Reich der Notwendigkeit – Reich der Freiheit

Unter dem Titel „Reich der Notwendigkeit – Reich der Freiheit: Arbeitswelten in Literatur und Kunst“ lädt der Verband deutscher Schriftsteller zu seiner Tagung vom 26.–28. Mai 2017 nach Berlin ein. Der Wandel der Arbeit und das Thema Arbeitswelten in der Literatur stellen die Leitmotive des Treffens dar.

„Arbeit wurde in einem Wörterbuch um 1800 beschrieben als Mühe, Last und Verausgabung, auch Abnutzung und bisweilen Qual. Immer stand aber dem „Reich der Notwendigkeit“ auch die Sehnsucht nach dem „Reich der Freiheit“ gegenüber, das nur auf der Basis der materiellen Produktion aufblühen könne, d.h. es galt den Traum zu verwirklichen, so würdig und wirksam wie möglich zu arbeiten und jenseits dessen viel Zeit für autonome, selbstbestimmte Erfüllung individueller Bedürfnisse zu finden. In Kunst und Literatur, im Theater und in der Musik wurde Arbeit vielfältig thematisiert. Wie diese selbst sich im Laufe der Geschichte veränderte, fand auch die Verarbeitung spezifische Ausdrucksformen.“

Eine Veranstaltung der Gewerkschaft ver.di, des Bildungs- und Begegnungszentrums Clara Sahlberg, der GewerkschaftsPolitische Bildung gemeinnützige GmbH,
des Ver.di Bundesfachbereichs Medien-Kunst-Industrie, des Ver.di Landesbezirks Nord, des Bundesvorstands des Verbands deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS), des Talheimer Verlags und von CLARA e.V. In Kooperation mit dem Germanistischen Institut an der Schlesischen Universität Katowice.

Zu den Vortragenden gehören Prof. Dr. Jost Hermand, Günter Wallraff, Heinrich Bleicher-Nagelsmann, Lothar Schröder, Welf Schröter und andere. Siehe auch das vollständige Programm: pdf-Datei

Ungleichzeitigkeiten im „System der Systeme“

(Foto: © Welf Schröter)

(Foto: © Welf Schröter)

Nein, es ist nicht  die „Polyrhythmik der Materie“ von Ernst Bloch, die einem in den Sinn kommt, wenn Informatiker vom „System der Systeme“ (system of systems)(SoS) sprechen, um die Wirkungsweise eines scheinbar neuartigen technischen Zaubers mit der Rund-um-Sorglos-Lösung „Cyber-Physical Systems“ – kurz „CPS“ – zu erläutern. Es ist schon eher Blochs Kategorie der „Ungleichzeitigkeit“, die neue Fragen aufwirft und überprüft werden will. Der Diskurs „Arbeitswelt trifft Philosophie – Philosophie trifft Arbeitswelt“ erhält so ein weiteres Themenfeld.

Zunächst handelt es sich nur um die Montage von Sensoren und Chips auf Bauteile, Werkzeuge und Gegenstände. Die „Dinge“ sollen „Intelligenz“ bekommen. Darunter ist keineswegs ein sozialwissenschaftlich-philosophischer Begriff von „Intelligenz“ gemeint. Die IT-Welt erkennt in der Zuordnung von Daten zu Dingen, deren GPS-Ortung und Online-Abrufbarkeit, deren Remote-Steuerbarkeit und deren automatisiert-„selbstständige“ „Kommunikation“ mit anderen Sensoren und Chips einen neuen Weg zur Echtzeit-„Schwarmintelligenz“.

Wenn solche Einzel-CPS sich zu CPS-Flotten „selbsttätig“ zusammenschließen, lässt sich vom flexiblen „System der Systeme“ sprechen. Die „SoS“ ordnen sich auftragsbezogen prozessorientiert stetig neu. Sie bilden ständig neue „Schwärme“. In Echtzeit. Eine unscharfe Betrachtung fasst diese Vorgänge als „intelligent“. Besser noch: Dem CPS-Verbund als „SoS“ wird die „Eigenschaft“ zugeschrieben, er könne „denken“. Eine Formulierung, denen die Sozialwissenschaften sofort mit Verve widersprechen.

Doch die wirkliche Herausforderung liegt weniger in der angeblichen Potenzialität eines Denkvermögens sondern in der Prognose: „CPS denkt voraus.“ In diesem „voraus“ steckt die wirkliche „Challenge“.

Mit diesem „Voraus“ erhebt das „selbstlernende System der Systeme“ den Anspruch, Arbeitsprozesse vorzustrukturieren, den Menschen in der Arbeit zu „führen“, ihm Vorgaben zu machen, örtlich, zeitlich, taktvorgebend. Die Verknüpfung von mehreren CPS-Lösungen zu einem „System of Systems“ ermöglicht die horizontale Vernetzung unterschiedlichster Prozessdaten für die echtzeit-automatisierte Steuerung von Produktion, Service und Mensch. An die Stelle der emanzipatorisch erhofften Autonomie und Selbstbestimmung des arbeitenden Menschen tritt ein neuer Gedanke: Das Produkt steuert mit Hilfe der „SoS“ die Fertigungsprozesse und die menschlichen Bewegungen samt Taktrhythmen. Die Fragen nach der Entfremdung und deren Aufhebbarkeit sind neu zu stellen.

Das „Voraus“ beinhaltet nicht nur eine lineare zeitliche Vertaktung nacheinander ablaufender Handlungsschritte. Darin findet sich ebenso die zeitliche Überholung – im Sinne von Geschwindigkeit – der menschlichen Wahrnehmung und Reaktionsfähigkeit durch „Echtzeit-Kommunikation“ der „SoS“. In diesem „Voraus“ wird der Prozessablauf nach vorne strukturiert. Im „Idealfall“ ist „S-o-S“ der Handlung des arbeitenden Menschen mindestens zwei Schritte voraus.

Soziale Technikgestaltung müsste demnach entweder durch geeignete Assistenzsysteme die CPS/„S-o-S“ interventionistisch adäquat in Echtzeit personalisieren – d.h. auf die Geschwindigkeit des handelnden Menschen verlangsamen – oder die Vorbedingungen und Vorstufen der Prozessstrukturverankerung im CPS/„S-o-S“ beeinflussen im Sinne der Humanisierung des Arbeitsablaufes und seiner Rahmenbedingungen.

Soziale Technikgestaltung muss sich also die Welt der CPS/„S-o-S“ als ein zentrales Thema vornehmen im Sinne von: „Humanität denkt voraus.“ Dem technikzentrierten Leitbild einer Strategie „Industrie 4.0“ muss ein menschenzentriertes, menschengerechtes Leitbild gegenüber- bzw. entgegengestellt werden. Die Latenz des Tagtraumes eines humanen Arbeitslebens benötigt eine ungleichzeitige Aktualisierung in die Gegenwart. Die konkrete Utopie der Arbeit kommt nicht aus dem „SoS“, sondern wesentlich aus den kategorischen Imperativen vorgelagerter Erfahrungsdispositionen und „belehrten Hoffnungen“.

Autonomie und Freiheit

Nancy Fraser (Foto: © Welf Schröter)

Ist die Forderung nach einer existenzialistisch begründeten Autonomie des Individuums in unseren gegenwärtigen Gesellschaften eine ausreichende Anforderung an Veränderung? – Gegen diese Sicht ergriff Nancy Fraser, amerikanische Philosophin, freundlich aber bestimmt Partei gegen André Gorz. „Not sufficient, nicht ausreichend“ sei diese Position. Als Anhängerin von Herbert Marcuse wollte Fraser das Thema soziale Gerechtigkeit, die Forderung nach „equal freedom“ ebenso berücksichtigt wissen. Autonomie an sich sei noch kein Motor für „transitorische Reformen“ (Fraser). Doch Gorzens Traum der Emanzipation des Menschen könne sie viel abgewinnen.

Die theoretischen Provokationen von André Gorz gipfelten in der frühen Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen. Er war ein Schüler Jean-Paul Sartres und hatte sich doch mit ihm überworfen: André Gorz (1923-2007), existenzialistischer Marxinterpret und politischer Ökologe, der die Neue Linke Europas 1980 mit seinen Thesen des „Abschieds vom Proletariat“ zu recht herausforderte und der 1983 „Wege ins Paradies“ pointierte. Aus Anlass seines fünften Todestages kamen am 16. November 2012 in Potsdam auf Einladung der Heinrich-Böll-Stiftung Brandenburg und der Ernst-Bloch-Gesellschaft zur Tagung „Paradise now“ rund einhundert Gorz-Freunde und Gorz-KritikerInnen zusammen.

Gorz legte einen neuen Arbeitsbegriff seinem Denken zugrunde und verlangte eine Umverteilung von Arbeit für neue gesellschaftliche Zeitstrukturen sowie mehr individuelle Eigenzeit. Doch er blieb dabei den Grundkategorien der Kulturen industrieller abhängiger Erwerbstätigkeit verhaftet. Die Entgrenzung der Arbeit durch die heraufziehende Informatisierung der Arbeit unterschätzte er. André Gorz war ein wichtiger Wegbereiter für ein unabhängiges emanzipationsorientiertes Denken. Seine Herkunft aus einem jüdischen Elternhaus und das Erleben der Schrecken von Nazismus und Antisemitismus begründeten zugleich sein stetes Bedürfnis nach einer „authentischen Existenz“.