Vollzahl der Zeiten

(Foto: Welf Schröter)

Lange vor der Herrschaft der Inkas in Lateinamerika entfaltete sich im Gebiet des heutigen Peru die indianische Hochkultur der Chachapoya. Ihr Totenkult zeichnete sich dadurch aus, dass sie den Schädel ihrer verstorbenen Angehörigen im eigenen komplex in Felswände erbauten steinernen Wohnhaus begruben. Sie waren davon überzeugt, dass die Toten somit weiterhin unter den Lebenden verblieben. Vergangene Zeit sollte gleichzeitig sein und gegenwärtig bleiben.

Der vom Protestantismus geleitete Denker, Kenner vorchristlicher Kulturen und Hitlergegner Eugen Rosenstock-Huessy sah die kommende Gleichzeitigkeit vergangener Menschenzeiten in der Zukunft des diesseitigen und jenseitigen Humanum. Die religiöse Erfüllung des Menschentraumes identifizierte er in einem neuen Zusammenleben, in der Anerkennung des „Du“ des Anderen als Anerkennung des eigenen „Ich“, und in der Hoffnung auf Heimat im christlichen Erlösungsprozess. Wenn die gelebten Leben von Vergangenheit und Gegenwart in der Zukunft zur „Vollzahl der Zeiten“ gelangen, wird Ungleichzeitigkeit gleichzeitig.

„Der Zeiten sind mehrere. Jeder zeitlichen Menschenart kommen ihre Bahnen, Räume, Alter zu. Je vollzähliger wir sie anerkennen, desto weiter greift der Frieden. Friedfertig werden wir, stille in unserem Land und voll der Klänge unserer Stunde, wenn wir das Erbe bewähren, das wir empfangen haben: die Vollzahl der Zeiten.“ So schrieb Rosenstock-Huessy in seinem Hauptwerk „Im Kreuz der Wirklichkeit – Eine nach-goethische Soziologie“ in Band drei mit dem Titel „Die Vollzahl der Zeiten“. „Der vollständige Mensch“ komme „sicher nicht aus den vereinzelten Zeiten, sondern nur aus ihrer Vollzahl.“

Ernst Bloch, der Denker des „Noch-Nicht“ und der Antizipation konkret-utopischer – nicht utopistischer – „Heimat“, war in seinem ersten Hauptwerk „Geist der Utopie“, das 1918 erschien, von tiefer christlicher Religiosität und beginnendem marxistischen Rebellentum geprägt. Er schrieb: „Alles könnte vergehen, aber das Haus der Menschheit muss vollzählig erhalten bleiben und erleuchtet stehen, damit dereinst, wenn draußen der Untergang rast, Gott darin wohnen und uns helfen kann – und solches führt aus der Seelenwanderung heraus auf den Sinn der echten sozialen, historischen und kulturellen Ideologie.“

Fünf Jahre später veröffentlichte Bloch eine überarbeitete Fassung von „Geist der Utopie“. In der Version von 1923 greift er die Idee der „Vollzahl“ erneut auf: „Und vor allem eben, über der uns immer wieder repetierbaren, sinnhafter umspielbaren Geschichte, läßt die Seelenwanderung zugleich alle Subjekte am Ende der Geschichte präsent, bewährt präsent sein, garantiert sie den Begriff der ,Menschheit‘ in seiner dereinst höchst konkret vollzähligen, absoluten Entität.“

Im Begriff der „Vollzahl der Zeiten“ suchten Rosenstock-Huessy wie auch Bloch nach der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Für Bloch liegt dort die „Heimat“. In der Zukunft. Als kommende Genesis.

Beide Denker begannen ihre Werke als Reaktion auf die Schrecken des Ersten Weltkrieges, der vor einhundert Jahren seinen Anfang nahm.

 

Eugen Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit. Eine nach-goethische Soziologie. Talheimer Ausgabe. Band 1: Übermacht der Räume; Band 2: Vollzahl der Zeiten 1; Band 3: Vollzahl der Zeiten 2. Verbesserte, vollständige und korrigierte Neuausgabe mit Namen- und Sachregister. Herausgegeben von Michael Gormann-Thelen, Ruth Mautner, Lise van der Molen. Mit einem Vorwort von Irene Scherer und einem Nachwort von Michael Gormann-Thelen. 2008/2009, 1.964 Seiten, Ausgabe in drei Bänden.

Von Prag nach New York

Vor 75 Jahren – am 15. März 1939 – ließ der NS-Staat seine Wehrmachtstruppen in die Tschechoslowakei – in Prag – einmarschieren. Prag sollte ein Ort des „Dritten Reiches“ werden. Kaum war die SS auf dem Wenzelsplatz angekommen, startete die Gestapo die „Aktion Gitter“. Mehr als eintausend politische Emigranten und Hitlergegner wurden verhaftet. Seit 1933 waren Schriftsteller, Intellektuelle, jüdische Oppositionelle, Freunde des Bauhauses in die Moldaustadt geflohen, um der Verfolgung der Nazis zu entgehen.

Unter den Emigranten befanden sich auch Ernst und Karola Bloch. Ihr Sohn Jan Robert Bloch wurde in Prag geboren. Die Architektin und politische Aktivistin Karola Bloch hatte ausreichend Praxis- und Lebenserfahrung gesammelt, um rechtzeitig zu erkennen, dass ein drohender Einmarsch deutscher Militärverbände für sie Gefahr an Leib und Leben bedeutete. Sie drängte zum Aufbruch und stellte die Koffer bereit. Noch immer hält sich heute unter Bloch-Freunden die Anekdote, dass Ernst Bloch damals in Prag unwillig die Kofferpackerei verfolgte und wiederholt fragte: „Wieso müssen wir weg?“ Die Blochs reisten ins polnische Gdynia und verließen am 3. Juli 1938 per Schiff den europäischen Kontinent in Richtung der Freiheitsstatue in New York.

Ernst Bloch hatte erst viel später vollständig begriffen, was Karola Bloch vollbracht hatte. Er widmete ihr ein weiteres Mal einen seiner philosophischen Werkbände. Zu Beginn von „Tendenz – Latenz – Utopie“ heißt es: „Für meine Frau Karola, Mann und Werk vor den Nazis rettend“. In den USA schrieb Bloch sein philosophisches Hauptwerk.

Als in der Tübinger Zeit nach 1961 Professoren, Journalisten und Bekannte die Blochsche Wohnung besuchten, wollten die meisten in Karola Bloch nur eine Frau an seiner Seite erkennen, eine unscheinbare Hausfrau. Doch die aktive jüdische Widerstandskämpferin Karola Bloch war in den dreissiger Jahren unter dem Decknamen „Olga“ durch den SS-Staat gereist, um Gleichgesinnte gegen Hitler zu unterstützen. Unter Einsatz ihres Lebens spürte sie hautnah die Gefahr. Ihre Lebensklugheit retteten Mann, Sohn, philosophische Manuskripte und sie selbst. Karola Blochs Familie blieb in Europa und wurde im KZ Treblinka ermordet.

Bloch-Wörterbuch

Das Werk mit seinen 744 Seiten hat Gewicht, nicht nur, wenn es dem Leser in die Hand fällt. Das neue „Bloch-Wörterbuch“ stellt einen wichtigen Meilenstein der aktuellen fachlichen Bearbeitung des philosophischen Denkens von Ernst Bloch (1885–1977) dar.

Den Herausgebern Beat Dietschy, Doris Zeilinger und Rainer Zimmermann ist eine außergewöhnliche Leistung gelungen, die zurecht als Zwischenbilanz derzeitiger Bloch-Forschung, als „wissenschaftliches Handbuch, das den Stand der Forschung dokumentiert“ (Vorwort der Herausgeber), bezeichnet werden darf.

Das im Hardcover gebundene Teamergebnis eines von 22 Autorinnen und Autoren geschaffenen Arbeitsprozesses wendet sich primär an Interessierte aus Fachwissenschaften (Philosophie, Gesellschaftswissenschaften, Natur- und Technikwissenschaften), in zweiter Linie an „nichtprofessionelle LeserInnen“. Die Verfasser gehören den beiden Organisationen Ernst-Bloch-Assoziation und Ernst-Bloch-Gesellschaft an. In Abgrenzung zu in Universitäten immer wieder auftretenden Versuchen, Ernst Bloch auf die Rolle eines Literaten zu reduzieren, beansprucht das „Bloch-Wörterbuch“ bewusst die Perspektive, Bloch in seiner „explizit marxistische[n] Ausrichtung“ zu begreifen und die Ganzheitlichkeit seines Ansatzes zu betonen.

Das Wörterbuch besteht aus 46 Einzelarbeiten, die sich auf mehr als 46 zentrale Begriffe Blochs konzentrieren. Die Leitwörter reichen von „Antizipation“ bis „Zeit“ und umfassen nicht nur bekannte Themen wie etwa „Spuren“, „Naturallianz“, „Tendenz“ oder „Ungleichzeitigkeit“, sie umgreifen dankenswerter Weise auch weniger häufig verwendete Bloch-Motive wie „Fortschritt“, „Freiheit“, „Multiversum“ oder „Ultimum“. In der Regel werden die Fachbegriffe zunächst philosophiegeschichtlich und disziplinär eingeordnet, bevor ihre jeweilige Bedeutung in der Blochschen Konditionierung und im Blochschen Kontext dargelegt wird. Zu den besonderen und hervorzuhebenden Beiträgen in dem Band gehören neben den Texten von Doris Zeilinger zu „Latenz“ und „Natur“ vor allem auch die Arbeiten von Rainer Zimmermann zu „Naturallianz/Allianztechnik“, zu „Natursubjekt“ und „Naturrecht“ sowie die 44-seitige Aufarbeitung des von Bloch verwendeten Begriffes der „Ungleichzeitigkeit“ durch Beat Dietschy.

Letzterer erhebt die Wissenschaft zugleich zum Lesevergnügen, wenn er den Begriff „Ungleichzeitigkeit“ werkgeschichtlich durch die verschiedenen zentralen Werke Blochs verfolgt. Nicht vergessen werden darf die lesenswerte Abhandlung des verstorbenen Hans-Heinz Holz zu „Metaphysik“. Hinzuweisen gilt es auf den Abschnitt zu „Marxismus“ von Wolfgang Fritz Haug, der seinen Beitrag mit dem Hinweis Blochs auf die Notwendigkeit einer „Wärmestromwissenschaft“ krönt, die dem Marxismus hinzugefügt werden müsse. Ungemein anregend ist Heiko Hartmanns Beitrag zu „Atheismus“, den er konsequent als Teil eines Humanisierungsprozesses offenbart. Heiko Hartmann ist es zu verdanken, dass das „Bloch-Wörterbuch“ überhaupt verlegt werden konnte. Eine gute Gesamtleistung wie das „Bloch-Wörterbuch“ verdient neben der positiven Würdigung zugleich ein paar kritische Anmerkungen.

Es ist schade, dass das Redaktionsteam darauf verzichtet hat, zwei zusätzliche Stichworte in die alphabetische Gestaltung des Bandes aufzunehmen: Es fehlen die eigenständigen Leitworte „Musik“ und „Arbeit“. Bloch schrieb zwar kein eigenes Manuskript zum Arbeitsbegriff, dennoch durchzieht sein an Marx angelehntes Verständnis der Emanzipation und seine Entfremdungskritik das Noch-Nicht. Die Worte „Musik“ und „Arbeit“ finden im Wörterbuch immer wieder in einzelnen Texten Erwähnung, doch sind beide Stichworte für das Blochsche Gesamtwerk von nicht unerheblicher Bedeutung. Das Fehlen hinterlässt  noch zu schließende Lücken.

(Beat Dietschy, Doris Zeilinger, Rainer Zimmermann (Hg.): Bloch-Wörterbuch. Leitbegriffe der Philosophie Ernst Blochs. De Gruyter, Berlin 2012, 744 S.)

Maidan

Es waren öffentliche Plätze, auf denen gesellschaftliche Akteure den Tagtraum einer besseren Gesellschaft aufleben ließen. Es waren Orte, wo aus dem „Ich“ ein „Wir“ zu werden begann.

Der Orte gab es mehrere. Sie standen für Aufbruch wie auch für Niederlagen. Sie zeigten aber die Kraft des Unabgegoltenen und Uneingelösten des zivilgesellschaftlichen Emanzipationsbestrebens.

Zu den Namen „Wenzelsplatz“ in Prag, „Augustusplatz“ in Leipzig, „Platz des Himmlischen Friedens“ in Peking, „Azadi-Platz“ in Teheran und „Tahrir-Platz“ in Kairo kam jetzt der „Maidan“ im ukrainischen Kiew. Auf letzterem verschmolzen die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Würde mit dem Wunsch nach Demokratie, nach Verschränkungen von direkter und repräsentativer Demokratie.

Hans-Jürgen Krahl war es, der zutreffend bezüglich der Handelnden im „Prager Frühling“ feststellen musste, dass die Revolutionäre doch immer auch mit den Muttermalen desjenigen Systems versehen sind, gegen das sie ankämpfen. Im „Prager Frühling“ wollten sich die Akteure auf dem „Wenzelsplatz“ zu spät von der faktischen Dominanz der Rolle einer Partei lösen. Die Revolte auf dem „Tahrir-Platz“ suchte, alte Eliten zu beseitigen, hatte aber das Denken in autoritären Lösungsschritten geerbt. Nun der „Maidan“.

Er unterscheidet sich, da die Menschen sich an einem Traum orientierten, der von außen in Attraktivität zu leuchten begann. Es war das Bild von Europa, das ihnen vermittelt war. Dieses Bild von Demokratie, Rechtsstaat und Lebensqualität setzte ungeahnte Durchhaltekräfte von Tausenden von Menschen frei. Sie wussten, wogegen sie waren. Sie wussten, wo sie hinwollten. Verschwommen blieb eine scheinbare aber wesentliche Rahmenbedingung. Doch dieses Bild stand in gegensätzlicher Spannung zur Erbschaft des Charakters des Nationalstaats aus dem 19. Jahrhundert als einem von mehreren Altlasten.

Während die 28 Staaten der Europäischen Union im Inneren damit ringen, tendenziell die Grenzen des Nationalen zu überwinden, um Europa im globalisierten Wirtschafts- und Finanzmarkt zu stärken, betrachtet der „Maidan“ seinen Weg nach Europa vorwiegend als nationalstaatlichen Denkschritt. Es ist der Wunsch nach nationaler Identität, nach Kompensation des Fehlens eines historischen ukrainischen Nationalstaates. Hier zeigt sich das Muttermal der früheren Herrschaft.

Nun sind es die Gegner des „Maidan“, die mit der nationalen Karte den Weg des „Maidan“ nach Europa blockieren wollen. Und es wirkt wie eine Farce, dass sich ausgerechnet einer von den wichtigen Orten der Beratungen der Anti-Hitler-Koalition auf der ehemals sowjetischen Krim befindet. Mit der neuen nationalen „Ordnung“ von Jalta des Jahres 1945 hatten die Alliierten die Einflusssphären in Europa aufgeteilt. Diese brachen erst 1989/1990 ein. Der „Geist“ von Jalta scheint dem „Maidan“ Steine in den Weg zu legen.

Entscheidend wird sein, wie sich die europäischen Gesellschaften öffnen, um bei der Europäisierung Europas voranzukommen. Der beschleunigte Abschied vom Nationalen fehlt auf dem „Maidan“. Und dennoch gibt dieses Manko fremden Militärs kein Recht, in verdrehter Verlängerung der Okkupations-Jahre 1956 (Budapest), 1968 (Prag) und 1979 (Kabul) im Land des „Maidan“ einzumarschieren.

Seit vielen Jahren verbreitet sich – ausgehend vom Krim-Konflikt – zum ersten Mal wieder Sorge um den Frieden in Europa. Mag auch ein militärisch-kriegerisches Szenario überzogen sein, so wird doch wenige Wochen vor den Europa-Wahlen die Bedeutung der Europäischen Union für den Erhalt einer nichtkriegerischen Interessensaushandlungskultur überdeutlich. Europa entfaltet grundsätzlich die Möglichkeit zur nichtmilitärischen Überwindung des Nationalstaatsdenkens. Jüngst erst hatte auch der Philosoph Jürgen Habermas eine Beschleunigung der Europäisierung und Demokratisierung des Kontinents gefordert.

Ernst Bloch hatte 1918 in seinem „Vademecum für heutige Demokraten“ gegen Ende des Ersten Weltkrieges warnend geschrieben: „Der Krieg selber kann gewiss nicht alles leisten. Durchaus nicht, er kann nur brechen, nicht bilden.“

Das Wesentliche

(Foto: © Welf Schröter)

„Du warst Sozialistin aus der Kenntnis der Welt da unten, die Du aus der Perspektive des Staubs ansahst –, Ernst eher aus planetarischer Sichtweite.“ Mit diesen Worten gratulierte dereinst Walter Jens Karola Bloch zu ihrem 85. Geburtstag. Humorvoll fuhr er fort: „Ich erinnere mich an das Jahr 1968. Es gab auch in diesem Gebäude eine Reihe von Go-In’s der Studenten bei Professoren. Ernst missbilligte das. Er fand, einen Professor stört man nicht bei der Arbeit. … Du hingegen fandest die Go-In’s ganz richtig. Die Studenten sollten ruhig kommen und die Leute mal auf Trab bringen.“

Auch der Leipziger Schüler Ernst Blochs und guter Freund der Familie, der Philosoph und Lektor Jürgen Teller, bezeugte, wie die Polin, Sozialistin, Jüdin und Architektin Karola Bloch selbstbewusst Leute mal auf Trab brachte. Er erinnerte an das Jahr 1956 in der DDR, als Karola Bloch die SED nach der militärischen Niederschlagung des Aufstandes in Ungarn angriff: „Den beiden mächtigsten Parteisekretären … sagtest Du mitten ins Gesicht: ,Aber das ist ja roter Faschismus!‘ und ,Wo bleiben denn die Denkmäler für die entsetzlich vielen Opfer Stalins?‘“

Energisch war Karola Bloch 1932 als Studentin gegen den drohenden Nationalsozialismus in die damalige KPD eingetreten. Doch ihr Verständnis von Kommunismus und Sozialismus unterschied sich von den Positionen der Zentralkomitees und Politbüros. In den dreißiger Jahren war sie einerseits als Agentin „Olga“ für ihr Geburtsland Polen gegen Hitler tätig und unterstützte andererseits Parteifreunde, die von Stalins Geheimdiensten verfolgt wurden.

Als Karola Bloch vor zwanzig Jahren in Tübingen starb, ging ein nicht aufhören wollendes politisches Ringen zu Ende. Das Rebellische ihrer Jugendjahre blieb ihr erhalten. Irene Scherer zitiert sie dazu in ihrem Beitrag über Kontinuität und Bruch in „Architektin, Sozialistin, Freundin“: „Von Kindheit an war ich selbstständig. Durch mein Leben war und bin ich eine emanzipierte Frau. Das gehört zur Kontinuität in meinem Leben.“

Die schwerste Last bildete die Shoah und ihre Folgen. Karola Blochs Eltern und ein Teil ihrer weiteren Angehörigen wurden ins „Warschauer Ghetto“ verschleppt und im KZ Treblinka ermordet. Obwohl Karola Bloch nicht religiös war, hatte sie doch ihre jüdische Herkunft kulturell nie vergessen und nie geleugnet. Bis zuletzt stand eine kleine Menora in Sichtweite.

Im Sommer 1990 zog die 85-Jährige in einem Gespräch eine persönliche Bilanz. Auf die Frage, was die wichtigste Botschaft sei, die sie mit dem Wort Sozialismus verbinde, antwortete sie rauchend: „Wenn sich Menschen für etwas Positives einsetzen, so treten sie für Gleichberechtigung, Gleichverantwortung und für Gerechtigkeit ein. Darin liegt das Wesentliche. Es geht um die Würde des Menschen.“

Assistenz des Humanoiden

(Foto: © Welf Schröter)

Gibt es eine Art physische Integrität des menschlichen Körpers? Gilt eine ethisch-normative Grenze der wechselseitigen Integration menschlicher Körperlichkeit und humanoider Technik? –

Hinter den Fragen verbergen sich sowohl Hoffnungen wie auch Sorgen hinsichtlich des Wandels unseres modernen Menschenbildes, wie es aus christlicher-religiöser und aufklärerisch-gesellschaftlichem Werdens-Prozess hervorgegangen ist.

Neu und aktuell entfaltet sich das Thema vor dem Hintergrund der Diskurse über Technikinnovationen, die den menschlichen Körper bzw. seine Gliedmaßen durch künstliche Bauteile ergänzen wollen. Seien es medizinische Prothesen, die dem Menschen nach erlittenen Unfällen behilflich sein sollen, seien es technische Unterstützungssysteme, die Hände und Beine in ihrem Leistungsvermögen stärken oder deren Belastungen erleichtern sollen, seien es mobile Serviceroboter, die mobil eingeschränkte Personen beweglicher werden lassen, – die Betrachtenden folgen einem inneren Zwiespalt. Dieser verliert in der Regel seine Spannung, wenn erkennbar ist, dass es sich bei der Assistenztechnik um Gegenständliches handelt, das außerhalb des menschlichen Körpers verbleibt und vom Menschen nach eigener Entscheidung auf Bedarf genutzt wird.

Die derzeitigen Entwicklungen der Assistenztechnik zeigen nun aber eine veränderte Perspektive: Durch die zunehmende Verkleinerung der Robotik mit Hilfe von Mikrosystemtechnik und Nanotechnologie sowie durch die steigende Einfügung modernster interaktiver Informations- und Kommunikationstechnik versuchen die miniaturisierten Helfersysteme schrittweise Bewegungen, Verhaltensweisen und Reaktionsmuster des Menschen aufzunehmen. Assistenztechnik ist auf dem Weg menschenähnlich, humanoid zu werden. Mehr noch: Die bisherige Trennung von menschlichem Körper und Mikrotechnik beginnt sich umzukehren. Die Distanz bzw. Nähe von Mensch und Technik wandelt sich experimentell hin zur körperlichen Integration von Assistenztechnik in die organische Umgebung.

Der potenzielle Chip im menschlichen Muskel oder im organischen Prozesszusammenhang begründet sich zunächst medizinisch. Doch aus der medizinischen (Fern-)Kontrolle durch IT im Sinne von Fernwartung lässt sich soziale Fernkontrolle oder Fernüberwachung mit anderen Absichten oder Motiven herausdestillieren. Zugespitzt: Die militärische „Cyborg“-Debatte zur Nutzung intelligenter humanoider Assistenztechnik innerhalb der Körper von Berufssoldaten stellt nicht nur das tradierte Menschenbild in Frage.

Über Jahrhunderte ist in den Gesellschaften durch Religion, Wissenschaft und Philosophie ein Bild der Körperlichkeit hervorgekommen, das sich in unserem gesellschaftlichen Bewusstsein festgegraben hat. Dieses steht heute den Wahrnehmungen der technologischen Verheissungen auf dem Feld der humanoiden Assistenzrobotik geradezu ungleichzeitig gegenüber. Der gesellschaftlichen Unabgegoltenheit der Humanisierung des Menschen drängt sich eine Technikutopie entgegen, die das Körperliche vom Sozial-Emanzipatorischen abzuspalten droht. Für Ernst Bloch stand Technik nicht selten auf der Seite des modernisierenden Fortschritts. Die physische Veränderung der Architektur des Menschen durch Technik war für ihn noch nicht erkennbar. Sein „Geist der Utopie“ mass sich noch am (ur-)christlichen Schöpfungsbild.

Verstrickt ins Hier

(Foto: © Welf Schröter)

Im Jahr 1926 wurden sie Freunde, der Soziologe und Geschichtsphilosoph Siegfried Kracauer und der Philosoph Ernst Bloch. Während „Krac“ – wie ihn später Karola Bloch freundlich nannte – sich mehr dem Frankfurter Institut für Sozialforschung um Theodor Adorno annäherte, wandte sich Bloch mehr dem Marxschen Denken und dem Materialismus zu. Verbunden hatte beide Denker das Ringen um Entzauberung und Entmythologisierung im gesellschaftlichen Diskurs.

Im Jahr der beginnenden Freundschaft zu Ernst Bloch schreibt Kracauer 1926 an diesen: „Gerade das Entschleiern und Bewahren zusammen erscheint auch mir als das von einem letzten Aspekt aus Geforderte, und als großes Motiv dieser Art von Geschichts-Philosophie würde ich das Postulat ansprechen, daß nichts je vergessen werden darf und nichts, was unvergessen ist, ungewandelt bleiben darf.“

Zu Ernst Blochs 80. Geburtstag am 8. Juli 1965 pointiert Kracauer: „Daher meine Überzeugung, daß einer, der nicht verstrickt ins Hier ist, niemals in ein Dort gelangen könne.“

Kracauer – wie Bloch aus einem jüdischen Elternhaus kommend – flieht vor den Nazis nach Amerika. Auf eigene Weise hatte er die Gründe für die Machtbasis Hitlers vor allem in der sich verändernden ökonomischen Lage der Angestellten analysiert. Anders als Bloch will Kracauer nach 1945 nicht mehr in das Nachkriegsdeutschland zurückkehren. Er bleibt in den USA.

Doch die Freundschaft zwischen Siegfried und Lili Kracauer sowie Ernst und Karola Bloch bleibt herzlich und humorvoll leicht. Schmunzelnd formuliert Karola Bloch in ihrem Brief vom 21. Juni 1962 Richtung USA: „Die Männer habens besonders leicht – sie altern ja gar nicht.“

Am 8. Februar 2014 jährt sich Siegfried Kracauers Geburtstag zum 125. Mal.

(Näheres zu Kracauer siehe: http://www.polunbi.de/pers/kracauer-01.html)

Identität der Entfremdung

Andreas Boes (Foto: © Welf Schröter)

Der Münchner Sozialwissenschaftler Andreas Boes hat sich auf einer gemeinsamen Stuttgarter Tagung der Evangelischen Akademie Bad Boll und des Forum Soziale Technikgestaltung in gebotener Schärfe mit dem Wandel der Arbeit in der globalen IT-Wirtschaft auseinandergesetzt.

Mit spitzer „Feder“ seziert er dabei die sich ausbreitende Strategie großer Konzerne, ihre Stammbelegschaften zu verkleinern und diese gleichzeitig in einen alltäglichen Wettbewerbsstress mit den global nomadierenden Freelancern zu treiben.

Neue Leistungssysteme sollen Feste (Jobbing) mit Freien (Tasking) dynamisch gegeneinander verschränken. Boes spricht vom sich radikalisierenden „System permanenter Bewährung“. Die ausgeweitete Transparenz offenbart stetig das Leistungsvermögen des Einzelnen und ordnet ihn in Rankings ein. Der sich verkehrende Community-Traum der „Liquids“ spült mit der Gestik des Innovativen soziale Sicherheiten beiseite. 

Der ideologisierende Imperativ der Community „Privatheit ist Diebstahl“ reduziert das Individuum zur „funktionalen Identität“ (Boes), die ständig hohe Leistung und Kreativität entäußern muss. „Funktionale Identitäten“ sind technikgestützte Wettbewerbsrollen im „globalen Informationsraum“ (Boes) im Prozess digitaler oder digital assistierter Wertschöpfung mit Hilfe des Auswahlmodells Crowdsourcing. Auch die dabei noch verbliebenen Kapazitäten an Individualität und „Creativity“-Alleinstellungsmerkmalen werden nun der „Inwertsetzung“ (Boes) unterworfen.

Die Analyse von Andreas Boes und die Darlegung der „funktionalen Identität“ offenbaren die Kräfte der Entfremdung, die in den globalen Informationsgesellschaften auf Erwerbstätige und Erwerbssuchende einwirken. Doch hinter bzw. unter der Bewußtseinsschicht der Rolle „funktionale Identität“ liegen die noch unabgegoltenen Bewußtseinsschichten des nach Eigenständigkeit und Unabhängigkeit strebenden kreativen Subjekts, das als Mensch nach Ausdrucksformen emanzipatorischer Identitätsstiftung sucht.

Das Eine ist mit dem Anderen nicht gleichzeitig. Das Alte wirkt weiter und wirkt in das Neue hinein. Rudolf Bahro sprach einst ganz dialektisch von der gesellschaftlichen Kraft „überschüssigen Bewusstseins“. So betrachtet ist das System Crowdsourcing immanent burnoutgefährdet. Schwarm-Intelligenz lässt sich nicht dauerhaft in ein System sperren. „Funktionale Identitäten“ sind nicht nachhaltig, auch ökonomisch nicht.

Unabgegoltenes Erinnern

Lew Kopelew trifft Karola Bloch (Foto: © Welf Schröter)

Wer sie hören wollte, konnte sie hören, die Mahnungen des Schriftstellers Lew Kopelew an seine deutschen Leserinnen und Leser. Unaufhörlich sprach und schrieb der Mann, der unfreiwillig sein Russland in Richtung Deutschland verlassen musste, über die besondere Bedeutung des deutsch-russischen bzw. russisch-deutschen Verhältnisses für die friedliche Entwicklung des europäischen Hauses. Nachhaltigen Frieden in Europa werde es nur auf der Basis des wechselseitigen Dialoges und Verständnisses zwischen der russischen und deutschen Kultur geben. Die Überwindung deutscher Russophobie und russischer Deutschfeindlichkeit seien dafür eine zwingende Notwendigkeit. Kopelew betonte dies lange vor Gorbatschows Perestroika und lange vor dem Fall der Mauer.

Für Lew Kopelew gehörte auf deutscher Seite dazu, öffentlich Verantwortung für die unermesslichen Verbrechen des Nationalsozialismus an der russischen Bevölkerung zu übernehmen. Wer noch zu Zeiten der Sowjetunion mit dortigen jungen Menschen reden konnte, spürte deren Sorge und deren Vorbehalte gegen Deutsche. Das Trauma des Überfalls auf die Sowjetunion war unter Russen nicht nur bis zum Ende des 20. Jahrhunderts unabgegolten aktuell. Zu den schlimmsten Auswüchsen nationalsozialistischen Terrors ist die schier endlose Belagerung der Stadt Leningrad zu rechnen.

Lew Kopelew, den Karola Bloch schätzte und in Tübingen traf, hätte sicherlich mit großer Dankbarkeit und Genugtuung zur Kenntnis genommen, dass am 27. Januar 2014, dem offiziellen bundesdeutschen Auschwitzgedenktag und zugleich 70. Jahrestag der Durchbrechung des NS-Belagerungsringes um Leningrad durch die Rote Armee ein russischer Schriftsteller und zugleich Überlebender jenes deutschen Verbrechens im Deutschen Bundestag sprechen konnte.

Daniil Granin tritt im Alter von 95 Jahren an das Parlamentsmikrofon in Berlin. Er gehörte zu den Eingeschlossenen, die 900 Tage von der Wehrmacht angegriffen wurden. Hitler wollte Leningrad als Ausgangspunkt der Oktoberrevolution Lenins aushungern und dem Erdboden gleichmachen lassen. Über eine Million Menschen starben in der umzingelten Stadt. In schlimmsten Zeiten verhungerten über dreitausend Frauen und Männer pro Tag.

Zu den belagerten Bürgern jener Jahre gehörte auch der russische Komponist Dmitri Schostakowitsch. Er schrieb in Leningrad im Angesicht von Hitlers Truppen seine “Leningrader Symphonie” (1941) und führte sie 1942 zur Ermutigung der Eingeschlossenen damals in der umringten Metropole auf. Musik gegen Hunger.

Viele Jahre und Jahrzehnte sei es ihm unmöglich gewesen, auf Deutsche zuzugehen oder ihnen gar zu verzeihen. Granin drückt aus, was viele Bürgerinnen und Bürger im heutigen St. Petersburg erwarten: Die offizielle deutsche Politik solle endlich erkennbar Verantwortung übernehmen und die Belagerung Leningrads als das benennen, was es war: Ein Verbrechen. Bitter erinnert er an das damalige Leid: „Der Tod war jemand, der schweigend seine Arbeit tat in diesem Krieg.“

Über Jahrhunderte sorgten die sich wandelnden Ängste zwischen Russen und Deutschen für Spannung oder Entspannung auf dem europäischen Kontinent. Gegenwärtig tritt hinter berechtigter Kritik an der Putinschen Politik der historisch-unaufgehobene Schatten alter Russophobie hervor. Stigmatisierende Fremdenbilder aus alten Zeiten wirken ungleichzeitig in unsere gegenwärtige Wahrnehmung. Noch nicht abgegoltene Schichten tradierten Bewusstseins reden uns ein, die europäische Moderne und die Kultur endeten vor der russischen Staatsgrenze. Lew Kopelew wäre entsetzt und wiederholte seine Mahnungen.

Durch sein Auftreten vor dem Deutschen Bundestag hat Daniil Granin einen öffnenden Kontrapunkt gesetzt. Seine Worte wirken im Geiste Lew Kopelews. Es liegt an uns, ob wir bereit sind zu- und hinzuhören.

 

We shall overcome

Ein Denkender (Foto: © Welf Schröter)

Lange bevor die Rolling Stones mit ihren Songs „Streetfighting Man“ und „Sympathy for the Devil“ die braven Tanzschulen durcheinander brachten, lange bevor John Lennon mit den Beatles „Revolution“ sang, lange bevor The Cream, Jerry Garcia und die „Greatful Dead“, Miriam Makeba, Janis Joplin, Jimi Hendrix, MC5, Frank Zappa und die „Mothers of Invention“, Bruce Springsteen, John Lee Hooker, Bob Dylan („Blowin’ in the Wind“) mit ihren politisch-lyrisch-musikalischen Botschaften ihre Zuhörer inspirierten und aufrüttelten, war jener Sänger mit Leidenschaft und politischer Parteilichkeit sowie seinen selbst geschriebenen bzw. bearbeiteten Songs solidarisch bei jenen, die seine Stimme brauchten: Pete Seeger, brillanter Musiker, aufrührerischer Songwriter, Gewerkschafter und Menschenfreund sang für Benachteiligte, an den Rand der Gesellschaft Gedrängte, streikende Arbeiter, rebellierende Schwarze, Umweltschützer, Kriegsgegner, Pazifisten. Seine Waffen waren sein Banjo, seine Stimme, sein Verstand und sein Herz.

Sein künstlerischer Kommunismus kam Ernst Blochs „Aufrechtem Gang“ sehr nahe. Sein „Noch-Nicht“-Song – auf der Basis eines alten Gospelstücks – „We shall overcome“ wurde in seiner Version und der Neuaufnahme durch die Sängerin Joan Baez zum Leitmotiv der Jugendrevolte der sechziger und siebziger Jahre gegen den Vietnamkrieg, gegen Rassismus und Unterdrückung. Ähnlich wie Ernst Bloch wurde Pete Seeger vor den McCarthy-Ausschuss gegen unamerikanische Umtriebe zitiert. Ein langes Radio- und Medienverbot und ein Urteil über zehn Jahre Gefängnis machten ihn bei den späteren Berkeley-Rebellen erst richtig populär. Für ihn galt ein Motto, nach dem Karola Bloch, – die zeitweise ebenso wie Pete Seeger in der amerikanischen KP war –, ihr Leben ausrichtete: „Ich gehe zu jenen, die mich brauchen, nicht zu denen, die ich brauche.“

Einer von Pete Seegers bekanntesten Protestsongs „Where have all the Flowers gone“ wurde für viele junge Männer Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre in Europa zu einem markanten Aufruf, sich pazifistisch dem Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern. Seine nüchterne unprätentiöse Stimme, sein bescheidenes Auftreten, seine Klarheit der Aussage waren für junge Ohren im Lande des Heintje- und Roy-Black- und Egerländer-Kitsches eine Initialzündung, die konsequent hinüberleitete zu den bitteren bluesnahen Antikriegsstücken von Jimi Hendrix wie „The Star Spangled Banner“ und „Machine Gun“.

Pete Seeger ist am 27. Januar 2014 im Alter von 94 Jahren gestorben. Er wollte mit seinem Leben der Gerechtigkeit mehr Einfluss verschaffen. Er forderte von seinen Zuhörenden vor allem eines: Mut zur Einmischung, denn „This Land is your land“ (Pete Seeger). Dieser Imperativ ist mit seinem Tod nicht erloschen.