Ausdruck der gequälten Kreatur

Pfarrer i.R. Albrecht Esche (Foto: © Welf Schröter)

„Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt der herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.“ Mit diesem Zitat von Karl Marx aus dessen „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ eröffnet der engagierte Christ und Pfarrer im Ruhestand Albrecht Esche eine neue Diskussion über die Motive des Widerstandes gegen Hitler. Dabei verweist er nebenbei auch auf die inneren ungleichzeitigen und unabgegoltene Spuren im Denken von Marx. Er trage „jüdische Traditionen und Bilder in sich, die jahrtausendealt sind.“

Nach Marx ist die Religion – so Esche – „Ausdruck der gequälten Kreatur gegen Ausbeutung, Willkür, Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Also verbirgt sich in religiösen Welten auch das Potenzial eines Aufbegehrens, eines protestantisch anmutenden Aufschreis.“ Der Protestant wendet sich einem einzigartigen geschichtlichen Vorgang zu, nämlich dem „Mössinger Generalstreik“ am 31. Januar 1933 gegen die Machtübergabe an Hitler. Unter dem Titel „Kommunistische Utopie und pietistische Endzeit-Erwartung“ spürt Esche den Wurzeln des rebellischen schwäbischen Geistes nach.

Waren die Mössinger Arbeiterinnen und Arbeiter, Handwerker und Arbeitslose in hohem Maße von pietistischen Hoffnungen auf eine diesseitige Utopie, auf das Paradies auf Erden, nicht im Himmel geprägt? Albrecht Esche sieht in der individuellen Opferbereitschaft der damaligen Nazigegner, die aus Briefen aus dem Gefängnis erkennbar werden, einen starken Nachklang pietistischer Haltungen. Können Pietismus und Marxismus zusammen gedacht werden? Der Christ Esche bejaht.

Am Beispiel des jungen sozialistischen, pietistischen Christen Christoph Blumhardt zeigt er die Verknüpfung. Blumhardt habe sich auf das Bibelzitat gestützt: „Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Friede und Gerechtigkeit und Freude im Heiligen Geist.“ Esche überträgt in die Gegenwart: „Übersetzt man ,Freude im Heiligen Geist‘ mit Solidarität, dann hat man die drei Kampfbegriffe der Arbeiterbewegung um 1900: ,Gerechtigkeit – Frieden – Solidarität‘. Blumhardt erklärte einst: „Jesus starb als Sozialist, die Apostel – Fischer von Beruf – waren Proletarier“.

Für Esche ist der Pietismus aus historischer Sicht (nicht aus theologischer) eine aufsässige „Emanzipationsbewegung von unten“, die der kirchlichen und sonstigen Obrigkeit das alleinige Recht der Bibelinterpretation absprach. Die kommunistischen Generalstreiker in Mössingen hätten die „Unbedingtheit“ ihres Handelns zum Teil aus dem verinnerlichten Konfirmations-Katechismus übernommen: „Herr Jesu, dir leb ich, dir leid ich, dir sterb ich. Dein bin ich tot und lebendig. Mach mich, o Jesu, ewig selig.“ An die Stelle von Jesus trat die konkrete Utopie einer anderen Gesellschaft.

Albrecht Esche unterstreicht die Spuren, die auch zum Mössinger Generalstreik führten: Es war „viel eher eine christlich inspirierte Zukunftshoffnung auf eine Welt, in der Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität herrschen.“ Die Mössinger Kommunisten könne man ohne den örtlichen Pietismus nicht verstehen.

Die Ungleichzeitigkeit und Unabgegoltenheit dörflicher Emanzipationshoffnungen sind noch immer spürbar.

 

Philosophie eines Lokführers

Foto: © Welf Schröter

Selten, aber nicht zu selten, kommt es vor, dass der sich selbst für modern haltende Mensch im rasanten Alltag vor eine geradezu übermenschliche Aufgabe gestellt sieht. Da tritt etwas ein, das Sprachlosigkeit und unendliches Nachdenken auslöst. Bis sich Letzteres in ein humorvolles Lächeln verwandelt.

Wer sich mit dem Zug bewegt, erhält vor jedem Bahnhofshalt einen üblichen freundlichen Ausstiegshinweis, der beinhaltet, dass man entweder „in Fahrtrichtung rechts“ oder „in Fahrtrichtung links“ aussteigen möge. Entsprechend wechseln die Fahrgäste die Türen.

Nun aber erklärte ein Lokführer in seinem Regionalexpress angesichts des nahenden nächsten Halteortes fürsorglich an seine Fahrgäste gewandt: „Bitte nutzen Sie den Ausstieg entgegen der Fahrtrichtung.“ Der Mann war sichtlich seiner Zeit voraus.

Vor den beiden Türen links und rechts machte sich Ratlosigkeit breit. Was wollte der Philosoph an der Spitze des Zuges seinen Mitmenschen dadurch mit auf den Weg geben? Ein erleichterndes Lächeln auf allen Mündern ließ kurz danach das Gefühl einer wechselseitigen Gemeinsamkeit aufblühen. Zuvor standen sich alle nur sprachlos wegblickend fremd gegenüber.

Immerhin: Ein „Ausstieg entgegen der Fahrtrichtung“ hat etwas Verbindendes.

Neue Solidarität und „Change with Honour“

Michael Gormann-Thelen (Foto: © Welf Schröter)

Eugen Rosenstock-Huessy „verdient wieder hervor- und herausgerufen und dem Vergessen entrissen zu werden“. Mit dieser Kernaussage führt Michael Gormann-Thelen den Gesellschaftsreformer, Juristen, Reformpädagogen und Erwachsenenbildner „ERH“ in die Debatte um die gegenwärtige Gestaltung von „Arbeit“ und „Zeit“ ein. In der Evangelischen Akademie Bad Boll umreißt er im Februar 2013 Rosenstock-Huessys Denken, in dem er auf dessen Revolutionsverständnis eingeht. Nach ERH gelte es, die großen Weltrevolutionen zu würdigen wie etwa die Papstrevolution des 11. bis 14. Jahrhunderts, die Reformation, die Englische Revolution, die Französische Revolution und die Russische Revolution: „Jede Welt-Revolution zeichnet sich dadurch aus, dass sie einen »totalen«, universell gültigen Anspruch »an alle« in die Welt brachte, jeder ebenso unerhört wie alles verwandelnd“ (Gormann-Thelen).

„Da ist Rosenstock-Huessys Soziologie »Im Kreuz der Wirklichkeit«, die zunächst von den »Übermächten« der Räume und des Raumdenkens handelt und diese beiden letzteren als Verfallsformen von »Ernst« und »Spiel« und von »Krieg« und »Frieden« vorführt. Danach kommt die Zeitenlehre unter dem ersten Titel »Die Gewalt der Zeiten«, später unter dem Titel »Die Vollzahl der Zeiten«. Nicht heißt es »Zurück zu den Sachen!«, sondern »Zurück zu uns selbst!«“ (Gormann-Thelen)

Im Jahr 1947 sprach Eugen Rosenstock-Huessy in der Paulskirche zu »Friedensbedingungen einer Weltwirtschaft«. Michael Gormann-Thelen zitiert: „Die künftige Solidarität, deren Fehlen uns heute noch plagt, weil der Geist nicht wehen will, ist die Solidarität all derer, die sich unter dem Zwang des technischen Fortschritts ändern müssen. Wandlungsfähig muß jedes Mitglied der Gesellschaft bleiben. (…) Den seelischen Zutritt zu dem Rohstoff Mensch zu pflegen, ist die Friedensbedingung einer Weltwirtschaft.“ (Rosenstock-Huessy)

„Wo wir alle eigentlich nur kleine Teile des Ganzen sind und es wahrscheinlich auch nicht anders können, müssen wir Ordnungen finden und darauf habe ich nun seit 1912 meine Sach’ gestellt, wir müssen Formen finden, in denen statt des Kriegsheeres die Urbedürfnisse der menschlichen Seele in der Gemeinschaft sich verleiblichen können.“ (Rosenstock-Huessy in einem früheren Beitrag)

Als zentralen Imperativ formuliert Rosenstock-Huessy: »Wir müssen in eine Gesellschaftsordnung eintreten, in der die Wandelbarkeit – to change with honour – das Selbsterhaltungsprinzip der Menschheit wird.«

Eugen Rosenstock-Huessy wurde in der DDR nach 1956 genauso unterdrückt wie Ernst Bloch. Die Bürgerrechtsbewegung gegen die SED und mit ihr Wolfgang Ullmann beriefen sich sowohl auf Rosenstock-Huessy wie auf Bloch.

„Wer den Zusammenhang verliert, verliert Zeit“

Dr. Ruth Mautner (Foto: © Welf Schröter)

Diesen Satz von Eugen Rosenstock-Huessy setzt Ruth Mautner ins Zentrum ihres Beitrages „Wie viele Zeiten leben in uns gleichzeitig?“. Die Mitherausgeberin des zweitausend Seiten umfassenden Hauptwerkes des „unreinen Denkers“ (ERH über ERH) mit dem Titel „Im Kreuz der Wirklichkeit – Eine nachgoethische Soziologie“ greift auf Gedanken Rosenstock-Huessys zurück, wenn sie in scheinbar alten Sprachmustern ein Bild für solidarisches Miteinanderarbeiten zeichnet: „Angstlos miteinander atmen“ (ERH). Zeit ist immer das, womit sie gefüllt ist. Zeit ist daher nie Zeit. Bewusstsein in der Zeit ergibt Bewusstsein von Zeit. Wir leben in diversen Zeiten.

Sie stellt der „Gegenwart“ das Rosenstocksche Wort „Widerwart“ entgegen, was soviel bedeutet wie unpopuläre Bahnbrecher oder ein Ärgernis sein, nicht der Mode, dem Trend, den Gewohnheiten folgen. „Widerwart ist Gegenwart zur Unzeit, wenn die Zeit noch nicht reif ist. Es erfordert Mut, Kraft und Hingabe ohne Anerkennung zu leben und zu wirken. Und: Nur das Erwartete kann Gegenwart werden.“ (Mautner)

In ihrem Vortrag in der Evangelischen Akademie Bad Boll unterscheidet sie Zeitgenossen (Menschen haben eine gemeinsame Zeit, sind zeitübergreifend im Gespräch) und Raumgenossen (Menschen ohne Bezug zueinander): „Wir hier, die wir uns in einem Raum befinden, sind vorerst einmal Raumgenossen – ob wir jedoch auch Zeitgenossen werden oder vielleicht auch schon sind, müsste sich erst herausstellen. Wir teilen als Raumgenossen den Augenblick hier im Raum beisammen zu sein. Zeitgenosse kann auch jemand sein, die/der längst nicht mehr unter den Lebenden weilt. Zeitgenossen werden Menschen, die sich als ,Wir‘ bewähren: z.B. in ein Gespräch eintreten (nicht bloß ,plaudern‘, wie die Österreicher sagen, oder etwas erzählen, …) oder aber zusammen etwas erarbeiten, und nicht nur alle am Fließband stehen.“ (Mautner)

Eugen Rosenstock-Huessy, Vorsitzender der World Association of Adult Education, war engagierter Erwachsenen- und Jugendbildner. Wurde so zum Mentor des „Kreisauer Kreises“. Im Zentrum aber blieb die soziale Frage: „Vom Gebot einer neuen Zeit- und Raumeinteilung war ich befallen. Und unter dies Gebot neuer Zeit und neuen Raumes trat ich selber. Es kam darauf an, das abgebrochene Gespräch unter den Menschen wieder in Gang zu setzen. Die Untersuchungen zur Lebensarbeit in der Industrie, zur Ausgliederung der Werkstätten, zur Erfassung des Betriebes, entsprangen aus einer neuen Lage. Sie führte mich dreimal in die Nöte der Arbeitslosigkeit. Und der Arbeitslose scheint mir der menschliche Mittelpunkt aller sozialen Fragen unserer Zeit.“ (Eugen Rosenstock-Huessy)

Der erste Blogger lebte vorzeitig

Manchmal erinnert man sich an jemand, den man gestern gesehen zu haben glaubte. Doch sein Geburtstag liegt 250 Jahre zurück. Am 21. März 1763 wurde der Schriftsteller Jean Paul geboren. Ein mutiger Rebell spazierte in Weimar ein.

Hätte es damals schon das Internet gegeben, wäre er der erste Blogger geworden. Denn seine literarische Arbeit folgte zuweilen den Mustern eines offenen öffentlichen Tagebuchs. Manche nennen es ein „Journalführen“. Goethe wandte sich brüskiert ab. Welch eine Infragestellung der üblichen Form! Christian Linder beschrieb Jean Pauls Arbeit im Deutschlandfunk aus heutiger Perspektive:

„Statt eine von Anfang bis Ende durchgeführte Geschichte zu ersinnen, inszenierte er sein Schreiben als eine Art Journalführen, ein von vielen Improvisationen charakterisiertes Aufzeichnen von Notizen und Skizzen, die das Offene, Zufällige und Zerfließende eines Lebens in den Blick nahm – ein heute sehr modern anmutendes Konzept.“

Jean Paul war seiner Zeit voraus. Er lebte geradezu vorzeitig. Der demokratische Revolutionär, Literatur- und Theaterkritiker Ludwig Börne sprach bei Jean Pauls Beerdigung bemerkenswerte Worte:

„Nicht allen hat er gelebt. Aber eine Zeit wird kommen, da wird er allen geboren, und alle werden ihn beweinen. Er steht aber geduldig an der Pforte des zwanzigsten Jahrhunderts und wartet lächelnd, bis sein schleichend Volk ihm nachkomme.“

Ernst Bloch nannte Jean Paul sympathisierend den „Dichter der schönsten Wunschlandschaften“.

Bewusstseins-Schichten unserer Arbeitswelten

Beat Dietschy (Foto: © Welf Schröter)

Es war ein Experiment besonderer Art. Knapp 45 Personen kamen für zwei Tage im Februar 2013 in der Evangelischen Akademie Bad Boll zusammen, um sich den Begriffen „Arbeit“ und „Zeit“ historisch, kulturell, theologisch, sozial und gesellschaftspolitisch zu nähern. Als öffnende Werkzeuge dienten die Denker Ernst Bloch (1885-1977) und Eugen Rosenstock-Huessy (1888-1973).

Beat Dietschy, letzter Assistent und Mitarbeiter des Philosophen Ernst Bloch, filterte dessen Werk, um auf die Spuren des Arbeitsverständnisses zu kommen. Ausgehend von Blochs „Geist der Utopie“ über „Erbschaft dieser Zeit“, „Das Prinzip Hoffnung“ bis „Tendenz – Latenz – Utopie“ führte Dietschy seine Zuhörer durch das umbaute Denken:

„Primat hat die Suche nach Selbstbegegnung, die unkonstruierbare Frage nach uns selber, die noch keinerlei zureichende Antwort enthält. Denn ,wir haben kein Organ für das Ich oder Wir, sondern liegen uns selbst im gelben Fleck, im Dunkel des gelebten Augenblicks, dessen Dunkel letzthin unser eigenes Dunkel, uns Unbekanntsein, Vermummt- oder Verschollensein ist‘ (Bloch).“

Gegen die entfremdete Arbeit setzte Ernst Bloch den Begriff der „tätigen Muße“. Sie ist die Aufhebung der Entfremdung. Wie weit aber ist die Arbeitswelt am Übergang von der industriell-materiellen Produktionswelt hin zur wissensbasiert-immateriellen, virtuellen Produktionswelt der Industrie 4.0 von der Aufhebung der Entfremdung entfernt?

In vielen individuellen und gesellschaftlichen Schichtungen unseres Bewusstseins tragen wir die Geschichte der Arbeit und ihrer Bedingungen in uns. Ein Teil von uns lagert noch in der bäuerlichen Welt „bäuerliches Tao“ (Ernst Bloch), ein anderer Teil hängt in der Zeit der beginnenden Manufakturen, ein weiterer bewegt sich unbewusst im Takt industrieller Werkhallen, während der Kopf die nahe Zukunft der Cyber Physical Systems CPS zu verstehen versucht: Arbeitswelt von morgen.

Die Schichtungen liegen wie schwere, dicke Teppiche als Schätze der Erfahrungen in uns übereinander gestapelt. Je nach Erschütterung, Krise oder manifester Enttäuschung brechen die Bewusstseinsschichten aus den Teppichen aus. Nicht selten drängen sie den Menschen in seiner Orientierung nach rückwärts. In scheinbar Bekanntes, scheinbar Erlebtes.

„Wer ist schon im gerade gelebten Augenblick wirklich anwesend, gegenwärtig?“, fragt Beat Dietschy, sich auf Bloch beziehend. Des Philosophen Hinweis auf „das Dunkel des gelebten Augenblicks“ provoziert unseren Erkenntniswunsch im Jetzt. Ich und die Welt? Wer ist das neue „Wir“?

Das gemeinsame Denk-Experiment von Bad Boll brachte die Lust am utopischen Denken zurück.