Cardenal mit Bloch

IMG_1070Ein „utopischer Stern“ habe die beiden Nachdenklichen verbunden, schrieb Karola Bloch im Januar 1981 über Ernesto Cardenal und Ernst Bloch, als die „Architektin des Lebens“ – so die chilenische Künstlerin Margerita Pastene über die Bauhaus-Anhängerin – von ihrer Reise nach Mittelamerika und ihrem Aufenthalt im nicaraguanischen Managua zurückgekehrt war.

Cardenal, der „Theologe der Befreiung“, der die Tagträume eines sozial engagierten Christentums mit den Ansätzen eines antiautoritären Marxismus zu verknüpfen suchte, der aus der Katholischen Kirche exkommuniziert wurde, war damals Kulturminister in der neuen Regierung der FSLN nach dem gewaltsamen Sturz des früheren Diktators Somoza.

Monate vor dem Eintreffen in der Hauptstadt der Sandinisten hatte Karola Bloch Ernesto Cardenal bei dessen Besuch in Tübingen kennengelernt.

Bei einer öffentlichen Ansprache gab Karola Bloch in dem mit sich ringenden Land am Rande des Pazifik hintergründig weitsichtig der Regierung Nicaraguas eine politische Haltungsperspektive Rosa Luxemburgs als Leitmotiv mit auf den weiteren Weg: „Freiheit nur für die Anhänger der Regierung und für die Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer die Freiheit des anders Denkenden.“ Der kritische Impuls hat wohl nicht nachhaltig getragen. Ernesto Cardenal brach 1986 mit der FSLN.

Zwei Tage vor der 110. Wiederkehr des Geburtstages von Karola Bloch am 22. Januar konnte Ernesto Cardenal am 20. Januar seinen eigenen 90. Geburtstag feiern. Als Kulturschaffender des Wortes, als Schriftsteller und Lyriker blieb und bleibt er sich bis heute in der Rolle des Mahnenden aus Solentiname treu, wenn auch in der Sprache der Poesie. Felicitaciones!

 

Entfremdung und Aufhebung

Hegelinschrift an der Außenfassade des Hauptbahnhof Stuttgart (Foto: © Welf Schröter)

Hegelinschrift an der Außenfassade des Hauptbahnhof Stuttgart (Foto: © Welf Schröter)

Philosophische Annäherungen an den Arbeitsbegriff – Ein Beitrag von Matthias Mayer

In Ansehung philosophie-geschichtlicher Kontextualisierung ist Hegels Versuch einer Definition der Arbeit (die vorher kaum Gegenstand philosophischer Reflexion war) als eine Rechtfertigung zu verstehen. Rechtfertigung wofür? – der produzierenden und kommerzialisierenden Bourgeoisie seiner Zeit, die noch Schuldgefühle in sich trug, weil sie die bis dato herrschende Klasse der Aristokratie durch die Guillotine hat beseitigen lassen, um selbst sich „auf deren Stühle zu setzen“ (Bloch). Seither und aus diesem „schlechten Gewissen“ heraus regiert uns das von Max Weber erkannte protestantische Arbeitsethos (= Ichideal), welches Jean-Paul Sartre in seinem Flaubert als „Ethik der Anti-Physis“ beschreibt und dessen tiefenpsychologische Antriebe Sigmund Freud und – in unseren Tagen – Arno Gruen analysiert haben.

Für Hegel ist der Satz „Ich bin Ich“ (A = A ) die kleinstmögliche aller existierenden „Arbeitseinheiten“. Anders: Selbstbewusstsein (als Identitätsformel) wird von ihm als Bewegung verstanden, als Akt und damit bereits als Arbeit.

„Das arbeitende Bewusstsein ist der Anfang der Bildung, der Anfang der Erfahrung seiner selbst als eines selbstständigen Wesens, als eines Selbstbewusstseins, das sich selbst als ein Selbst erfasst. In der Arbeit als Bildung ist der Anfang der Selbsterfahrung des Selbstbewusstseins als Ich bin Ich zu suchen.“ (Eberhard Braun)

Diese zunächst rein mentale Bewegung (Denken = Überschreiten) erweitert sich durch „Entäußerung“, d. h. im „Kampf um Anerkennung auf Leben und Tod“ zwischen „Herr und Knecht“ sowie um die Arbeit als Stoffwechsel und Ringen mit der Natur sowie um die Arbeit am realen Gegenstand. So bildet sich die Prämisse jenes Arbeitsbegriffs, auf dem der Marxismus seine Theorie vom dialektischen und historischen Materialismus hat errichten können.

„Arbeit, so muss man schließen, ist nicht allein Formieren äußerer Gegenstände, sie ist auch ein Formieren des Bewusstseins. In der Arbeit formiert das Bewusstsein sich selbst; es reflektiert sich selbst und erhebt hierin sich zum wahrhaften Selbstbewusstsein, welches die Form der Allgemeinheit, der bleibenden Gegenständlichkeit erhält.“ (Eberhard Braun)

Der Arbeitsbegriff Hegels entspringt einer Komponente seiner Ontologie (= Logik), welche (bereits) existentialistische Züge aufweist und auf der Sartre später aufbauen wird: der Gegenstand als „Nicht-Ich“ zeigt mir mein „Nichts-Ich“, d. h. mein Ich, das „Nichts“ ist, an, „füllt es aus“. Hegel: „Das Ding ist Ich“ (vielleicht der bedeutendste Satz der „Phänomenologie des Geistes“).

Von Schelling herkommend, hat Hegels Konstruktion des Selbstbewusstseins noch etwas Erzeugendes an sich – daher wird sie von ihm auch als Arbeit (ursprünglich der Natur) gefasst und bezeichnet. Dieser Aspekt entfällt bei Sartre. Ihm genügt schon der reine „Blick des Anderen“, um Ich-Gefühl und Selbstbewusstsein herbei zu führen.

Was bleibt uns also als Erbe des Hegelschen Arbeitsbegriffs? Arbeit verweist uns je auf uns selbst, erfüllt somit eine grundlegende ontologische Funktion. Entfällt diese, beherrschen Entfremdung und Verdinglichung unsere Lebens- wie Arbeitswelt.

 

Vollzahl der Zeiten

(Foto: Welf Schröter)

Lange vor der Herrschaft der Inkas in Lateinamerika entfaltete sich im Gebiet des heutigen Peru die indianische Hochkultur der Chachapoya. Ihr Totenkult zeichnete sich dadurch aus, dass sie den Schädel ihrer verstorbenen Angehörigen im eigenen komplex in Felswände erbauten steinernen Wohnhaus begruben. Sie waren davon überzeugt, dass die Toten somit weiterhin unter den Lebenden verblieben. Vergangene Zeit sollte gleichzeitig sein und gegenwärtig bleiben.

Der vom Protestantismus geleitete Denker, Kenner vorchristlicher Kulturen und Hitlergegner Eugen Rosenstock-Huessy sah die kommende Gleichzeitigkeit vergangener Menschenzeiten in der Zukunft des diesseitigen und jenseitigen Humanum. Die religiöse Erfüllung des Menschentraumes identifizierte er in einem neuen Zusammenleben, in der Anerkennung des „Du“ des Anderen als Anerkennung des eigenen „Ich“, und in der Hoffnung auf Heimat im christlichen Erlösungsprozess. Wenn die gelebten Leben von Vergangenheit und Gegenwart in der Zukunft zur „Vollzahl der Zeiten“ gelangen, wird Ungleichzeitigkeit gleichzeitig.

„Der Zeiten sind mehrere. Jeder zeitlichen Menschenart kommen ihre Bahnen, Räume, Alter zu. Je vollzähliger wir sie anerkennen, desto weiter greift der Frieden. Friedfertig werden wir, stille in unserem Land und voll der Klänge unserer Stunde, wenn wir das Erbe bewähren, das wir empfangen haben: die Vollzahl der Zeiten.“ So schrieb Rosenstock-Huessy in seinem Hauptwerk „Im Kreuz der Wirklichkeit – Eine nach-goethische Soziologie“ in Band drei mit dem Titel „Die Vollzahl der Zeiten“. „Der vollständige Mensch“ komme „sicher nicht aus den vereinzelten Zeiten, sondern nur aus ihrer Vollzahl.“

Ernst Bloch, der Denker des „Noch-Nicht“ und der Antizipation konkret-utopischer – nicht utopistischer – „Heimat“, war in seinem ersten Hauptwerk „Geist der Utopie“, das 1918 erschien, von tiefer christlicher Religiosität und beginnendem marxistischen Rebellentum geprägt. Er schrieb: „Alles könnte vergehen, aber das Haus der Menschheit muss vollzählig erhalten bleiben und erleuchtet stehen, damit dereinst, wenn draußen der Untergang rast, Gott darin wohnen und uns helfen kann – und solches führt aus der Seelenwanderung heraus auf den Sinn der echten sozialen, historischen und kulturellen Ideologie.“

Fünf Jahre später veröffentlichte Bloch eine überarbeitete Fassung von „Geist der Utopie“. In der Version von 1923 greift er die Idee der „Vollzahl“ erneut auf: „Und vor allem eben, über der uns immer wieder repetierbaren, sinnhafter umspielbaren Geschichte, läßt die Seelenwanderung zugleich alle Subjekte am Ende der Geschichte präsent, bewährt präsent sein, garantiert sie den Begriff der ,Menschheit‘ in seiner dereinst höchst konkret vollzähligen, absoluten Entität.“

Im Begriff der „Vollzahl der Zeiten“ suchten Rosenstock-Huessy wie auch Bloch nach der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Für Bloch liegt dort die „Heimat“. In der Zukunft. Als kommende Genesis.

Beide Denker begannen ihre Werke als Reaktion auf die Schrecken des Ersten Weltkrieges, der vor einhundert Jahren seinen Anfang nahm.

 

Eugen Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit. Eine nach-goethische Soziologie. Talheimer Ausgabe. Band 1: Übermacht der Räume; Band 2: Vollzahl der Zeiten 1; Band 3: Vollzahl der Zeiten 2. Verbesserte, vollständige und korrigierte Neuausgabe mit Namen- und Sachregister. Herausgegeben von Michael Gormann-Thelen, Ruth Mautner, Lise van der Molen. Mit einem Vorwort von Irene Scherer und einem Nachwort von Michael Gormann-Thelen. 2008/2009, 1.964 Seiten, Ausgabe in drei Bänden.

Bloch-Wörterbuch

Das Werk mit seinen 744 Seiten hat Gewicht, nicht nur, wenn es dem Leser in die Hand fällt. Das neue „Bloch-Wörterbuch“ stellt einen wichtigen Meilenstein der aktuellen fachlichen Bearbeitung des philosophischen Denkens von Ernst Bloch (1885–1977) dar.

Den Herausgebern Beat Dietschy, Doris Zeilinger und Rainer Zimmermann ist eine außergewöhnliche Leistung gelungen, die zurecht als Zwischenbilanz derzeitiger Bloch-Forschung, als „wissenschaftliches Handbuch, das den Stand der Forschung dokumentiert“ (Vorwort der Herausgeber), bezeichnet werden darf.

Das im Hardcover gebundene Teamergebnis eines von 22 Autorinnen und Autoren geschaffenen Arbeitsprozesses wendet sich primär an Interessierte aus Fachwissenschaften (Philosophie, Gesellschaftswissenschaften, Natur- und Technikwissenschaften), in zweiter Linie an „nichtprofessionelle LeserInnen“. Die Verfasser gehören den beiden Organisationen Ernst-Bloch-Assoziation und Ernst-Bloch-Gesellschaft an. In Abgrenzung zu in Universitäten immer wieder auftretenden Versuchen, Ernst Bloch auf die Rolle eines Literaten zu reduzieren, beansprucht das „Bloch-Wörterbuch“ bewusst die Perspektive, Bloch in seiner „explizit marxistische[n] Ausrichtung“ zu begreifen und die Ganzheitlichkeit seines Ansatzes zu betonen.

Das Wörterbuch besteht aus 46 Einzelarbeiten, die sich auf mehr als 46 zentrale Begriffe Blochs konzentrieren. Die Leitwörter reichen von „Antizipation“ bis „Zeit“ und umfassen nicht nur bekannte Themen wie etwa „Spuren“, „Naturallianz“, „Tendenz“ oder „Ungleichzeitigkeit“, sie umgreifen dankenswerter Weise auch weniger häufig verwendete Bloch-Motive wie „Fortschritt“, „Freiheit“, „Multiversum“ oder „Ultimum“. In der Regel werden die Fachbegriffe zunächst philosophiegeschichtlich und disziplinär eingeordnet, bevor ihre jeweilige Bedeutung in der Blochschen Konditionierung und im Blochschen Kontext dargelegt wird. Zu den besonderen und hervorzuhebenden Beiträgen in dem Band gehören neben den Texten von Doris Zeilinger zu „Latenz“ und „Natur“ vor allem auch die Arbeiten von Rainer Zimmermann zu „Naturallianz/Allianztechnik“, zu „Natursubjekt“ und „Naturrecht“ sowie die 44-seitige Aufarbeitung des von Bloch verwendeten Begriffes der „Ungleichzeitigkeit“ durch Beat Dietschy.

Letzterer erhebt die Wissenschaft zugleich zum Lesevergnügen, wenn er den Begriff „Ungleichzeitigkeit“ werkgeschichtlich durch die verschiedenen zentralen Werke Blochs verfolgt. Nicht vergessen werden darf die lesenswerte Abhandlung des verstorbenen Hans-Heinz Holz zu „Metaphysik“. Hinzuweisen gilt es auf den Abschnitt zu „Marxismus“ von Wolfgang Fritz Haug, der seinen Beitrag mit dem Hinweis Blochs auf die Notwendigkeit einer „Wärmestromwissenschaft“ krönt, die dem Marxismus hinzugefügt werden müsse. Ungemein anregend ist Heiko Hartmanns Beitrag zu „Atheismus“, den er konsequent als Teil eines Humanisierungsprozesses offenbart. Heiko Hartmann ist es zu verdanken, dass das „Bloch-Wörterbuch“ überhaupt verlegt werden konnte. Eine gute Gesamtleistung wie das „Bloch-Wörterbuch“ verdient neben der positiven Würdigung zugleich ein paar kritische Anmerkungen.

Es ist schade, dass das Redaktionsteam darauf verzichtet hat, zwei zusätzliche Stichworte in die alphabetische Gestaltung des Bandes aufzunehmen: Es fehlen die eigenständigen Leitworte „Musik“ und „Arbeit“. Bloch schrieb zwar kein eigenes Manuskript zum Arbeitsbegriff, dennoch durchzieht sein an Marx angelehntes Verständnis der Emanzipation und seine Entfremdungskritik das Noch-Nicht. Die Worte „Musik“ und „Arbeit“ finden im Wörterbuch immer wieder in einzelnen Texten Erwähnung, doch sind beide Stichworte für das Blochsche Gesamtwerk von nicht unerheblicher Bedeutung. Das Fehlen hinterlässt  noch zu schließende Lücken.

(Beat Dietschy, Doris Zeilinger, Rainer Zimmermann (Hg.): Bloch-Wörterbuch. Leitbegriffe der Philosophie Ernst Blochs. De Gruyter, Berlin 2012, 744 S.)