Das „Alte Herkommen“

Manchmal kommt es vor, dass ein lesender Kopf neugierig in den Bann eines Begriffes gezogen wird. Es scheint, als ob Worte beginnen, Geschichten zu erzählen. Der erste Blick löst Gedanken aus und aktualisiert Erinnerungen. Vergangenes kommt zurück. Das eigene Selbst sucht nach Offenem, nach Uneingelöstem.

(Foto: © Welf Schröter)

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Das „Alte Herkommen“ ist ein solches Wort. Das erste Lesen assoziiert zu „Herkommen“ umgangssprachlich den Begriff „Herkunft“. Doch halt! Die Worte sind vielschichtig und tragen verschiedene Zeiten in sich.

Vor 500 Jahren beschrieb das „Alte Herkommen“ die sozialen und wirtschaftlichen Gewohnheitsrechte der armen Bauern. „Altes Herkommen“ bemaß das Recht, Holz im Wald des herrschenden Adels zu schlagen, um selbst in der bäuerlichen Hütte den Winter warm zu überdauern. Das „Alte Herkommen“ galt als alter verlässlicher Brauch, der Rechte regelte.

Als nun Grafen und Herzöge den Bauern das Recht, Holz zu sammeln, wegnahmen, ihnen ihr angestammtes „Altes Herkommen“ entrissen, erhoben sich die Untertanen aus prekärer Lage zum Widerstand. Sie fanden sich unter dem Leitmotiv „Armer Konrad“ zusammen.

Der Bruch des vereinbarten „Alten Herkommens“ durch die Herren löste Verelendung, Kälte und Armut aus. Bäuerlicher Untertan zu sein, wurde nun zugleich Zeichen der Herkunft des „gemeinen Mannes“.

Heute birgt das Wort „Altes Herkommen“ ungleichzeitige Erbschaften in sich. Es erinnert an bäuerlich-aufständische Freiheitshoffnungen der Jahre 1514 und 1525 im Herzogtum Württemberg. Zugleich beleuchtet es die Niederschlagung der demokratischen Bewegung durch Burgherren und städtische Patrizier.

450 Jahre später ließ sich Ernst Bloch zu dem Kommentar hinreißen: „Die Enkel fechtens besser aus!“

 

Die Bewegung des „Armen Konrad“

(Foto: © Welf Schröter)

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Es war ein Bauernaufstand im Sommer des Jahres 1514, der dem großen Bauernkrieg 1525 im Südwesten vorausging. Unter der Chiffre „Armer Konrad“ rebellierten im Herzogtum Württemberg darbende Bauern gegen die adelige Obrigkeit. Die Bewegung des „Armen Konrad“ verlangte erst Essen gegen den Hunger, dann Gerechtigkeit. Als die Grafen und Herzöge dies verweigerten, wollten die Bauern aus dem Remstal und aus dem Böblinger Raum den Sturz der Herrschaft. Mit Gewalt, Folter und Gerichten wurde der Aufstand niedergemacht.

Fünfhundert Jahre später erinnern Bürgerinnen und Bürger der kleinen Gemeinde Glashütte nahe der schwäbischen Gemeinde Waldenbuch an jene Aufständischen, die als Glashütter Bauern des „Armen Konrad“ von der Justiz des Adels umgebracht wurden.

Aus der Perspektive der Rebellen beschreiben heute Bürgerinnen und Bürger die aufrührerische Geschichte ihres Ortes. Ein öffentlicher Platz wurde vom Gemeinderat in Respekt vor den demokratischen Bauern von einst in „Platz des Armen Konrad“ benannt. Dort steht ein Schild mit besonderer Aufschrift:

„Peter Wolff, Bernhard Wolff, Caspar Schmid und Peter Koch aus Glashütte, dazu Hans Schmeck aus Waldenbuch und Jörg Legolo aus Stuttgart starben als Teilnehmer am Bauernaufstand Armer Konrad durch das Schwert auf der Hauptstätte zu Stuttgart am 9. August 1514. Sie waren ihrem Traum von der besseren Gerechtigkeit gefolgt.“

(Foto: © Welf Schröter)

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In der Bewegung des „Armen Konrad“ hatten sich gleichwohl auch Frauen organisiert: „Sie zihet ihre Stiffel an und rüstet sich gleich wie ein Mann.“

Wie rief doch vor Jahren der Philosoph Ernst Bloch energisch von der Kanzel: „Wohlan, ich will aufrührerisch sein!“

 

„Fryheit!“

(Foto: © Welf Schröter)

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Es waren die Jahre um 1525. Die Bauern erhoben sich im Südwesten. Sie träumten den öffentlichen Tagtraum der Befreiung vom Adelsjoch, von der Selbstbefreiung durch Revolten gegen Herzöge und Adelige. Sie wollten die Versprechungen der Lutherischen Religionskritik einfordern. „Fryheit!“ rief Thomas Münzer.

Je länger man aber auf ein Wort schaut, desto fremder schaut es zurück. Blicken wir auf den Begriff „Freiheit“. Heute sagt uns das Wort, dass verfassungstextlich gedacht, die Bürgerinnen und Bürger Freiheit des Wortes genießen und vor dem Gesetz gleich sind. Die Verfassungswirklichkeit bringt uns andere Sichtweisen nahe. Dem „niederen Stand“ fehlt noch heute die soziale Freiheit.

Vor 500 Jahren erhoben sich die Patrizier und Bürgerlichen der Städte, allen voran Tübingen. Sie boten den Herren Unterstützung gegen die aufmüpfigen Bauern in Böblingen, im Remstal und in Oberschwaben an. Als Preis forderten sie Privilegien und Standesrechte zu ihrer eigenen Absicherung gegenüber dem Lehnsherrn.

Als am 8. Juli 1514 der besagte „Tübinger Vertrag“ zustande kam, um diese Hilfeleistung zu belohnen, hatten die Stadtherren  Freiheitsrechte für sich errungen. Die „Fryheit“ der Bauern aber wurde geopfert. Sie wurden nieder gemacht.

So ringen heute in Tübingen und Umgebung jene klugen Köpfe, die den „Tübinger Vertrag“ als Zähmung des Landesherren und Beitrag zur Freiheit beschreiben, mit jenen, die – frei nach Konrad Wolf – den „Armen Konrad“ als wahren Freiheits-Freischärler aufwerten wollen. Das Theater Lindenhof sieht sich auf den Spuren Konrads.

Wie aber ist es möglich, dass in einer Stadt, in der sechzehn Jahre lang ein politischer Philosoph von Rang und Theoretiker gesellschaftlicher Emanzipation lebte, in diesem Disput nicht zur Geltung kommt. „Die Enkel fechtens besser aus“ donnerte einst Ernst Bloch, der an einem 8. Juli geboren wurde. Der Blick zurück gleicht manchmal einem Dauerblick auf ein Wort, das immer fremder wird.

Für Ernst Bloch war Münzer ein „Theologe der Revolution“, ein „Rebell in Christo“, der das Freiheitsreich Gottes auf Erden verfestigen wollte. Bloch blickte auf die „Fryheit“ des unteren Standes, weniger auf die „Freiheit“ des Patriziats. Im „Armen Konrad“ zeigte sich schon der spätere Citoyen vor der Bastille.

Und Ernst Bloch? Er veränderte die Perspektive. Nicht der Blick aus dem Rathausfenster erschließt die Wirklichkeit. Erst der Blick von unten zeigt die Achse für die notwendige „Drehung“ und Wendung. Doch es war der folgende, von Ernst Bloch aufgegriffene und weitergetragene Satz zur Erinnerung an die Erbschaft der Bauernkriege, der vor Jahren das Tübinger Pflaster bewegte: „Unsere Herren machen es selber, daß der gemeine Mann ihnen feind wird.“