Jugendliche Tagträume der Moderne

Foto: © Welf Schröter

„Entscheidend sind die Ideen und Vorstellungen, die offene Neugierde auf die Innovationen der Moderne sowie der Mut, das Gebiet der Moderne zu betreten. Ein Gebiet, das in Deutschland – besonders nach der demütigenden Niederlage im Ersten Weltkrieg – von mächtigen Gegnern bekämpft wurde.“ Mit diesen Worten beschrieb im Jahr 2009 Jan Robert Bloch die Geschehnisse in der kleinen schwäbischen Gemeinde Mössingen in der Zeit zwischen 1925 und 1936.

Im „roten Mössingen“, wie der Ort damals wegen seiner zahlreichen Unterstützer von KPD und SPD genannt wurde, vermischten sich die Anti-Kriegs-Lebenserfahrungen der Teilnehmer des Ersten Weltkrieges mit den aufbrechenden gegenkulturellen Hoffnungen junger Mössinger, die aus dem verstockten religiös-wilhelminischen Geist ausbrechen und neue Lebenskonzepte erkunden wollten. Selbstbestimmtheit und die Entfaltung eines neuen offenen kulturellen Milieus schafften Raum für einen Tagtraum der „Moderne“.

Diese Moderne, die sich vor Ort mit dem Bauhaus-Netzwerk der jüdischen Unternehmer Artur und Felix Löwenstein verband, trug dazu bei, dass junge Frauen und Männer in Bewegung kamen für Demokratie und gegen die Kriegsgefahr. Am 31. Januar 1933 demonstrierten in dem 4.000-Einwohner-Ort Mössingen 800 Menschen gegen die Machtübergabe an Hitler. Der „Mössinger Generalstreik“ – der einzige im ganzen Reich – ließ die Menschen aufrecht gehen. Für sie war der Nationalsozialismus das Gegenteil der Moderne, das Gegenteil ihrer jugendlichen Lebenssehnsüchte. Sie wollten frei ihren Weg wählen.

Das Ringen um die Moderne wurde in Mössingen verloren. Mehr als 90 Generalstreikende kamen in Haft, ins Zuchthaus, ins KZ. Die jüdischen Unternehmer wurden drei Jahre später enteignet und vertrieben. Das Bauhaus war zuvor in Berlin geschlossen worden.

An die unabgegoltenen Tagträume von damals, an die Sehnsucht und die ungleichzeitigen Hoffnungen von einst erinnert heute ein Diskurs, der vor allem eines will: den Mut der damals Handelnden würdigen.

Autonomie und Freiheit

Nancy Fraser (Foto: © Welf Schröter)

Ist die Forderung nach einer existenzialistisch begründeten Autonomie des Individuums in unseren gegenwärtigen Gesellschaften eine ausreichende Anforderung an Veränderung? – Gegen diese Sicht ergriff Nancy Fraser, amerikanische Philosophin, freundlich aber bestimmt Partei gegen André Gorz. „Not sufficient, nicht ausreichend“ sei diese Position. Als Anhängerin von Herbert Marcuse wollte Fraser das Thema soziale Gerechtigkeit, die Forderung nach „equal freedom“ ebenso berücksichtigt wissen. Autonomie an sich sei noch kein Motor für „transitorische Reformen“ (Fraser). Doch Gorzens Traum der Emanzipation des Menschen könne sie viel abgewinnen.

Die theoretischen Provokationen von André Gorz gipfelten in der frühen Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen. Er war ein Schüler Jean-Paul Sartres und hatte sich doch mit ihm überworfen: André Gorz (1923-2007), existenzialistischer Marxinterpret und politischer Ökologe, der die Neue Linke Europas 1980 mit seinen Thesen des „Abschieds vom Proletariat“ zu recht herausforderte und der 1983 „Wege ins Paradies“ pointierte. Aus Anlass seines fünften Todestages kamen am 16. November 2012 in Potsdam auf Einladung der Heinrich-Böll-Stiftung Brandenburg und der Ernst-Bloch-Gesellschaft zur Tagung „Paradise now“ rund einhundert Gorz-Freunde und Gorz-KritikerInnen zusammen.

Gorz legte einen neuen Arbeitsbegriff seinem Denken zugrunde und verlangte eine Umverteilung von Arbeit für neue gesellschaftliche Zeitstrukturen sowie mehr individuelle Eigenzeit. Doch er blieb dabei den Grundkategorien der Kulturen industrieller abhängiger Erwerbstätigkeit verhaftet. Die Entgrenzung der Arbeit durch die heraufziehende Informatisierung der Arbeit unterschätzte er. André Gorz war ein wichtiger Wegbereiter für ein unabhängiges emanzipationsorientiertes Denken. Seine Herkunft aus einem jüdischen Elternhaus und das Erleben der Schrecken von Nazismus und Antisemitismus begründeten zugleich sein stetes Bedürfnis nach einer „authentischen Existenz“.

 

Von der Ent-Betrieblichung der Arbeit zur Ent-Betrieblichung der Betriebe

Foto: © Welf Schröter

Erneut hat ein hochkarätig besetzter „IT-Gipfel“ der Bundesregierung den Stellenwert der dynamischen Informations- und Kommunikationstechnologien unterstrichen. In der „Essener Erklärung“ vom 14. November 2012 werden die Ziele eines noch immer vor allem technikzentrierten Ausbaus der IT formuliert. Versteckt aber leicht zu finden ist in der Verlautbarung auch eine Aussage, die vorsichtig andeutet, welche Folgen unausgesprochen impliziert sind: „Digitale Technologien bewirken einen tief greifenden Wandel der Wirtschaft und der industriellen Prozesse.“

Nähert man sich diesem nur scheinbar allgemeinen Satz empirisch und analytisch, so stellt sich heraus, dass wir es hinter dem Rücken der Beteiligten mit einem sehr weit reichenden Umbauvorgang zu tun haben. Der in Gang gekommene Prozess der Ent-Betrieblichung der Arbeit berührt die verfassten Grundlagen traditioneller Unternehmensvorstellungen: Die langsame Ent-Betrieblichung der Betriebe durch eine sich beschleunigende Virtualisierung. War früher der Betrieb als Ort der Arbeit und der abhängigen Beschäftigung der Hort erlebter Gleichzeitigkeit und sozialer Sozialisation, so lässt sich heute erkennen, dass immer mehr Arbeitvolumina aus dem verfassten Ort Betrieb auf Dauer auswandern und sich jenseits des „Prinzips Betrieb“ ungleichzeitig erlebt aufhalten. Die neuen labilen Milieus lassen sich mit Begriffen wie „Industrie 4.0“, „Smart Factory“ oder „Crowd Sourcing“ nur annähernd beschreiben.

Die Dezentralisierungstendenzen alter tradierter Wirtschaftsorganisationen erhöhen die Gefahren der Individualisierung und Atomisierung von Beschäftigung. Der „Industrie 4.0“ wird eine sich verstärkende „Entfremdung 4.0“ folgen, wenn diese zentrifugalen Vorgänge mit ihren Implosionen erlebter Vertrautheiten die soziale Tragekraft einer Zivilgesellschaft überbelasten. Der durch IT-Einsatz erzeugte Wandel der Arbeits- und Erwerbswelt ist nicht primär eine Frage in den Händen technischer Expertise sondern eine Schlüsselherausforderung unserer Gesellschaft.

Der nächste „IT-Gipfel“ sollte als Leitmotive die Begriffe „Soziale Kohäsion“, „Differenz“, „Entfremdung“, „Ungleichzeitigkeit“ und „Diversity“ aufgreifen. Dann könnte man melden: „Die zivilgesellschaftlichen Impulse bewirken einen tief greifenden Wandel der IT-Technik.“

Das „Noch-Nicht“ der Arbeit

Eugen Rosenstock-Huessy und Ernst Bloch hatten ein großes, teilweise gemeinsames Thema: Es ist das Werden der Welt, das Werden der Arbeit des Menschen und somit das Werden des Menschen, das „Noch-Nicht“. Ähnlich wie Bloch in „Prinzip Hoffnung“ tendenzkundig die Genesis als kommendes Ergebnis des gesellschaftlichen Werdens des Menschen erkennt, sieht Rosenstock-Huessy – auf den Schultern Kants – perspektivisch im „Dritten Jahrtausend“ das Heraustreten des Menschen aus der „Finsternis“. Im dritten Band der „Soziologie“ (Eugen Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit. Eine nach-goethische Soziologie. Talheimer Ausgabe) geht der Autor erneut auf sein Leitthema ein: „Die Dritte-Jahrtausend-Ordnung der Gesellschaft hat also das Rätsel der Hohen Zeit und des Alltages zu ergründen. Und zwar ist das Neue gegenüber alten Hochzeiten eine veränderte Zeitmessung. In ein einziges Menschenleben werden heute die Wechsel von drei und vier Generationen alter Zeit hineingepresst. Diese Vervielfältigung der Lagen macht jede Lage heute zu etwas anderem als früher. In jeden Lebenstunnel, in den wir einfahren, nehmen wir heute das Bewußtsein der Ausfahrt am anderen Ende, also der Kündigung, der Scheidung, des Abschieds mit.“

Die Ungleichzeitigkeiten sozialer Entwicklungen zeigen sich unter anderem in dem sich wandelnden Verständnis von „Arbeit“ und „Zeit“. Wie nimmt der Mensch die Unabgegoltenheit öffentlicher Tagträume in seinem persönlichen Alltag wahr? Welchen Gestaltungsraum kann er sich emanzipatorisch erschließen?

Nun beginnt ein mutiges Projekt verschiedner Partner, die sich im Frühjahr 2013 in der Evangelischen Akademie Bad Boll treffen wollen, um der Lösung dieser gesellschaftlichen Rätsel näher zu kommen (http://bloch-blog.de/wp-content/uploads/2012/11/Flyer-Arbeit-und-Zeit-2013.pdf). Es geht um die „Anstrengung des Begriffs“, um ein gemeinsames Nachdenken, nicht frei von dialektisch Thesenhaftem. Möge der Ort, an dem sich Rosenstock-Huessy und Bloch zu unterschiedlichen Zeiten aufhielten, den Diskurs anregen: „Ich bitte Sie zu beginnen“ (Ernst Bloch).

In rebellischem Unfrieden

Foto: © Welf Schröter

Er hatte die Musik für die Trauerfeier von Herbert Marcuse geschrieben, hatte Rudi Dutschke und dessen Familie nach dem Attentat 1968 aufgenommen und in seinem Haus in Italien beherbergt, gehörte zur Anti-Vietnamkriegs-Bewegung und war sein Leben lang in rebellischem Unfrieden mit den Deutschen und ihrer Geschichte geblieben. In den fünfziger Jahren verließ er demonstrativ Deutschland, in dem er vor allem einen Hort von Nazi-Mördern erkennen wollte. Der Komponist Hans Werner Henze starb Ende Oktober 2012 in Dresden im Alter von 86 Jahren.

Im Jahr 1965 begegnete er Ernst Bloch. Zu seinen Freunden konnte er den Komponisten Karl Amadeus Hartmann zählen, der als Reaktion auf den Überfall Hitlerdeutschlands auf Polen das großartige „Concerto funèbre“ mit dem „Choral“ schrieb. Hartmann wurde im Nazi-Reich als „entartet“ diskriminiert. Henzes politische Ästhetik, sein Verständnis der sozialen Bedeutung von Musik und sein gesellschaftspolitisches Engagement haben ihm in der deutschen Gesellschaft viele Gegner und Feinde gebracht. Seine Parteilichkeit für Benachteiligte – man denke an seine Arbeit zu Metallarbeiterstreiks – und seine ungewöhnliche Kreativität verband ihn mit seinem Freund Paul Dessau und auch mit Bert Brecht, den er kennenlernte. Max Nyffeler von der NZZ fand die richtigen Worte: „ … ,musica impura‘ im Sinne von Nerudas ,poesia impura‘, gesättigt mit den Unreinheiten und Widersprüchen des realen Lebens“.