Identität in der „virtuellen Lebenslage“

(Foto: © Welf Schröter)

Der Blick auf die Arbeitswelt zeigt neue Brüche. Im letzten Jahrhundert war der industrielle Arbeitsplatz vor allem von drei Faktoren geprägt: Arbeit hatte ihren Ort, Arbeit hatte ihre Zeit, Arbeit hatte ihre Verfasstheit. Die Einführung der Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) führte zu einer zunehmenden Flexibilisierung von Ort, Zeit und Verfasstheit von Arbeit. Rund zwei Jahrzehnte danach haben sich die sozialen und organisatorischen „neuen Infrastrukturen von Arbeit“ deutlich verändert: Arbeit und Arbeitsmengen sind nicht mehr an den Ort Betrieb gebunden, mehr und mehr Arbeitsvolumina wandern aus dem Ort Betrieb aus, das „Prinzip Betrieb“ bröckelt. Die materiellen und sozialen Interessen von Kernbelegschaften und „Freien“ driften auseinander.

Die Verfasstheit der betrieblichen Organisation und Mitbestimmung passen immer weniger zu den laufenden Veränderungen: Aus der Elektronisierung des Arbeitsplatzes und der Arbeitsabläufe im Betrieb wurde die Virtualisierung der Arbeitswelten.

Was passiert mit dem menschlichen Subjekt? Im Lebensgefühl, im persönlichen Befinden, in der sozialen Eingebundenheit , in der technischen Anwendungsumgebung und in den materiellen Interessen entsteht bei immer mehr Menschen eine veränderte Lebenslage, die nicht mehr identisch ist mit der abgegrenzten Rolle einer abhängig beschäftigten Person innerhalb eines Betriebes. Es kommt zum Wandel der Lebenslage: Entgrenzung der alten Arbeitswelt, Neuverortung in der digitalen Arbeitsgesellschaft, persönliche Neuorientierung und Notwendigkeit einer neuen Selbstvergewisserung. Die „Virtuelle Lebenslage“ wird zu einer bestimmenden Bedingung.

Was heißt bisher „Virtuelle Lebenslage“? Es ist zum einen der persönliche Datenschatten (Datenspur) im Netz, die personenbezogene Profilbildung durch Zusammenführen der Spuren, fremdgesteuerte „Identitäts“schaffungen durch Integration der Personen zugeordneten Social Media-Spuren, die Verknüpfung privater mit beruflichen Datenspuren, die Globalisierung und Entterritorialisierung der Datenspuren. „Das Netz vergisst nichts.“

Der Begriff „Identität“ läßt sich aber auf verschiedene Weise verstehen: als pädagogisch-didaktisch-erzieherisch-psychologisches Entwicklungsziel, als beruflich-inhaltliche Corporate Identity, als soziokulturelles Ergebnis, als technisch verstandenes Konstrukt von Rollen und Berechtigungen im Netz, als juristische Festlegung, als Mensch-Maschine-Interaktion, als personenbezogener Datensatz, als Datenbestandteil des Cyber-Physical-System.

Für die Diskussion sollte gelten, dass der Begriff „Identität“ nicht nur die technischen Rollen und Profile im Netz meint, sondern vor allem die ganzheitliche soziale und persönliche Lebenslage, die vollständige Subjektivität des Menschen. Es geht um die Rückeroberung eines ganzheitlichen Menschenbildes. Die Begriffe „Identität in der Virtualität“ und „Virtuelle Lebenslage“ ordnen sich sodann dem unter. Es geht um die Erlangung einer selbstbestimmten Lebenslage entgegen einer virtuell zu oft fremdbestimmten.

Die neue „Virtuelle Lebenslage“ mit ihrer Schein-Autonomie aber trägt Vergangenheit, das alte Leben, in sich und mit sich. Bedürfnisse und Hoffnungen, die im bisherigen Leben unerfüllt und unabgegolten blieben, suchen sich den Weg in die neue Umgebung. Alte Zeiten mischen sich in neue Zeitläufte. Die „Virtuelle Lebenslage“ ist in sich ungleichzeitig. Sie lässt noch immer die Sehnsucht nach einem humanen Menschen in sich keimen. Es ist die „Sehnsucht des Menschen, ein wirklicher Mensch zu werden“ (Karola Bloch).