik. Dennoch stecken in seinem Denken noch massive Reste eines traditionellen Fortschrittsbegriffs, der auf Technologie und Infrastruktur setzt, der technikzentriert konzipiert und prozess- statt menschenzentriert argumentiert. Deutlich wird dies, wenn er die Potenziale der Kommunikation zwischen Maschinen hervorhebt und noch erkennbarer, wenn er postuliert: „Roboter und Menschen arbeiten in einem sozialen Netzwerk.“

Hier liegt die Herausforderung für den Diskurs „Arbeitswelt trifft Philosophie – Philosophie trifft Arbeitswelt“ im Jahr 2014, der vom Forum Soziale Technikgestaltung organisiert und vom „bloch-blog“ begleitet wird. Wie sähe ein menschenzentriertes Umbauszenario der vierten industriellen Revolution aus? Welcher Fortschrittsbegriff ist vonnöten? Der Gestaltungsansatz der IG Metall verdient Unterstützung.

Zweifellos bietet hierfür die Blochsche Philosophie wesentliche Kriterien. Nicht nur die Mehrschichtigkeit der individuellen und gesellschaftlichen Zeiterfahrung, die Bloch mit dem Begriff „Ungleichzeitigkeit“ besetzt, sondern neben der „Allianztechnik“ kann auch sein Motiv des „Multiversums“ als methodische Lesart zum Handwerkszeug des „social design“ in „Industrie 4.0“ werden. Für Bloch bietet technischer Fortschritt unter anderem dann einen sozialen und gesellschaftlichen Fortschritt, wenn damit individuelle Freiheit erweitert und Entfremdung verringert werden.

Entgegenständlichung von Arbeit

Foto: © Welf Schröter

Im 19. Jahrhundert hatte sich ein kritischer Kopf namens Karl Marx mit der Bedeutung der Arbeit für den Menschen befasst. In deutlicher Klarheit schrieb er: „Das praktische Erzeugen einer gegenständlichen Welt, die Bearbeitung der unorganischen Natur ist die Bewährung des Menschen als eines bewußten Gattungswesens …“ Diesen noch engen Begriff von Arbeit begann Eberhard Braun, ein Schüler des Philosophen Ernst Bloch, mehr als hundert Jahre später in seinen „Grundrissen einer besseren Welt“ zu hinterfragen: „Was heißt hier Arbeit?“ Wie hängen materielle Bearbeitung der Natur und Bewußtseinsbildung zusammen?

Braun geht über Marx hinaus und sieht in der Arbeit die „Produktion eines bestimmten gesellschaftlichen Verhältnisses“. Braun sucht die gesellschaftliche Dimension, wenn er argumentiert: „Arbeit ist nicht nur Stoffwechsel, Aneignung der äußeren Natur, sie stellt nicht nur einzelne lebensnotwendige Produkte her; insofern sie dies tut, produziert sie zugleich auch ein bestimmtes gesellschaftliches Verhältnis, einen bestimmten historischen Lebenszusammenhang …“

Dieser Kernsatz Braun’schen Denkens lässt sich nun auf eine aktuelle Transformation des Charakters von Arbeit übertragen: Welche Lebenszusammenhänge, welche gesellschaftlichen Verkehrsformen wird die fortschreitende Dematerialisierung und Virtualisierung eines wachsenden Teiles der Erwerbsarbeit nach sich ziehen? Wie wirkt sich die zunehmende Entgegenständlichung von Arbeit auf die Identitätsbildung und die soziale Realität des Menschen heute aus?

Alte Bewußtseinsschichten mehrerer Generationen wirken in den heutigen arbeitenden Generationen fort. Das Herstellen eines materiellen Gegenstandes gibt dem schaffenden Individuum Genugtuung und Selbstbewußtsein. Nun aber in Zeiten von „Neuen Infrastrukturen der Arbeit“, von „Industrie 4.0“ und von „Cyber-Physical Systems“ wird die Genugtuung und das Selbstbewußtsein mehr und mehr aus virtuellen Arbeitsumgebungen erwachsen müssen. Die „gesellschaftlichen Verhältnisse“ beginnen, schrittweise auf dem Zusammenwachsen – auf der Konvergenz – von Materiellem und Virtuellem zu basieren. Die Produktionsformen sind im Umbruch. Aus der alten Gemeinschaft wird eine neue Sozialität entstehen. Atomisiert oder community-orientiert?

In diesen Zeiten der Ungleichzeitigkeiten wird das Denken Eberhard Brauns, seine politische Philosophie der Hoffnung, wieder aktuell.

„Industrie 4.0“ als Janusgesicht der Arbeitswelt

Foto: Schröter

Seit den neunziger Jahren wird die Arbeits- und Erwerbswelt durch den voranschreitenden Einsatz neuer Informations- und Kommunikationstechnik geprägt. Durch die technisch bedingte Möglichkeit, den Orts- und Zeitbezug von Arbeit schrittweise zu lockern, nimmt die Verlagerung von Arbeits- und Geschäftsprozessen in den virtuellen Raum stetig zu. Seit nunmehr fast zwei Jahrzehnten vollzieht sich der Prozess der „Virtualisierung der Arbeit“. Nach den einfachen Anfängen in Gestalt von alternierender Telearbeit stehen heute die Virtualisierungen und Automatisierungen komplexer Abläufe im Netz an. Seit langem spricht das Forum Soziale Technikgestaltung von „Neuen Infrastrukturen der Arbeit“, die es partizipativ energisch sozial zu gestalten gelte.

Unter dem Konzept „Industrie 4.0“, das in der Automobil- und in der Chemiebranche samt Zuliefererketten pilotiert wird, versteht man die weitreichende Digitalisierung, Virtualisierung und Neuorganisation von Produktionsabläufen. Dabei wird die „digitale Fabrik“ selbst zum Produkt. Das Konzept „Industrie 4.0“ hat drei Gesichter: Es entfesselt einen erheblichen Rationalisierungsgrad, es bildet die strategische Grundlage für den Industriestandort im globalen Wettbewerb und es eröffnet gute Chancen für die Neugestaltung der Arbeit im Sinne der Humanisierung.

Der IT-Verbund von IT-Entwicklungs- und IT-Anwendungsunternehmen hat sich eine Utopie von „Industrie 4.0“ erarbeitet. Darin heißt es:

„Es sind also nicht allein neue technische, wirtschaftliche und rechtliche Aspekte, die die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands in Zukunft bestimmen, sondern auch neue soziale Infrastrukturen der Arbeit in Industrie 4.0, die eine sehr viel stärkere strukturelle Einbindung der Beschäftigten in Innovationsprozesse sicherstellen können. Eine wesentliche Rolle wird dabei der durch Industrie 4.0 einsetzende Paradigmenwechsel in der Mensch-Technik- und Mensch-Umgebungs-Interaktion spielen, mit neuen Formen der kollaborativen Fabrikarbeit in virtuell mobilen Arbeitswelten, der nicht zwangsläufig in der Fabrik stattfinden muss. Intelligente Assistenzsysteme mit multimodalen und bedienungsfreundlichen Benutzerschnittstellen werden die Beschäftigten in ihrer Arbeit unterstützen. Entscheidend für eine erfolgreiche Veränderung, die durch die Beschäftigten positiv bewertet wird, sind neben umfassenden Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen die Organisations- und Gestaltungsmodelle von Arbeit. Dies sollten Modelle sein, die ein hohes Maß an selbstverantwortlicher Autonomie mit dezentralen Führungs- und Steuerungsformen kombinieren. Den Beschäftigten sollten erweiterte Entscheidungs- und Beteiligungsspielräume sowie Möglichkeiten zur Belastungsregulation zugestanden werden.“ (BITKOM und acatech)

Bewusstseins-Schichten unserer Arbeitswelten

Beat Dietschy (Foto: © Welf Schröter)

Es war ein Experiment besonderer Art. Knapp 45 Personen kamen für zwei Tage im Februar 2013 in der Evangelischen Akademie Bad Boll zusammen, um sich den Begriffen „Arbeit“ und „Zeit“ historisch, kulturell, theologisch, sozial und gesellschaftspolitisch zu nähern. Als öffnende Werkzeuge dienten die Denker Ernst Bloch (1885-1977) und Eugen Rosenstock-Huessy (1888-1973).

Beat Dietschy, letzter Assistent und Mitarbeiter des Philosophen Ernst Bloch, filterte dessen Werk, um auf die Spuren des Arbeitsverständnisses zu kommen. Ausgehend von Blochs „Geist der Utopie“ über „Erbschaft dieser Zeit“, „Das Prinzip Hoffnung“ bis „Tendenz – Latenz – Utopie“ führte Dietschy seine Zuhörer durch das umbaute Denken:

„Primat hat die Suche nach Selbstbegegnung, die unkonstruierbare Frage nach uns selber, die noch keinerlei zureichende Antwort enthält. Denn ,wir haben kein Organ für das Ich oder Wir, sondern liegen uns selbst im gelben Fleck, im Dunkel des gelebten Augenblicks, dessen Dunkel letzthin unser eigenes Dunkel, uns Unbekanntsein, Vermummt- oder Verschollensein ist‘ (Bloch).“

Gegen die entfremdete Arbeit setzte Ernst Bloch den Begriff der „tätigen Muße“. Sie ist die Aufhebung der Entfremdung. Wie weit aber ist die Arbeitswelt am Übergang von der industriell-materiellen Produktionswelt hin zur wissensbasiert-immateriellen, virtuellen Produktionswelt der Industrie 4.0 von der Aufhebung der Entfremdung entfernt?

In vielen individuellen und gesellschaftlichen Schichtungen unseres Bewusstseins tragen wir die Geschichte der Arbeit und ihrer Bedingungen in uns. Ein Teil von uns lagert noch in der bäuerlichen Welt „bäuerliches Tao“ (Ernst Bloch), ein anderer Teil hängt in der Zeit der beginnenden Manufakturen, ein weiterer bewegt sich unbewusst im Takt industrieller Werkhallen, während der Kopf die nahe Zukunft der Cyber Physical Systems CPS zu verstehen versucht: Arbeitswelt von morgen.

Die Schichtungen liegen wie schwere, dicke Teppiche als Schätze der Erfahrungen in uns übereinander gestapelt. Je nach Erschütterung, Krise oder manifester Enttäuschung brechen die Bewusstseinsschichten aus den Teppichen aus. Nicht selten drängen sie den Menschen in seiner Orientierung nach rückwärts. In scheinbar Bekanntes, scheinbar Erlebtes.

„Wer ist schon im gerade gelebten Augenblick wirklich anwesend, gegenwärtig?“, fragt Beat Dietschy, sich auf Bloch beziehend. Des Philosophen Hinweis auf „das Dunkel des gelebten Augenblicks“ provoziert unseren Erkenntniswunsch im Jetzt. Ich und die Welt? Wer ist das neue „Wir“?

Das gemeinsame Denk-Experiment von Bad Boll brachte die Lust am utopischen Denken zurück.