Vor 80 Jahren erschien Ernst Blochs „Erbschaft dieser Zeit“

(Foto: © Welf Schröter)

(Foto: © Welf Schröter)

„Hier wird breit gesehen. Die Zeit fault und kreißt zugleich. Der Zustand ist elend oder niederträchtig, der Weg heraus krumm. Kein Zweifel aber, sein Ende wird nicht bürgerlich sein.“ Mit diesen Worten führte Ernst Bloch, der Philosoph des „Noch-Nicht“ und vehemente Kritiker des Nationalsozialismus, in sein Werk „Erbschaft dieser Zeit“ ein, das im Jahr 1935 in der Schweiz erschien. Als das lange verschollene Buch 1962 vom Autor neu veröffentlicht wird, begrüßt Enzensberger den Band und wendet die methodische Herangehensweise zugleich in die Gegenwart: „Wo aber wäre der Kritiker, der uns die Erbschaft unserer fünfziger Jahre beschriebe, so wie Bloch die seiner Zeit, satt von Anschauung und Erinnerung und hungrig vor Hoffnung?“

„Das Buch ist ein Handgemenge“, schrieb Bloch in den dreißiger Jahren. Im Zentrum steht der Begriff „Ungleichzeitigkeit“, den Bloch Marx aufnehmend auf die Geschichte der Sehnsüchte der Menschen am Ende der Weimarer Republik anlegt und mit dem er zudem den einseitigen analytischen Kältestrom der Komintern kritisierte. „Erbschaft dieser Zeit“ zählt noch heute zu den wichtigsten Erklärungshelfern, wie es zum „Schrecken-Deutschland“, zum Nationalsozialismus kommen konnte. Wenn im Jahr 2015 an die Befreiung Europas vom Nationalsozialismus erinnert wird, sei den Akteuren die Lektüre dieser Schrift vorab empfohlen.

Der „ungleichzeitige Rest“ (Bloch) des alten militärisch-feudalen wilhelminischen Kaiserreiches im Bewusstsein Weimars und die unzureichende Erfüllung der Novemberrevolution haben die Wünsche und Träume der Menschen empfänglich gemacht für die „anachronistische Verwilderung“ (Bloch). Zuwenig hätten die Gegner der NS-Propaganda den „Wärmestrom“(Bloch) die „Schatzkammern einer nicht ganz aufgearbeiteten Vergangenheit“ begriffen und ergriffen. „Der subjektiv ungleichzeitige Widerspruch ist gestaute Wut, (…).“

Im Jahr 2015 ist erneut „gestaute Wut“ zu erkennen, wenn auch eine andere. Ein Blick in „Erbschaft dieser Zeit“ kann beim notwendigen Handeln die „Breite“ sowie den „Stachel der Unsicherheit“ sichtbar machen helfen. „Schon morgen ist jedes Jetzt anders da“(Bloch).

 

Das „Alte Herkommen“

Manchmal kommt es vor, dass ein lesender Kopf neugierig in den Bann eines Begriffes gezogen wird. Es scheint, als ob Worte beginnen, Geschichten zu erzählen. Der erste Blick löst Gedanken aus und aktualisiert Erinnerungen. Vergangenes kommt zurück. Das eigene Selbst sucht nach Offenem, nach Uneingelöstem.

(Foto: © Welf Schröter)

(Foto: © Welf Schröter)

Das „Alte Herkommen“ ist ein solches Wort. Das erste Lesen assoziiert zu „Herkommen“ umgangssprachlich den Begriff „Herkunft“. Doch halt! Die Worte sind vielschichtig und tragen verschiedene Zeiten in sich.

Vor 500 Jahren beschrieb das „Alte Herkommen“ die sozialen und wirtschaftlichen Gewohnheitsrechte der armen Bauern. „Altes Herkommen“ bemaß das Recht, Holz im Wald des herrschenden Adels zu schlagen, um selbst in der bäuerlichen Hütte den Winter warm zu überdauern. Das „Alte Herkommen“ galt als alter verlässlicher Brauch, der Rechte regelte.

Als nun Grafen und Herzöge den Bauern das Recht, Holz zu sammeln, wegnahmen, ihnen ihr angestammtes „Altes Herkommen“ entrissen, erhoben sich die Untertanen aus prekärer Lage zum Widerstand. Sie fanden sich unter dem Leitmotiv „Armer Konrad“ zusammen.

Der Bruch des vereinbarten „Alten Herkommens“ durch die Herren löste Verelendung, Kälte und Armut aus. Bäuerlicher Untertan zu sein, wurde nun zugleich Zeichen der Herkunft des „gemeinen Mannes“.

Heute birgt das Wort „Altes Herkommen“ ungleichzeitige Erbschaften in sich. Es erinnert an bäuerlich-aufständische Freiheitshoffnungen der Jahre 1514 und 1525 im Herzogtum Württemberg. Zugleich beleuchtet es die Niederschlagung der demokratischen Bewegung durch Burgherren und städtische Patrizier.

450 Jahre später ließ sich Ernst Bloch zu dem Kommentar hinreißen: „Die Enkel fechtens besser aus!“

 

Dialektik der Ungleichzeitigkeit

Altes Industriegesellschaftliches vermischt sich mit neuem „Informationsgesellschaftlichem“. Der Druck am Arbeitsplatz wächst nun drastisch an. Der Inhalt der Worte Markt, Wettbewerb, Globalisierung nimmt den Atem. Der Druck spitzt sich weiter zu und unterwirft Arbeit und Leben dem Diktat der Ökonomisierung der Zeit. Die Versuche, auf dieses Diktat der Ökonomisierung der Zeit zu reagieren, einander wieder etwas Luft zu verschaffen, auf die Herausforderungen zu antworten, vollziehen sich selbst immer mehr unter den Spielregeln und mit den Schlagworten der Ökonomisierung der Zeit.

(Foto: © Welf Schröter)

(Foto: © Welf Schröter)

Diese erinnern daran, dass zwischen den Schichtungen unseres Bewusstseins, zwischen den Teppichen der erlebten Zeit alte Tagträume lagern, die noch nicht erfüllt, nicht eingelöst sind. Zu dem Wunsch nach dem Wiederentdecken des menschlichen „Arbeitsvermögens“  gesellten sich qualitative Fragen nach dem Unabgegoltenen früherer Auseinandersetzungen. Wo sind die enttäuschten Hoffnungen früherer Jahre? Wo sind die alten und älteren Tagträume des öffentlichen Raumes abgeblieben? Unter welchen Bewusstseinschichtungen und unter welchen Erfahrungsteppichen liegen sind verborgen, nicht verloren, aber noch nicht wieder gefunden? Wie lassen sich diese alten Schätze finden und heben?

Diese Schätze stehen nicht in den Bibliotheken, in den Datenbanken, in den Social Medias. Sie sind aufbewahrt in den Gedächtnissen der handelnden Menschen, in den Gedächtnissen gesellschaftlich-öffentlicher Diskussionen, in den Gedächtnissen von öffentlichen Tagträumen, der erfüllten und nicht-erfüllten, der enttäuschten und unabgegoltenen. Sie sind – blochianisch ausgedrückt – als Ungleichzeitige mit uns gleichzeitig vorhanden, aber für uns nicht immer erkannt. Sie sind latent da. Mit dem Begriff „Ungleichzeitigkeit“ lassen sich wie Teppiche überlagerte Bewusstseinsschichten Schritt für Schritt, bildlich gesprochen Teppich für Teppich, wieder zugänglich und auffindbar machen.

Bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts gab es eine relativ einheitliche Arbeitswelt und eine relativ einheitliche Vorstellung davon, was Arbeit ist und wie man sie regelt. Diese relative Einheitlichkeit ergab für die Menschen die Chance der persönlichen Lebensplanung. Der eingetretene Entmischungsprozess wird durch den Einsatz neuer Technologien, durch Informations- und Kommunikationstechnik enorm beschleunigt.

Der Entmischungsprozess bedeutet in der Umkehrung, dass die alte Einheitlichkeit nicht wieder rückholbar ist. Es gilt zu überlegen, wie eine neue gemeinsame Grundlage unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens, unseres solidarischen Miteinanders aussehen kann. Die Erbschaft des alten Solidaritätsgedankens verfügt über viele Schichtungen, über Unerfülltes, Uneingelöstes, Unabgegoltenes. Die ungleichzeitigen Schätze der Solidarität liegen noch zwischen den besagten Teppichen. Es sind Splitter aus Ethik, Moral, Erfahrungen, Enttäuschungen, die wir benötigen, um ein neues Leitbild einer solidarischen Gesellschaft hervorzubringen.

Ein solches neues solidarisches Bild einer Gesellschaft wird nicht mehr allein über den Begriff Arbeit definiert und bestimmt werden. Dies ergibt sich aus dem Erosions- und Entmischungsprozess der Arbeitswelt selbst. Arbeitsvermögen, Tätigkeiten, „tätige Muße“ (Bloch), kreatives Arbeiten, gesellschaftliches Mindesteinkommen, Teilhabe an der Gesellschaft werden neu miteinander verknüpft werden müssen.

Mit neuen Fragen können wir in neuer Weise auf die Erfahrungs- und Bewusstseinsschichtungen, auf und unter die Teppiche blicken. Wir finden dadurch Neues, indem wir neu fragen. Die Antworten auf unsere neuen Fragen können wir zum Teil aus unserem ungleichzeitigen gesellschaftlich-geschichtlichen Gedächtnis gewinnen. Denken wir an das Thema Zeit, dass sich durch die Jahrhunderte und Jahrtausende menschlich erlebter Geschichte zieht. Es gab schon gute Antworten, aber sie sind verschüttet. Es gilt, sich zu erinnern.

Für Ernst Bloch lag die Genesis in der Zukunft. Heimat entsteht für ihn in der Zukunft als Ergebnis gesellschaftlichen Handelns.

 

Vollzahl der Zeiten

(Foto: Welf Schröter)

Lange vor der Herrschaft der Inkas in Lateinamerika entfaltete sich im Gebiet des heutigen Peru die indianische Hochkultur der Chachapoya. Ihr Totenkult zeichnete sich dadurch aus, dass sie den Schädel ihrer verstorbenen Angehörigen im eigenen komplex in Felswände erbauten steinernen Wohnhaus begruben. Sie waren davon überzeugt, dass die Toten somit weiterhin unter den Lebenden verblieben. Vergangene Zeit sollte gleichzeitig sein und gegenwärtig bleiben.

Der vom Protestantismus geleitete Denker, Kenner vorchristlicher Kulturen und Hitlergegner Eugen Rosenstock-Huessy sah die kommende Gleichzeitigkeit vergangener Menschenzeiten in der Zukunft des diesseitigen und jenseitigen Humanum. Die religiöse Erfüllung des Menschentraumes identifizierte er in einem neuen Zusammenleben, in der Anerkennung des „Du“ des Anderen als Anerkennung des eigenen „Ich“, und in der Hoffnung auf Heimat im christlichen Erlösungsprozess. Wenn die gelebten Leben von Vergangenheit und Gegenwart in der Zukunft zur „Vollzahl der Zeiten“ gelangen, wird Ungleichzeitigkeit gleichzeitig.

„Der Zeiten sind mehrere. Jeder zeitlichen Menschenart kommen ihre Bahnen, Räume, Alter zu. Je vollzähliger wir sie anerkennen, desto weiter greift der Frieden. Friedfertig werden wir, stille in unserem Land und voll der Klänge unserer Stunde, wenn wir das Erbe bewähren, das wir empfangen haben: die Vollzahl der Zeiten.“ So schrieb Rosenstock-Huessy in seinem Hauptwerk „Im Kreuz der Wirklichkeit – Eine nach-goethische Soziologie“ in Band drei mit dem Titel „Die Vollzahl der Zeiten“. „Der vollständige Mensch“ komme „sicher nicht aus den vereinzelten Zeiten, sondern nur aus ihrer Vollzahl.“

Ernst Bloch, der Denker des „Noch-Nicht“ und der Antizipation konkret-utopischer – nicht utopistischer – „Heimat“, war in seinem ersten Hauptwerk „Geist der Utopie“, das 1918 erschien, von tiefer christlicher Religiosität und beginnendem marxistischen Rebellentum geprägt. Er schrieb: „Alles könnte vergehen, aber das Haus der Menschheit muss vollzählig erhalten bleiben und erleuchtet stehen, damit dereinst, wenn draußen der Untergang rast, Gott darin wohnen und uns helfen kann – und solches führt aus der Seelenwanderung heraus auf den Sinn der echten sozialen, historischen und kulturellen Ideologie.“

Fünf Jahre später veröffentlichte Bloch eine überarbeitete Fassung von „Geist der Utopie“. In der Version von 1923 greift er die Idee der „Vollzahl“ erneut auf: „Und vor allem eben, über der uns immer wieder repetierbaren, sinnhafter umspielbaren Geschichte, läßt die Seelenwanderung zugleich alle Subjekte am Ende der Geschichte präsent, bewährt präsent sein, garantiert sie den Begriff der ,Menschheit‘ in seiner dereinst höchst konkret vollzähligen, absoluten Entität.“

Im Begriff der „Vollzahl der Zeiten“ suchten Rosenstock-Huessy wie auch Bloch nach der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Für Bloch liegt dort die „Heimat“. In der Zukunft. Als kommende Genesis.

Beide Denker begannen ihre Werke als Reaktion auf die Schrecken des Ersten Weltkrieges, der vor einhundert Jahren seinen Anfang nahm.

 

Eugen Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit. Eine nach-goethische Soziologie. Talheimer Ausgabe. Band 1: Übermacht der Räume; Band 2: Vollzahl der Zeiten 1; Band 3: Vollzahl der Zeiten 2. Verbesserte, vollständige und korrigierte Neuausgabe mit Namen- und Sachregister. Herausgegeben von Michael Gormann-Thelen, Ruth Mautner, Lise van der Molen. Mit einem Vorwort von Irene Scherer und einem Nachwort von Michael Gormann-Thelen. 2008/2009, 1.964 Seiten, Ausgabe in drei Bänden.

Willi Baumeister revisited

Foto: © Welf Schröter

Der Gang durch die Stuttgarter Ausstellung „Willi Baumeister – International“ 2013/2014 zwingt den Betrachtenden in eine Zeitreise, die in die Anfänge der zwanziger Jahre führt und doch die Gegenwart konfrontiert. Es sind die „Mauerbilder“ (1923) und die „Maschinenbilder“ (1924) Baumeisters, die einem noch heute den Atem nehmen. Es ist die Wucht seiner abstrakten Sprache, die den Betrachter geradezu umwirft, wenn er die
Reihe der Figuren (1920/21) und Konstruktionen gewahr wird.

Der Begriff „Mauerbilder“ – von Baumeister selbst gewählt – führt zunächst in die Irre, denn nicht Bilder von Mauern entstanden, sondern das Materiale, die Kombination von Sand, Holz, Farbe gab dem Auge eine Oberfläche vor, die durch Blicke als mauerartig steinig erkannt werden konnten.  Willi Baumeister (1889–1955) – geboren vor 125 Jahren am 22. Januar – verlässt die bis dahin weit verbreitete Form der künstlerischen Darstellung, reduziert Körper auf Flächen, Farben und geometrische Konstrukte, zerlegt diese und ordnet sie neu an. Das scheinbar statische Bild erzeugt in der Kommunikation mit dem Ansehenden Bewegung. „Eine Steigerung der Bewegung, mit der gleichsam eine Zeit-Substanz in das Kunstwerk eingeführt wird“ (Willi Baumeister). Diese Bewegung ist Aufbruch und Umbruch. Aufbruch nach den Schrecken des Weltkrieges, Aufbruch durch die Rationalität neuer Technik, die offenbar das Mythisch-Emotionale in nüchterne Funktionalitäten umlenkt.

Baumeister bricht mit dem bisher Gesehenen. Er bricht mit dem Sehen. Er bricht mit dem Sehenden. Wie fasst es Erich Franz treffend in Worte: „Form ist nicht Zustand, sondern Werden und Wandlung, und Sehen nicht Feststellen, sondern unaufhörliches Sich-Umstellen des Blicks.“

Baumeisters „Mauerbilder“ und „Maschinenbilder“ antizipieren das „Noch-Nicht“. Franz zitiert im Ausstellungskatalog mit František Kupka einen der Pioniere der Abstraktion: „Es müsse „ein Begriff von der gleichzeitigen atmosphärischen Durchdringung [der Oberfläche] gefunden werden.“

Willi Baumeister, von Le Corbusier gepriesen, von Fernand Léger beeinflusst, von Wassily Kandinsky inspiriert und mit zahlreichen Rebellen wie Oskar Schlemmer, Kurt Schwitters, Paul Klee und anderen freundschaftlich verbunden, hat gültige (Kunst-)Gesetze gebrochen und neue Perspektiven eröffnet. Das macht sein Schaffen aktuell. Sein „Drucker“, HAP Grieshaber, fand später für den Neues Schöpfenden und vom Nazi-Regime als „entartet“ Verfemten den beziehungsreich vielsinnigen Ausdruck: Baumeister – ein „Gesetzgeber in gesetzloser Zeit“.

Farben der Veränderung

Margarete Hecklinger (Foto: © Welf Schröter)

Margarete Hecklinger (Foto: © Welf Schröter)

Es ist die expressive Kraft ihrer Farben und die Bewegung ihrer Pinselführung, die den Betrachter in den Bann zieht. Es mischt sich eine phasenweise Beerbung des aufrührerischen Expressionismus mit der späten Sehnsucht nach Heimat und der Einlösung von deren Unabgegoltenheit. Ihre Aufmerksamkeit gilt Mensch, Natur und Tier.

Die 1936 geborene Künstlerin Margarete Hecklinger zieht in ihren zum Teil explosiven Werken verschiedene Zeiten, alte Zeiten und gegenwärtige zusammen. Sie kontrastiert und verknüpft Europäisches und Indisches. Sie zeigt Verwandtes und holt Vergangenes zurück, bewahrt es in ihren Bildern.

Die Schülerin von Rudolf Yelin und Erich Mönch ringt mit der Natur und dem Umgang des Menschen mit der Natur. Es ist ein Tanz der Farben und zugleich der Blick in die Geschichtsbeladenheit von Gesichtern.

Im Jahr 1969 ging sie erstmals zu einem Aufenthalt nach Indien. Sie zeichnete, porträtierte, skizzierte, strich mit wenigen Linien die Hoffnungen der Einwohner zu Papier wie auch ihre Enttäuschungen. Nicht verklärend esoterisch sondern auffindend suchend neugierig.

Die in Stuttgart, Reutlingen und Indien lebende Margarete Hecklinger eröffnete am 1. November ihre Ausstellung in Stuttgart. Ein wiederkehrendes Motiv bildet die Bewegung des Menschen, die Figur des tanzenden Menschen, der damit mit anderen in Kommunikation tritt, sich ausdrückt und zugleich die Kraft des Beharrenden abstreift.

Der Gang durch die Ausstellung zeigt zahlreiche farbenstrahlende Werkschöpfungen einer 77-jährigen. Bei längerer Betrachtung aber dringt aus den Bildern der jung gebliebene und nicht altern wollende Traum des Humanum, europäisch wie indisch.

Philosophie eines Lokführers

Foto: © Welf Schröter

Selten, aber nicht zu selten, kommt es vor, dass der sich selbst für modern haltende Mensch im rasanten Alltag vor eine geradezu übermenschliche Aufgabe gestellt sieht. Da tritt etwas ein, das Sprachlosigkeit und unendliches Nachdenken auslöst. Bis sich Letzteres in ein humorvolles Lächeln verwandelt.

Wer sich mit dem Zug bewegt, erhält vor jedem Bahnhofshalt einen üblichen freundlichen Ausstiegshinweis, der beinhaltet, dass man entweder “in Fahrtrichtung rechts” oder “in Fahrtrichtung links” aussteigen möge. Entsprechend wechseln die Fahrgäste die Türen.

Nun aber erklärte ein Lokführer in seinem Regionalexpress angesichts des nahenden nächsten Halteortes fürsorglich an seine Fahrgäste gewandt: “Bitte nutzen Sie den Ausstieg entgegen der Fahrtrichtung.” Der Mann war sichtlich seiner Zeit voraus.

Vor den beiden Türen links und rechts machte sich Ratlosigkeit breit. Was wollte der Philosoph an der Spitze des Zuges seinen Mitmenschen dadurch mit auf den Weg geben? Ein erleichterndes Lächeln auf allen Mündern ließ kurz danach das Gefühl einer wechselseitigen Gemeinsamkeit aufblühen. Zuvor standen sich alle nur sprachlos wegblickend fremd gegenüber.

Immerhin: Ein “Ausstieg entgegen der Fahrtrichtung” hat etwas Verbindendes.

Neue Solidarität und “Change with Honour”

Michael Gormann-Thelen (Foto: © Welf Schröter)

Eugen Rosenstock-Huessy „verdient wieder hervor- und herausgerufen und dem Vergessen entrissen zu werden“. Mit dieser Kernaussage führt Michael Gormann-Thelen den Gesellschaftsreformer, Juristen, Reformpädagogen und Erwachsenenbildner „ERH“ in die Debatte um die gegenwärtige Gestaltung von „Arbeit“ und „Zeit“ ein. In der Evangelischen Akademie Bad Boll umreißt er im Februar 2013 Rosenstock-Huessys Denken, in dem er auf dessen Revolutionsverständnis eingeht. Nach ERH gelte es, die großen Weltrevolutionen zu würdigen wie etwa die Papstrevolution des 11. bis 14. Jahrhunderts, die Reformation, die Englische Revolution, die Französische Revolution und die Russische Revolution: „Jede Welt-Revolution zeichnet sich dadurch aus, dass sie einen »totalen«, universell gültigen Anspruch »an alle« in die Welt brachte, jeder ebenso unerhört wie alles verwandelnd“ (Gormann-Thelen).

„Da ist Rosenstock-Huessys Soziologie »Im Kreuz der Wirklichkeit«, die zunächst von den »Übermächten« der Räume und des Raumdenkens handelt und diese beiden letzteren als Verfallsformen von »Ernst« und »Spiel« und von »Krieg« und »Frieden« vorführt. Danach kommt die Zeitenlehre unter dem ersten Titel »Die Gewalt der Zeiten«, später unter dem Titel »Die Vollzahl der Zeiten«. Nicht heißt es »Zurück zu den Sachen!«, sondern »Zurück zu uns selbst!«“ (Gormann-Thelen)

Im Jahr 1947 sprach Eugen Rosenstock-Huessy in der Paulskirche zu »Friedensbedingungen einer Weltwirtschaft«. Michael Gormann-Thelen zitiert: „Die künftige Solidarität, deren Fehlen uns heute noch plagt, weil der Geist nicht wehen will, ist die Solidarität all derer, die sich unter dem Zwang des technischen Fortschritts ändern müssen. Wandlungsfähig muß jedes Mitglied der Gesellschaft bleiben. (…) Den seelischen Zutritt zu dem Rohstoff Mensch zu pflegen, ist die Friedensbedingung einer Weltwirtschaft.“ (Rosenstock-Huessy)

„Wo wir alle eigentlich nur kleine Teile des Ganzen sind und es wahrscheinlich auch nicht anders können, müssen wir Ordnungen finden und darauf habe ich nun seit 1912 meine Sach’ gestellt, wir müssen Formen finden, in denen statt des Kriegsheeres die Urbedürfnisse der menschlichen Seele in der Gemeinschaft sich verleiblichen können.“ (Rosenstock-Huessy in einem früheren Beitrag)

Als zentralen Imperativ formuliert Rosenstock-Huessy: »Wir müssen in eine Gesellschaftsordnung eintreten, in der die Wandelbarkeit – to change with honour – das Selbsterhaltungsprinzip der Menschheit wird.«

Eugen Rosenstock-Huessy wurde in der DDR nach 1956 genauso unterdrückt wie Ernst Bloch. Die Bürgerrechtsbewegung gegen die SED und mit ihr Wolfgang Ullmann beriefen sich sowohl auf Rosenstock-Huessy wie auf Bloch.

„Wer den Zusammenhang verliert, verliert Zeit“

Dr. Ruth Mautner (Foto: © Welf Schröter)

Diesen Satz von Eugen Rosenstock-Huessy setzt Ruth Mautner ins Zentrum ihres Beitrages „Wie viele Zeiten leben in uns gleichzeitig?“. Die Mitherausgeberin des zweitausend Seiten umfassenden Hauptwerkes des „unreinen Denkers“ (ERH über ERH) mit dem Titel „Im Kreuz der Wirklichkeit – Eine nachgoethische Soziologie“ greift auf Gedanken Rosenstock-Huessys zurück, wenn sie in scheinbar alten Sprachmustern ein Bild für solidarisches Miteinanderarbeiten zeichnet: „Angstlos miteinander atmen“ (ERH). Zeit ist immer das, womit sie gefüllt ist. Zeit ist daher nie Zeit. Bewusstsein in der Zeit ergibt Bewusstsein von Zeit. Wir leben in diversen Zeiten.

Sie stellt der „Gegenwart“ das Rosenstocksche Wort „Widerwart“ entgegen, was soviel bedeutet wie unpopuläre Bahnbrecher oder ein Ärgernis sein, nicht der Mode, dem Trend, den Gewohnheiten folgen. „Widerwart ist Gegenwart zur Unzeit, wenn die Zeit noch nicht reif ist. Es erfordert Mut, Kraft und Hingabe ohne Anerkennung zu leben und zu wirken. Und: Nur das Erwartete kann Gegenwart werden.“ (Mautner)

In ihrem Vortrag in der Evangelischen Akademie Bad Boll unterscheidet sie Zeitgenossen (Menschen haben eine gemeinsame Zeit, sind zeitübergreifend im Gespräch) und Raumgenossen (Menschen ohne Bezug zueinander): „Wir hier, die wir uns in einem Raum befinden, sind vorerst einmal Raumgenossen – ob wir jedoch auch Zeitgenossen werden oder vielleicht auch schon sind, müsste sich erst herausstellen. Wir teilen als Raumgenossen den Augenblick hier im Raum beisammen zu sein. Zeitgenosse kann auch jemand sein, die/der längst nicht mehr unter den Lebenden weilt. Zeitgenossen werden Menschen, die sich als ,Wir‘ bewähren: z.B. in ein Gespräch eintreten (nicht bloß ,plaudern‘, wie die Österreicher sagen, oder etwas erzählen, …) oder aber zusammen etwas erarbeiten, und nicht nur alle am Fließband stehen.“ (Mautner)

Eugen Rosenstock-Huessy, Vorsitzender der World Association of Adult Education, war engagierter Erwachsenen- und Jugendbildner. Wurde so zum Mentor des „Kreisauer Kreises“. Im Zentrum aber blieb die soziale Frage: „Vom Gebot einer neuen Zeit- und Raumeinteilung war ich befallen. Und unter dies Gebot neuer Zeit und neuen Raumes trat ich selber. Es kam darauf an, das abgebrochene Gespräch unter den Menschen wieder in Gang zu setzen. Die Untersuchungen zur Lebensarbeit in der Industrie, zur Ausgliederung der Werkstätten, zur Erfassung des Betriebes, entsprangen aus einer neuen Lage. Sie führte mich dreimal in die Nöte der Arbeitslosigkeit. Und der Arbeitslose scheint mir der menschliche Mittelpunkt aller sozialen Fragen unserer Zeit.“ (Eugen Rosenstock-Huessy)

Autonomie und Freiheit

Nancy Fraser (Foto: © Welf Schröter)

Ist die Forderung nach einer existenzialistisch begründeten Autonomie des Individuums in unseren gegenwärtigen Gesellschaften eine ausreichende Anforderung an Veränderung? – Gegen diese Sicht ergriff Nancy Fraser, amerikanische Philosophin, freundlich aber bestimmt Partei gegen André Gorz. „Not sufficient, nicht ausreichend“ sei diese Position. Als Anhängerin von Herbert Marcuse wollte Fraser das Thema soziale Gerechtigkeit, die Forderung nach „equal freedom“ ebenso berücksichtigt wissen. Autonomie an sich sei noch kein Motor für „transitorische Reformen“ (Fraser). Doch Gorzens Traum der Emanzipation des Menschen könne sie viel abgewinnen.

Die theoretischen Provokationen von André Gorz gipfelten in der frühen Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen. Er war ein Schüler Jean-Paul Sartres und hatte sich doch mit ihm überworfen: André Gorz (1923-2007), existenzialistischer Marxinterpret und politischer Ökologe, der die Neue Linke Europas 1980 mit seinen Thesen des „Abschieds vom Proletariat“ zu recht herausforderte und der 1983 „Wege ins Paradies“ pointierte. Aus Anlass seines fünften Todestages kamen am 16. November 2012 in Potsdam auf Einladung der Heinrich-Böll-Stiftung Brandenburg und der Ernst-Bloch-Gesellschaft zur Tagung “Paradise now” rund einhundert Gorz-Freunde und Gorz-KritikerInnen zusammen.

Gorz legte einen neuen Arbeitsbegriff seinem Denken zugrunde und verlangte eine Umverteilung von Arbeit für neue gesellschaftliche Zeitstrukturen sowie mehr individuelle Eigenzeit. Doch er blieb dabei den Grundkategorien der Kulturen industrieller abhängiger Erwerbstätigkeit verhaftet. Die Entgrenzung der Arbeit durch die heraufziehende Informatisierung der Arbeit unterschätzte er. André Gorz war ein wichtiger Wegbereiter für ein unabhängiges emanzipationsorientiertes Denken. Seine Herkunft aus einem jüdischen Elternhaus und das Erleben der Schrecken von Nazismus und Antisemitismus begründeten zugleich sein stetes Bedürfnis nach einer „authentischen Existenz“.