Eine nicht gehaltene Rede in der Nikolaikirche Leipzigs

Fünfundzwanzig Jahre nach dem von Montagsdemonstranten erfolgreich eingeleiteten Sturz des SED-Regimes in der DDR ist es Zeit an einen historischen Moment zu erinnern, der mit großen Emotionen vorbereitet wurde und doch nie stattfand. Es geht um eine nicht gehaltene Rede in der Leipziger Nikolaikirche.

Leipziger Nikolaikirche (Foto: © Welf Schröter)

Leipziger Nikolaikirche (Foto: © Welf Schröter)

In Tübingen fanden sich schon vor 1989 immer wieder prominente DDR-Kritiker ein, die von der StaSi bedrängt, verfolgt und letztlich aus ihren Wirkungsstätten zwangsweise ausgebürgert wurden. Karola Bloch empfing Rudolf Bahro (1935-1997), Jürgen Fuchs (1950-1999), Jürgen Teller (1926-1999) und viele mit weniger bekanntem Namen. Auch Lew Kopelew (1912-1997) und Vertreter der im polnischen Untergrund tätigen Gewerkschaft Solidarnosc traf die Architektin, Bauhausanhängerin und Antifaschistin in der Neckarstadt.

Mit großer Sympathie und Herzblut verfolgte Karola Bloch im Frühjahr, Sommer und Herbst des Jahres 1989 die Ereignisse in Leipzig. Sie stand unzweideutig auf der Seite des „Neuen Forum“ und der Montagsdemonstranten. So war es ihr eine Freude, nach dem damaligen November das Leipziger „Haus der Demokratie“ mit einer besonderen Buchspende zu unterstützen. Auf Wunsch der dortigen „Initiative für Demokratie und Menschenrechte“ sandte sie eine Gesamtausgabe der Werke Ernst Blochs für die öffentliche Bibliothek des Hauses. Die Leipziger bedankten sich: „Da es in der DDR sehr schwer ist, an die Bloch-Gesamtausgabe heranzukommen, sie ist nicht einmal in der Leipziger Universitätsbibliothek zu lesen, freut uns ihr Besitz umso mehr. Unsere Bibliothek wird von sehr vielen Leuten frequentiert, so dass sie dort allen Interessenten zur Verfügung steht.“

Wochen zuvor saßen in Leipzig Vertreter des „Neuen Forum“, von „Demokratie Jetzt“ und der örtlichen Friedensgruppe sowie einem Gast aus Tübingen im Büro von Pfarrer Christian Führer (1943-2014) zusammen. Es sollte eine Rede und Lesung Karola Blochs (1905-1994) in der Nikolaikirche im Frühjahr 1990 vorbereitet werden. Jürgen Teller, als früherer – von der StaSi verfolgter – Bloch-Assistent war als einleitender Referent vorgesehen. Die Leipziger Bürgerbewegungen wollten zu dieser Veranstaltung einladen.

Karola Bloch war von dieser Einladung sehr berührt. Sie wollte sie annehmen und sich auf die Seite der Demokratie „von unten“ stellen. Doch zu diesem Auftritt kam es nicht. Ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich. Die 85-Jährige konnte nicht reisen. Ein besonderer Moment in Leipzig fand nicht statt. Dieser konnte auch nicht mehr nachgeholt werden.

Schon im Herbst 1989 hatte Jürgen Teller, dem die DDR-Regierung seinen wissenschaftlichen Werdegang zerstörte, nach Tübingen geschrieben: „Karola, […], fehlt uns heute in Leipzig.“

Lesehinweis: Welf Schröter: Utopie und Moral. In: Francesca Vidal (Hg.): Wider die Regel. Mössingen 1991. S. 53-69. ISBN 978-3-89376-015-2

„dann erst kann … wahrhaft Freiheit sein“

Inschrift „Tempel des Literaturgottes“ auf der Leipziger Buchgrafik-Ausstellung gegen den nahenden Krieg 1914 (Foto: © Welf Schröter)

Es waren nicht nur Tausende von Menschen auf dem „Platz des himmlischen Friedens“. In zahlreichen Städten Chinas gingen Millionen von Menschen für mehr Demokratie und Freiheitsrechte auf die Straße. Sie forderten keinen Umsturz, sie forderten Verbesserungen für ihr Land. Sie gingen im Geiste ihrer Literatur und Lesekultur, ihrer Bücher und ihres kulturellen Wissens auf den großen Platz der Öffentlichkeit.

Als vor 25 Jahren am 4. Juni 1989 in Peking mit Waffengewalt gegen Studenten, Arbeiter, Professoren, Schriftsteller vorgegangen wurde und am Ende mehrere tausend Tote auf der Straße lagen, ging ein Schock nicht nur durch die Oppositionsbewegungen in Leipzig, Warschau und Prag. Würden die Kommunistischen Parteien auch dort zu den Waffen greifen lassen? Hätte die „Samtene Revolution“ eine Chance?

Im Juni 1989 nahm Karola Bloch die Nachrichten von Tiananmen-Platz mit tiefem Erschrecken zur Kenntnis: „Es ist furchtbar, was in Peking geschieht. Sie erschlagen Menschen und lassen sie hinrichten, obwohl sie gar nicht Feinde des Sozialismus sind, sondern lediglich Demokratie und Reformen verlangen. Ich bin entsetzt, wenn ich erfahre, wie Menschen zum Tode verurteilt werden. Es ist etwas so Unwiederbringliches. Sind wir jetzt nicht zu Ende mit dem Kommunismus?“ (Sehnsucht 2, 94)

Für sich persönlich beantwortete Karola Bloch die gestellte Frage negativ: „Ich sehe, dass der Kommunismus nicht fähig war, die Menschen zu ergreifen und zu erobern.“ Dabei unterschied sich ihr persönliches Verständnis der kommunistischen Idee von denen Stalins, Ulbrichts und andere grundlegend. Für die Polin, Architektin und Sozialistin aus jüdischem Haus waren Freiheit und Demokratie untrennbar mit dem Tagtraum eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ verbunden.

Ähnlich hatte sich ihr späterer Mann Ernst Bloch schon 1918 gegen den Ersten Weltkrieg als sehnlichst Hoffender und enttäuscht Kritiserender der „Russischen Revolution“ geäußert: „Erst muß diese Phase: die bürgerliche, die politische Freiheit, das demokratische Minimum überall, vor allem aber in den Zentralstaaten, zu Ende gebracht werden; dann erst kann die soziale Freiheit, die ökonomisch-soziale Demokratie, das demokratische Maximum wahrhaft Freiheit sein und bleiben.“

Und an anderer Stelle schrieb er: „Weil also Marx allein mit dem Hochkapitalismus zu rechnen gelehrt hatte, gab man der beginnenden proletarischen Fabrikverschmutzung Rußlands als der programmgemäßen Antithesis in kommunistisch-kapitalistisch-sozialistischer Wirtschaftsdialektik den gottlosen Segen; und machte gerne, mit der Minderheit an Soldatenpöbel und Fabrikarbeitern, preußisch-zaristische ,Diktatur des Proletariats‘.“

Es gibt Dinge, über die heute ein anständiger Mensch nicht zweierlei Meinung sein kann. So eines der gängigen Bloch-Zitate. Wer heute also die Unabgegoltenheit Blochschen Denkens artikuliert oder artikulieren will, wird dies vom Standpunkt der Überlebenden des Tiananmen vom Juni 1989 aus leisten müssen, wenn Glaubwürdigkeit die eigene Rede prägen soll.

 

Anne Frommann, Welf Schröter (Hg.): Karola Bloch – Die Sehnsucht des Menschen, ein wirklicher Mensch zu werden, Reden und Schriften. Zwei Bände, Mössingen 1989.

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