Nachdem sich der Schriftsteller und Bloch-Freund Erich Loest kürzlich das Leben nahm, erreicht uns nun die Nachricht vom Tode Marcel Reich-Ranickis. Der Literaturkritiker starb im Alter von 93 Jahren. Wer die Gelegenheit hatte, ihn persönlich als Dozenten an der Universität Tübingen Mitte der siebziger Jahre zu erleben, war beeindruckt von seiner Belesenheit, Detailkenntnis und mutigen Kommentierungslust.
Nicht immer konnte man als junger Student den assoziativen Gedankensprüngen so schnell folgen, wie Reich-Ranicki die Spuren der Literaturgeschichte wechselte. Doch überzeugte er seine antiautoritäre Zuhörerschaft durch seine persönliche Glaubwürdigkeit.
Seine Lebensgeschichte unterschied ihn von den braunen Schatten so mancher Hochschullehrer. Marcel und Tosia Reich-Ranicki pflegten ihre Beziehung zu den Blochs. Denn die bittere Erinnerung an das Furchtbare des Warschauer Ghettos, aus dem heraus die Ranickis fliehen konnten und in dem Karola Blochs Angehörige bis zu ihrer Ermordung im KZ Treblinka leiden mussten, verband die beiden Familien. In ihrem langen Brief vom 1. März 1979 an ihren Sohn Jan Robert Bloch erwähnt Karola Bloch ihre Kontakte mit den Ranickis (abgedruckt im Buch „Karola Bloch – Architektin, Sozialistin, Freundin“(2010)):
„Unlängst war Frau Reich-Ranicki bei mir, die auch im Warschauer Ghetto war, und sie sagte, dass es in dieser grauenhaften Umgebung viele künstlerische Darbietungen gab: wunderbare Konzerte, Bilder-Ausstellungen, Theater usw. Erstaunlich. Was der Mensch alles vermag.“
Auch Karola Blochs Schwägerin, die Tänzerin und Schülerin Mary Wigmans, Andziula Tagelicht, trat im Ghetto auf und gab Unterricht für Kinder. Sie wurde im KZ umgebracht.
Dem Lebenswerk von Marcel und Tosia Reich-Ranicki gilt Respekt.