„Wer den Zusammenhang verliert, verliert Zeit“

Dr. Ruth Mautner (Foto: © Welf Schröter)

Diesen Satz von Eugen Rosenstock-Huessy setzt Ruth Mautner ins Zentrum ihres Beitrages „Wie viele Zeiten leben in uns gleichzeitig?“. Die Mitherausgeberin des zweitausend Seiten umfassenden Hauptwerkes des „unreinen Denkers“ (ERH über ERH) mit dem Titel „Im Kreuz der Wirklichkeit – Eine nachgoethische Soziologie“ greift auf Gedanken Rosenstock-Huessys zurück, wenn sie in scheinbar alten Sprachmustern ein Bild für solidarisches Miteinanderarbeiten zeichnet: „Angstlos miteinander atmen“ (ERH). Zeit ist immer das, womit sie gefüllt ist. Zeit ist daher nie Zeit. Bewusstsein in der Zeit ergibt Bewusstsein von Zeit. Wir leben in diversen Zeiten.

Sie stellt der „Gegenwart“ das Rosenstocksche Wort „Widerwart“ entgegen, was soviel bedeutet wie unpopuläre Bahnbrecher oder ein Ärgernis sein, nicht der Mode, dem Trend, den Gewohnheiten folgen. „Widerwart ist Gegenwart zur Unzeit, wenn die Zeit noch nicht reif ist. Es erfordert Mut, Kraft und Hingabe ohne Anerkennung zu leben und zu wirken. Und: Nur das Erwartete kann Gegenwart werden.“ (Mautner)

In ihrem Vortrag in der Evangelischen Akademie Bad Boll unterscheidet sie Zeitgenossen (Menschen haben eine gemeinsame Zeit, sind zeitübergreifend im Gespräch) und Raumgenossen (Menschen ohne Bezug zueinander): „Wir hier, die wir uns in einem Raum befinden, sind vorerst einmal Raumgenossen – ob wir jedoch auch Zeitgenossen werden oder vielleicht auch schon sind, müsste sich erst herausstellen. Wir teilen als Raumgenossen den Augenblick hier im Raum beisammen zu sein. Zeitgenosse kann auch jemand sein, die/der längst nicht mehr unter den Lebenden weilt. Zeitgenossen werden Menschen, die sich als ,Wir‘ bewähren: z.B. in ein Gespräch eintreten (nicht bloß ,plaudern‘, wie die Österreicher sagen, oder etwas erzählen, …) oder aber zusammen etwas erarbeiten, und nicht nur alle am Fließband stehen.“ (Mautner)

Eugen Rosenstock-Huessy, Vorsitzender der World Association of Adult Education, war engagierter Erwachsenen- und Jugendbildner. Wurde so zum Mentor des „Kreisauer Kreises“. Im Zentrum aber blieb die soziale Frage: „Vom Gebot einer neuen Zeit- und Raumeinteilung war ich befallen. Und unter dies Gebot neuer Zeit und neuen Raumes trat ich selber. Es kam darauf an, das abgebrochene Gespräch unter den Menschen wieder in Gang zu setzen. Die Untersuchungen zur Lebensarbeit in der Industrie, zur Ausgliederung der Werkstätten, zur Erfassung des Betriebes, entsprangen aus einer neuen Lage. Sie führte mich dreimal in die Nöte der Arbeitslosigkeit. Und der Arbeitslose scheint mir der menschliche Mittelpunkt aller sozialen Fragen unserer Zeit.“ (Eugen Rosenstock-Huessy)