Die Metamorphose der Kommunikation

© Foto: Welf Schröter

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Es war Alexander Kluge, der schon in seiner einschlägigen Edition „Chronik der Gefühle“ aus dem Jahr 2004 einen gut zu findenden Schlüsselsatz versteckte: „Die Kommunikation beruht auf Vertrauen, über das Ohr verknüpft.“ Er fügte hinzu: „Es funktioniert gegen alle Wahrscheinlichkeit.“

Wer vor mehr als einem Jahrzehnt – noch vor dem sich alsbald beschleunigenden Prozess der Informatisierung, Digitalisierung und Virtualisierung unserer Lebens- und Arbeitswelten – diese Aussage las oder hörte, fand schnell zu einem zustimmenden Kopfnicken. Heute aber sieht uns dieser Satz fremd, wenn nicht ver- und entfremdet an.Inzwischen hat der Einsatz der Informations- und Kommunikationstechniken den Kern dieser ohrbezogenen Analyse beinahe hinweggespült. An die Stelle der gleichzeitig-synchronen Kommunikation von Menschen zu Mensch ist inzwischen eine technisch reduzierte, zumeist asynchrone „Kommunikation“ von „Mensch zu Maschine“ und „Maschine zu Mensch“ geworden. Fachleute aus der Informatik und aus den Ingenieurwissenschaften bezeichnen einen zielgerichteten und strukturierten Datenaustausch nun als „Kommunikation“.

© Foto: Welf Schröter

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Der ganzheitlich kulturell-soziale Begriff Kommunikation, bei dem Menschen von Angesicht zu Angesicht, mit Worten, Gesten, Mimik, Augenkontakt und Körpersprache Botschaften austauschen, wird aus dem Zukunftsszenario „Industrie 4.0“ schrittweise ausgegrenzt. Statt nach Vertrauen in den Menschen fragen wir nach „Vertrauen“ in das IT-System. Der echtzeit-automatisierte, re-sychronisierte virtuelle Transaktionsraum will Daten durch Daten, Softbots durch Softbots, Maschinen durch Maschinen abprüfen lassen, um verlässliche Ergebnisse bzw. Befehle als „vertrauensvoll“ einordnen zu können, um die Bestätigung der Geschwindigkeit als Vertrauenssignal zu deuten.

Das Ohr im Klugeschen Sinne ist nicht mehr im Zentrum unserer Wahrnehmung. Im Hinblick auf unsere Medien- und Netznutzung stehen wir an der Schwelle zu einem gravierenden Wechsel: Bald wird die „Kommunikation“ im Netz mehrheitlich eine „Kommunikation“ zwischen Dingen, zwischen Geräten, zwischen materiellen und immateriell vorgespiegelten Gegenständlichkeiten sein.

In der zwischenmenschlichen Kommunikation vermittelt(e) die Sprache und die sie ergänzenden Ausdrucksformen den Vorschein, die Möglichkeit der Vertrauensbildung. Vertrauen wuchs durch sinnlich-körperliche Kommunikation. Die individuelle Identitätsarbeit für das Entstehen des eigenen Ichs realisierte sich vorwiegend entlang unseres kommunikationskulturellen Verhaltens. Der Sozialpsychologe Heiner Keupp spricht zu Recht von einer zu erreichenden Kohärenz: „Identitätsarbeit hat als Bedingung und als Ziel die Schaffung von Lebenskohärenz.“

Die paradigmatische Verschiebung des Schwerpunktes im öffentlichen Kommunikationsverständnis stellt nicht nur eine technische Herausforderung dar. Es ist vor allem ein ganzheitlich-kultureller Prozess, der die Erbschaft der bisherigen Errungenschaften humaner Sozialität in Frage stellt und das Unabgegoltene und Ungleichzeitige in der Ich-Werdung aufdeckt. Identität will in der Virtualität und aus der Virtualität entstehen. Die biografisch erworbene „Identitätskonstruktion“ (Keupp) konfrontiert sich mit dem virtuell modellierten Identitätsmanagement: „Biografisches Ich“ und „Virtuelles Ich“ (Schröter) beginnen sich zu polarisieren und fragmentieren die ungleichzeitige Identitätsarbeit. Das gesellschaftliche Werden und der Erwerb von solidarischer Sozialkompetenz stehen am Scheideweg angesichts der sich atomisierenden Identitäten im Netz.

Die zunehmenden Digitalisierungen von Arbeitswelten und Gesellschaft verlangen heute vor allem einen nichttechnisch ausgelegten Rückgriff auf unsere öffentlichen Emanzipationsmuster einer demokratischen Zivilgesellschaft. Lange war Blochs Diktum nicht so aktuell wie heute: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“ – Das „Wir“ gilt es zu betonen.

(Dies ist der 100. Beitrag im bloch-blog.)

 

Konstruktion und De-Konstruktion von Identität

(Foto: © Welf Schröter) Konfrontationen der Identität - Konfrontationen der Architektur

(Foto: © Welf Schröter) Konfrontationen der Identität – Konfrontationen der Architektur

Ist die Herausbildung von Identität „ein lebenslanger Prozess der Konstruktion und Revision von Selbstbildern“? Erreicht der Mensch „Identität“ oder bestenfalls „Identitäten“? – In einer modernen Welt soll und muss Identität widersprüchlich sein, soll und muss Identitätswechsel erlaubt sein. Identität ist somit formbar und veränderbar. Parallel zum arbeitsweltlich-philosophischen Diskurs über „Identität in der Virtualität“, bei dem Identitätsbildung aus der Digitalisierung und Virtualisierung von Industrie- und Dienstleistungsarbeit abgeleitet werden soll, gab die Staatliche Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart Impulse zur Identitätsdebatte aus künstlerischer und musikalischer Arbeitsperspektive. In ihrer Zeitschrift „Spektrum #23“ durchstreiften Schaffende unterschiedlichster Fachumgebungen ihren Alltag, um Identitätsstiftendes zu finden. Deren Lektüre regt zur konstruktiven Aufhebung an.

„Du wirst, was Du tust“, ruft es aus der tanzenden Musik. Identität ist nicht zwangsläufig vorhanden. Identität ist Werden, ist Prozess. Von Identität lässt sich nicht im Singular sprechen. Identität ist Vielheit, besser noch Vielfalt. Identität entsteht durch Offenheit, mehr noch durch Protest, durch Handeln.

Die Humanisierung der Identität wäre die Forderung nach komplexer Identität. Identität entsteht und wächst durch Differenz. Identität folgt der Konstruktion und De-Konstruktion.

Der Komponist Mauricio Kagel brachte einst das Wort von der „fragmentarischen Identität“ ein. Für Bloch steht hinter dem „Ich“ das Werden zum Wir. Die virtuelle Identität ist nur vordergründig ein „Ich“. Tatsächlich fügt sich das „Ich“ vom Vorgestern zum „Ich“ vom Gestern hinein in das „Ich“ vom Morgen als ungleichzeitiges „Wir“ des Jetzt. „Identität in der Virtualität“ heißt vordergründige Gleichzeitigkeit bei tatsächlicher Ungleichzeitigkeit.

Nicht umsonst rief der biblische Daniel den Engel Gabriel zu interpretierender Assistenz herbei, um zurückliegend Unabgegoltenes im Gesicht des Gegenwärtigen für den hörend Sehenden erkennbar zu machen: „Lege diesem das Gesicht aus, damit er’s versteht.“

 

L’Intelligence artificielle

(Foto: © Welf Schröter) Disorder

(Foto: © Welf Schröter) Disorder

Während in der Bundesrepublik das Jahr 2015 mit der tripartistischen Initiative „Zukunft der Industrie“ startet, griff die französische Tageszeitung Le Monde neue Technikutopien aus dem Feld der „Künstlichen Intelligenz“ auf. Während das Bundeswirtschaftsministerium, der Bundesverband der Deutschen Industrie und die Gewerkschaft IG Metall mit Hilfe von Digitalisierung und Virtualisierung entschlossen neue Wertschöpfungspotenziale und neue Wege des „job creating“ anvisierten, träumt Le Monde vom „communisme 2.0“. Die französischen Hoffnungen werden auf neue Maschinen mit künstlicher Intelligenz bzw. als l’intelligence artificielle gesetzt. Die klugen Maschinen bereiten eine Gesellschaft ohne Arbeit vor. Nicht die Kapitalismusanalyse eines Thomas Piketty – oder dessen Original aus dem 19. Jahrhundert – würde die Herrschaft bestehender Marktordnung erschüttern, sondern der Kapitalismus selbst werde seine intelligenten Maschinen nicht überleben.

Bis zum Jahr 2045 würden die Maschinen „Bewusstsein“ erhalten haben. Man werde Maschinen schaffen, die die Arbeiten besser erledigen können als der Mensch. Die virtuelle Welt von „Matrix“ lässt grüßen.

Tesla-Gründer Elon Musk brachte seine Erwartungen auf seine Weise auf den Punkt: „Die künstlichen Intelligenzen sind potenziell viel gefährlicher als die Nuklearwaffen.“

Unklar bleibt dabei, ob die beschriebenen klugen Maschinen die Vorstufe zu transhumanen Gebilden darstellen oder deren Weiterentwicklungen. Bisher galt als Ziel, dem Menschen Chips und andere intelligente Bauteile körperlich einzubinden, um dessen unbefristetes Leben zu ermöglichen.

Mit den französischen Träumen entfällt die zeitliche Verlängerung des körperlichen Menschen zugunsten der Aufrüstung der intelligenten Maschinen mit der Fähigkeit des selbstständigen Denkens und des sich autonom Bewußt-Werdens. Der neue „Kommunismus“ würde sich zudem auch dadurch selbst realisieren, weil die künstlichen Intelligenzen voraussichtlich das Geld als tägliches Waren- und Dienstleistungsäquivalent unnötig machen und somit abschaffen.

Nun gut, träumen darf man. Auch in Le Monde. Voilà!  

„Verhinderte, im Jetzt enthaltene Zukunft?“ (Bloch)

(Foto: © Welf Schröter)

(Foto: © Welf Schröter)

Die wachsenden Abstraktionen, Virtualisierungen, Komplexitäten, Beschleunigungen und neue Verzeitlichungen fordern Antworten für die Neuverortung des Menschen in einer sowohl evolutionär als auch revolutionär anmutenden globalisierten Vernetzung von Menschen, Dingen, Maschinen und Produkten heraus. Virtuelle und nicht-virtuelle Wirklichkeiten in den Geschäfts- und Arbeitsumgebungen greifen ineinander und erzeugen eine ganzheitlich wahrnehmbare Mischform der Arbeitswelt.Eines der zentralen wachsenden Zukunftsthemen für die Erwerbswelt ist das Entstehen, Sichern und Pflegen von Identität, von Identitätsstiftung aus virtuell-flüchtigen Arbeitsumgebungen. Darin liegt eine wesentliche gesellschaftspolitische Gestaltungsaufgabe. Für eine ökologische, soziale und gesellschaftliche Gestaltung dieses Veränderungsbündels bedarf es einer Erweiterung der bisher zur Verfügung stehenden Handlungskategorien. Eine neue Kategorie ist in der besonderen Hervorhebung einer ganzheitlich verstandenen Sicht der Identität des Individuums in die Perspektive und Praxis von „Industrie 4.0“ zu erkennen. Eine solche positive Aufhebung von Identität ist unabdingbar, um die Entfremdungsdynamiken in der Arbeit und von der Arbeit zu begrenzen und zu bändigen.

Was passiert mit dem menschlichen Subjekt im Spannungsgefüge von Realität und Virtualität, zwischen fiktiver Realität und realer Virtualität? Erleichtert dieses Spannungsgefüge die gesellschaftliche und individuelle Emanzipation oder stellt es ein wachsendes Hemmnis dar? Der Wandel der materiell schöpferischen Arbeit hin zu einer vermehrt immateriell schöpferischen Tätigkeit führt zur Erhöhung der Abstraktion und der Komplexität des Arbeitens. Virtuelle Arbeit erfährt ihren Wert und bringt als Ergebnis der Quantität von Kommunikationsarbeit und Vernetztheit „virtuelle Identität“ hervor. Das „biografische Ich“ verhält sich dabei zu seinem „virtuellen Ich“ ungleichzeitig.

Der Biokybernetiker Valentin Braitenberg (1926-2011) sah in der Erfindung des Computers die sachlich-analytische Antwort und Kritik an der nationalsozialistischen Vergewaltigung der Sprache und der Germanistik. Die Computerei war für Braitenberg, dem Maturana-Schüler, ein aufklärerisch-antitotalitärer und basisdemokratischer Handlungsansatz. Im Gespräch betonte er, dass die Menschen sich mit Hilfe der Rechner von ideologischen Verbrämungen selbst befreien könnten.

„Wenn Du die Welt verändern willst, gib den Menschen die passenden Werkzeuge in die Hand!“ (Sinngemäß zitiert aus den studentischen Forderungen des gesellschaftskritischen „Free Speech Movement“ in Berkeley, California im Jahr 1968). So lautete der Reflex der Protestbewegung der sechziger Jahre. Teile dieser Bewegung entwickelten deshalb die ersten Personal Computer und die passende Netz-Software.

Spiegelt sich mehr als vierzig Jahre danach Unangegoltenes und Uneingelöstes? Ist dies – heute betrachtet – in den Worten Blochs eine „verhinderte, im Jetzt enthaltene Zukunft“?

„Das letzte Wort im Hauptwerk ,Das Prinzip Hoffnung‘ heißt ,Heimat‘. Der Philosoph hofft, daß einmal der Tag kommt, an dem der Mensch seine Identität, seine Heimat finden wird.“ (Karola Bloch)

Entbirgt die Spannung zwischen „biografischem Ich“ und „virtuellem Ich“ ein neues Humanum? Eine endlich humane „Ich“-Identität in Richtung auf die – im Sinne Blochs – vor uns liegende Genesis?

 

Foucaults Sicherheitsdispositiv

Mathias Richter (Foto: © Welf Schröter)

Mathias Richter (Foto: © Welf Schröter)

Wird das Thema „Identität in der Virtualität“ in naher Zukunft an Bedeutung gewinnen? Schafft die wachsende Digitalisierung und Virtualisierung von Leben, Arbeit, Wirtschaft, Freizeit eine neue Ordnung des gesellschaftlichen Miteinanders? Mathias Richter, Journalist und Philosoph näherte sich diesen Fragen bei der Tagung „Arbeitswelt trifft Philosophie – Philosophie trifft Arbeitswelt“ auf seine Weise. Er nahm Bezug auf Michel Foucault und dessen analytischen Instrumentenkasten.Mathias Richter hob hervor, dass „sich nun moderne westliche Gesellschaften als eine Machtarchitektur beschreiben [lassen], in der Recht, Disziplin und Sicherheit die soziale Realität weitgehend strukturieren, wobei das Sicherheitsdispositiv als explizit moderne und damit jüngste Erscheinung auf den Plan tritt.“ Alle drei Dispositive beschreiben eine gesellschaftliche Regulierungsmechanik. Richter führte aus:

„In der Logik des Sicherheitsdispositivs beruht die Identität des Einzelnen schlicht auf der Tatsache von dessen Identifizierbarkeit. Eine Identität setzt sich aus der Summe der Informationen zusammen, die der Einzelne durch hinterlassene Datenspuren mehr oder weniger freiwillig bereitstellt. Aus der Kombination dieser Daten lässt sich entsprechend der jeweiligen Interessenlage ein mehr oder weniger detailliertes Profil einer Person erstellen. Darin besteht die neue Qualität eines IT-gestützten Sicherheitsdispositivs. Anders als beim Disziplinardispositiv, dem die Techniken der Überwachung dazu dienten, den Einzelnen einer gesellschaftlichen Norm zu unterwerfen und gegebenenfalls abweichendes Verhalten zu protokollieren, um ein zu sanktionierendes Subjekt zu identifizieren, ist es unter dem Primat des Sicherheitsdispositivs interessant, den Einzelnen gerade in seiner Einzigartigkeit, seiner Individualität zu erfassen. Ziel ist nicht mehr die Normierung seiner Handlungen, sondern deren Vorhersehbarkeit.“

Der Titel der Tagung „Identität in der Virtualität“ ergab einen weitreichenden Konsens, dass Digitalisierung und Virtualisierung zu einer Neuverortung des Subjekts, der Subjektivität und Identität führen. Das Individuum muss sich einen neuen Raum in der Gesellschaft erringen.

„Allen Machttechniken gemeinsam ist der Anspruch, eine komplexe gesellschaftliche Dynamik mit Hilfe der Verarbeitung und Strukturierung riesiger Datenmengen zu kontrollieren und möglichst zu beeinflussen. Das Sicherheitsdispositiv erhält unter den neuen technologischen Voraussetzungen der Überwachung eine neue Qualität: Denn es ist nicht mehr notwendig, den einzelnen qua panoptischer Kontrolle zu disziplinieren, es genügt, seine Handlungsoptionen zu kennen, um die eigenen Interessen damit zu koordinieren.“ (Richter)

 

Siehe auch: Mathias Richter: Identifizierbarkeit. Individualität und die Spielräume der Konstruktion von Identitäten im Zeitalter der Sicherheit. In: Welf Schröter (Hg.): Identität in der Virtualität. Einblicke in neue Arbeitswelten und „Industrie 4.0“.

Identität in der „virtuellen Lebenslage“

(Foto: © Welf Schröter)

Der Blick auf die Arbeitswelt zeigt neue Brüche. Im letzten Jahrhundert war der industrielle Arbeitsplatz vor allem von drei Faktoren geprägt: Arbeit hatte ihren Ort, Arbeit hatte ihre Zeit, Arbeit hatte ihre Verfasstheit. Die Einführung der Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) führte zu einer zunehmenden Flexibilisierung von Ort, Zeit und Verfasstheit von Arbeit. Rund zwei Jahrzehnte danach haben sich die sozialen und organisatorischen „neuen Infrastrukturen von Arbeit“ deutlich verändert: Arbeit und Arbeitsmengen sind nicht mehr an den Ort Betrieb gebunden, mehr und mehr Arbeitsvolumina wandern aus dem Ort Betrieb aus, das „Prinzip Betrieb“ bröckelt. Die materiellen und sozialen Interessen von Kernbelegschaften und „Freien“ driften auseinander.

Die Verfasstheit der betrieblichen Organisation und Mitbestimmung passen immer weniger zu den laufenden Veränderungen: Aus der Elektronisierung des Arbeitsplatzes und der Arbeitsabläufe im Betrieb wurde die Virtualisierung der Arbeitswelten.

Was passiert mit dem menschlichen Subjekt? Im Lebensgefühl, im persönlichen Befinden, in der sozialen Eingebundenheit , in der technischen Anwendungsumgebung und in den materiellen Interessen entsteht bei immer mehr Menschen eine veränderte Lebenslage, die nicht mehr identisch ist mit der abgegrenzten Rolle einer abhängig beschäftigten Person innerhalb eines Betriebes. Es kommt zum Wandel der Lebenslage: Entgrenzung der alten Arbeitswelt, Neuverortung in der digitalen Arbeitsgesellschaft, persönliche Neuorientierung und Notwendigkeit einer neuen Selbstvergewisserung. Die „Virtuelle Lebenslage“ wird zu einer bestimmenden Bedingung.

Was heißt bisher „Virtuelle Lebenslage“? Es ist zum einen der persönliche Datenschatten (Datenspur) im Netz, die personenbezogene Profilbildung durch Zusammenführen der Spuren, fremdgesteuerte „Identitäts“schaffungen durch Integration der Personen zugeordneten Social Media-Spuren, die Verknüpfung privater mit beruflichen Datenspuren, die Globalisierung und Entterritorialisierung der Datenspuren. „Das Netz vergisst nichts.“

Der Begriff „Identität“ läßt sich aber auf verschiedene Weise verstehen: als pädagogisch-didaktisch-erzieherisch-psychologisches Entwicklungsziel, als beruflich-inhaltliche Corporate Identity, als soziokulturelles Ergebnis, als technisch verstandenes Konstrukt von Rollen und Berechtigungen im Netz, als juristische Festlegung, als Mensch-Maschine-Interaktion, als personenbezogener Datensatz, als Datenbestandteil des Cyber-Physical-System.

Für die Diskussion sollte gelten, dass der Begriff „Identität“ nicht nur die technischen Rollen und Profile im Netz meint, sondern vor allem die ganzheitliche soziale und persönliche Lebenslage, die vollständige Subjektivität des Menschen. Es geht um die Rückeroberung eines ganzheitlichen Menschenbildes. Die Begriffe „Identität in der Virtualität“ und „Virtuelle Lebenslage“ ordnen sich sodann dem unter. Es geht um die Erlangung einer selbstbestimmten Lebenslage entgegen einer virtuell zu oft fremdbestimmten.

Die neue „Virtuelle Lebenslage“ mit ihrer Schein-Autonomie aber trägt Vergangenheit, das alte Leben, in sich und mit sich. Bedürfnisse und Hoffnungen, die im bisherigen Leben unerfüllt und unabgegolten blieben, suchen sich den Weg in die neue Umgebung. Alte Zeiten mischen sich in neue Zeitläufte. Die „Virtuelle Lebenslage“ ist in sich ungleichzeitig. Sie lässt noch immer die Sehnsucht nach einem humanen Menschen in sich keimen. Es ist die „Sehnsucht des Menschen, ein wirklicher Mensch zu werden“ (Karola Bloch).

Entgegenständlichung von Arbeit

Foto: © Welf Schröter

Im 19. Jahrhundert hatte sich ein kritischer Kopf namens Karl Marx mit der Bedeutung der Arbeit für den Menschen befasst. In deutlicher Klarheit schrieb er: „Das praktische Erzeugen einer gegenständlichen Welt, die Bearbeitung der unorganischen Natur ist die Bewährung des Menschen als eines bewußten Gattungswesens …“ Diesen noch engen Begriff von Arbeit begann Eberhard Braun, ein Schüler des Philosophen Ernst Bloch, mehr als hundert Jahre später in seinen „Grundrissen einer besseren Welt“ zu hinterfragen: „Was heißt hier Arbeit?“ Wie hängen materielle Bearbeitung der Natur und Bewußtseinsbildung zusammen?

Braun geht über Marx hinaus und sieht in der Arbeit die „Produktion eines bestimmten gesellschaftlichen Verhältnisses“. Braun sucht die gesellschaftliche Dimension, wenn er argumentiert: „Arbeit ist nicht nur Stoffwechsel, Aneignung der äußeren Natur, sie stellt nicht nur einzelne lebensnotwendige Produkte her; insofern sie dies tut, produziert sie zugleich auch ein bestimmtes gesellschaftliches Verhältnis, einen bestimmten historischen Lebenszusammenhang …“

Dieser Kernsatz Braun’schen Denkens lässt sich nun auf eine aktuelle Transformation des Charakters von Arbeit übertragen: Welche Lebenszusammenhänge, welche gesellschaftlichen Verkehrsformen wird die fortschreitende Dematerialisierung und Virtualisierung eines wachsenden Teiles der Erwerbsarbeit nach sich ziehen? Wie wirkt sich die zunehmende Entgegenständlichung von Arbeit auf die Identitätsbildung und die soziale Realität des Menschen heute aus?

Alte Bewußtseinsschichten mehrerer Generationen wirken in den heutigen arbeitenden Generationen fort. Das Herstellen eines materiellen Gegenstandes gibt dem schaffenden Individuum Genugtuung und Selbstbewußtsein. Nun aber in Zeiten von „Neuen Infrastrukturen der Arbeit“, von „Industrie 4.0“ und von „Cyber-Physical Systems“ wird die Genugtuung und das Selbstbewußtsein mehr und mehr aus virtuellen Arbeitsumgebungen erwachsen müssen. Die „gesellschaftlichen Verhältnisse“ beginnen, schrittweise auf dem Zusammenwachsen – auf der Konvergenz – von Materiellem und Virtuellem zu basieren. Die Produktionsformen sind im Umbruch. Aus der alten Gemeinschaft wird eine neue Sozialität entstehen. Atomisiert oder community-orientiert?

In diesen Zeiten der Ungleichzeitigkeiten wird das Denken Eberhard Brauns, seine politische Philosophie der Hoffnung, wieder aktuell.

Diskurs „SozialCharta Virtuelle Arbeit“

Foto: Schröter

Mit dem pluralistischen Diskurs um eine „SozialCharta Virtuelle Arbeit“ soll ein Blick in die nahe Zukunft der Arbeit geworfen werden. Dabei geht es gestalterisch um die Frage, „was wir heute anstoßen sollten, damit morgen verbesserte humane und soziale Arbeitswelten in der Informations- und Wissensgesellschaft möglich werden“. Deshalb befasst sich der Diskurs sowohl mit einer Vorausschau wie auch mit der Beschreibung dessen, was zukünftig sozial genannt wird.

Am Ende des offenen Diskurses, an dem sich Menschen unterschiedlicher weltanschaulicher Richtungen und unterschiedlicher Positionen aus Wirtschaft- und Arbeitszusammenhängen beteiligen, steht keine Musterlösung und keine Musterbetriebsvereinbarung. Es geht vielmehr um die Sammlung konsensfähiger Eckpunkte, die in betriebliche, tarifliche und gesellschaftliche Aushandlungsprozesse eingebracht werden können. Der Diskurs will widersprüchliche Interessen der um Einkommen bemühten Berufstätigen aufgreifen, kontrovers beraten und Gemeinsamkeiten herausarbeiten.

Der Diskurs bezieht sich auf Erfahrungen und Kenntnisse, die aus der ehrenamtlichen Arbeit des seit zwanzig Jahren aktiven Personennetzwerkes Forum Soziale Technikgestaltung gesammelt wurden. Zugleich ist der Diskurs eine Art Werkstatt-Blitzlichtaufnahme, der auch seine Grundannahmen hinterfragt und immer wieder an neue Erfahrungen anpasst.

Die einfließenden Meinungen kommen von Betriebsräten, Personalräten, Beschäftigten, Angestellten, Wissenschaftler/innen, Erwerbssuchenden, Selbstständigen, Werkverträgler/innen, Gewerkschafter/innen, unternehmerisch Handelnden, Forschenden, Verbandsvertreter/innen, politisch Aktiven, CLOUDwerkern, Netznomaden, Cybernauten und Neulingen. Alle demokratisch denkenden Menschen, die hart in der Sache und freundlich im Umgang debattieren wollen, sind willkommen. Kontakt: schroeter@talheimer.de

„Industrie 4.0“ als Janusgesicht der Arbeitswelt

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Seit den neunziger Jahren wird die Arbeits- und Erwerbswelt durch den voranschreitenden Einsatz neuer Informations- und Kommunikationstechnik geprägt. Durch die technisch bedingte Möglichkeit, den Orts- und Zeitbezug von Arbeit schrittweise zu lockern, nimmt die Verlagerung von Arbeits- und Geschäftsprozessen in den virtuellen Raum stetig zu. Seit nunmehr fast zwei Jahrzehnten vollzieht sich der Prozess der „Virtualisierung der Arbeit“. Nach den einfachen Anfängen in Gestalt von alternierender Telearbeit stehen heute die Virtualisierungen und Automatisierungen komplexer Abläufe im Netz an. Seit langem spricht das Forum Soziale Technikgestaltung von „Neuen Infrastrukturen der Arbeit“, die es partizipativ energisch sozial zu gestalten gelte.

Unter dem Konzept „Industrie 4.0“, das in der Automobil- und in der Chemiebranche samt Zuliefererketten pilotiert wird, versteht man die weitreichende Digitalisierung, Virtualisierung und Neuorganisation von Produktionsabläufen. Dabei wird die „digitale Fabrik“ selbst zum Produkt. Das Konzept „Industrie 4.0“ hat drei Gesichter: Es entfesselt einen erheblichen Rationalisierungsgrad, es bildet die strategische Grundlage für den Industriestandort im globalen Wettbewerb und es eröffnet gute Chancen für die Neugestaltung der Arbeit im Sinne der Humanisierung.

Der IT-Verbund von IT-Entwicklungs- und IT-Anwendungsunternehmen hat sich eine Utopie von „Industrie 4.0“ erarbeitet. Darin heißt es:

„Es sind also nicht allein neue technische, wirtschaftliche und rechtliche Aspekte, die die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands in Zukunft bestimmen, sondern auch neue soziale Infrastrukturen der Arbeit in Industrie 4.0, die eine sehr viel stärkere strukturelle Einbindung der Beschäftigten in Innovationsprozesse sicherstellen können. Eine wesentliche Rolle wird dabei der durch Industrie 4.0 einsetzende Paradigmenwechsel in der Mensch-Technik- und Mensch-Umgebungs-Interaktion spielen, mit neuen Formen der kollaborativen Fabrikarbeit in virtuell mobilen Arbeitswelten, der nicht zwangsläufig in der Fabrik stattfinden muss. Intelligente Assistenzsysteme mit multimodalen und bedienungsfreundlichen Benutzerschnittstellen werden die Beschäftigten in ihrer Arbeit unterstützen. Entscheidend für eine erfolgreiche Veränderung, die durch die Beschäftigten positiv bewertet wird, sind neben umfassenden Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen die Organisations- und Gestaltungsmodelle von Arbeit. Dies sollten Modelle sein, die ein hohes Maß an selbstverantwortlicher Autonomie mit dezentralen Führungs- und Steuerungsformen kombinieren. Den Beschäftigten sollten erweiterte Entscheidungs- und Beteiligungsspielräume sowie Möglichkeiten zur Belastungsregulation zugestanden werden.“ (BITKOM und acatech)

Philosophie trifft Arbeitswelt

Foto: Schröter

Was heißt Identität? Was bedeutet sie angesichts der Zunahme virtueller Arbeits- und Berufsumgebungen? Dieser Frage gingen Interessierte aus Philosophie, Pädagogik und Arbeitswelt nach. Unter dem Titel „Identität in der Virtualität“ kamen auf Einladung des Forum Soziale Technikgestaltung, der Ernst-Bloch-Gesellschaft und des Ernst-Bloch-Zentrums DiskurspartnerInnen in Ludwigshafen zusammen.

Was passiert mit dem menschlichen Subjekt im Spannungsgefüge von Realität und Virtualität, zwischen fiktiver Realität und realer Virtualität, von Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit? Erleichtert dieses Spannungsgefüge die gesellschaftliche und individuelle Emanzipation oder stellt es ein wachsendes Hemmnis dar?

Eines der zentralen wachsenden Zukunftsthemen für die Erwerbswelt ist das Entstehen, Sichern und Pflegen von Identität, von Identitätsstiftung aus virtuell-flüchtigen Arbeitsumgebungen. Betriebe, Verwaltungen und Beschäftigte sehen sich einer Überlappung und eines Zusammenwachsens real-materieller und virtuell-immaterieller Entwicklungen gegenüber. Virtuelle und nicht-virtuelle Wirklichkeiten in den Geschäfts- und Arbeitsumgebungen greifen ineinander und erzeugen eine ganzheitlich wahrnehmbare Mischform der Arbeitswelt. Orts- und zeitbezogene Arbeitswelten werden vom Trend zur Entortung und Entzeitlichung der Geschäftsabläufe durchdrungen.

Erforderlich ist eine veränderte Definition von Freiheit im Netz. Der technikgetriebenen Aussage „Wer bin ich im Netz und wieviele?“ muss ein nutzergesteuertes Identitätsmanagement gegenübergestellt werden, das es Individuen erlaubt, in konzeptionell geplanter Weise die eigene Identität im Netz („Virtuelles Ich“) aufzubauen und zu pflegen. Nutzerinnen und Nutzer benötigen die Freiheit des Irrtums und der Korrektur. Dazu ist eine rechtlich abgesicherte Kultur der Anwendungen von Pseudonymen und Anonymisierungsinstrumenten unabdingbar.

Im „biografischen Ich“ wirken die Ichs der Vergangenheit ungleichzeitig nach. Das gegenwärtige „biografische Ich“ ist ein ungleichzeitiges „Wir“ (Mehrfach-Ich). Das „virtuelle Ich“ ist zumeist die formale Verknüpfung von gegenwärtigen und zurückliegenden Einzeldaten bezüglich des „biografischen Ichs“. Es bildet ein „virtuelles Ich“ als gleichzeitiges „Wir“ (Mehrfach-Ich). Das „virtuelle Ich“ ist zunächst nur ein Objekt verschiedener Such- und Verknüpfungsmaschinen, bevor es nach technischer Optimierung und Automatisierung (z.B. durch Softwareagenten) beginnt, eine relative Autonomie zu erlangen.

Das „biografische Ich“ verhält sich zu seinem „virtuellen Ich“ ungleichzeitig.