Befreiung und Hoffnung

Heinrich Bleicher-Nagelsmann (Verband deutscher Schriftsteller VS) am 8. Juli 2015 in Mössingen. - Foto: © Welf Schröter

Heinrich Bleicher-Nagelsmann (Verband deutscher Schriftsteller VS) am 8. Juli 2015 in Mössingen. – Foto: © Welf Schröter

Die Zahl derer, die in Europa Grundprinzipien der Demokratie und deren Praxis in Frage stellen, nimmt in vielen Ländern zu. Europa als demokratisches Friedensversprechen gegen die Verbrechen des Nationalsozialismus gewinnt unter jungen Menschen jedoch an Anziehung. Im Gegensatz dazu wachsen eher innerhalb der mittleren und älteren Generation Zweifel und Distanz. Diese Menschen suchen auf ihre Enttäuschungen zumeist Antworten in der Vergangenheit, – nicht als aufzuhebende Erbschaft ungleichzeitiger Erfahrungen sondern als eindimensionaler Fluchtpunkt rückwärts.

Am 8. Juli 2015 kamen in Mössingen zahlreiche Nachdenkliche zusammen, um sowohl an den 70. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus durch die Alliierten wie auch an den 130. Geburtstag Ernst Blochs zu erinnern. Im Rahmen der Veranstaltung wurde auch des verstorbenen Harold Livingston (Helmut Löwenstein) gedacht. Er war der Sohn des jüdischen Mitbegründers des Textilunternehmens Pausa, Artur Löwenstein. Die Pausa arbeitete vor 1933 eng mit dem Bauhaus in Dessau zusammen. Die Belegschaft der Pausa löste den „Mössinger Generalstreik“ gegen Hitler am 31. Januar 1933 aus. Das Unternehmen wurde 1936 zwangs„arisiert“. Helmut Löwenstein wurde mit seiner Familie und seinen Verwandten 1936 von Nationalsozialisten aus Mössingen und Stuttgart vertrieben. Er kehrte 1945 als 22-jähriger Soldat der britischen Armee nach Deutschland zurück und gehörte zu den Befreiern des KZ Bergen Belsen. Unter dem Namen Harold Livingston lebte und starb Helmut Löwenstein in London.

In seiner Rede zum Thema „Befreiung und Hoffnung – 70 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus“ ermutigte Heinrich Bleicher-Nagelsmann vom Vorstand des Verbandes deutscher Schriftsteller (VS) seine Zuhörerinnen und Zuhörer, sich für ein demokratisches und soziales Europa in der Tradition von Ernst und Karola Bloch einzusetzen. Achtzig Jahre nach der Vertreibung der in Mössingen arbeitenden jüdischen Bürgerinnen und Bürger lohnt es sich, diese Rede noch einmal zu lesen (Rede_Heinrich_Bleicher-Nagelsmann_2015).

Richard von Weizsäcker und Karola Bloch

Denkmal zur Erinnerung an den jüdischen Aufstand im Warschauer Ghetto (Foto: © Welf Schröter)

Denkmal zur Erinnerung an den jüdischen Aufstand im Warschauer Ghetto (Foto: © Welf Schröter)

Es war das Jahr 1984. Karola Bloch hatte ihren 79. Geburtstag gefeiert. Als Polin, Deutsche, Jüdin und Antifaschistin wurde sie Wochen später gefragt, ob sie bereit wäre, eine symbolische Kandidatur zum Amt einer Bundespräsidentin anzunehmen. Der offizielle Kandidat hieß damals Richard von Weizsäcker.

Karola Bloch zögerte mit ihrer Antwort auf die im kleinen Kreis in ihrer Tübinger Wohnung gestellte Frage. Ein langer Zug an ihrer Zigarette. Schließlich lehnte sie mit vorsichtigen Worten ab. Die deutsche Gesellschaft sei noch nicht reif für eine jüdische Kandidatin aus Polen. Sie wollte die deutsch-polnischen Beziehungen nicht belasten. Sie dachte an die Ermordung ihrer Familie im KZ Treblinka, die zuvor im Warschauer Ghetto von den Nationalsozialisten interniert war.

Wenige Monate vor seinem Tod zollte Richard von Weizsäcker noch einmal seinen Respekt vor Karola Bloch. Die beiden waren sich nie begegnet. Sie hätten sich mit Hochachtung die Hand gereicht.

Als Antje Vollmer bei der Trauerfeier für den verstorbenen Bundespräsidenten an dessen Rede zum 40. Jahrestag der Befreiung am 8. Mai 1985 einging, verglich sie deren Wirkung mit dem Kniefall Willy Brandts in Warschau. Er kniete vor dem Ehrenmal zur Erinnerung an die Toten des jüdischen Aufstandes im Warschauer Ghetto.

Antje Vollmer gab dem Kniefall und der Rede eine besondere Bedeutung, die in ihrer Tragweite erst heute richtig erkennbar wird:

„Beide Politiker nahmen so ein wenig den traumatisierten europäischen Nachbarn die Angst vor den Deutschen und sie erlaubten uns, den damals Jüngeren, ganz vorsichtig wieder einzuwandern in das eigene Land, in dem wir gelebt hatten wie Fremde. Es war wie eine Eisschmelze – es konnte wieder Vertrauen investiert werden.“

 

Nichts ist vergessen

(Foto: © Welf Schröter)

(Foto: © Welf Schröter)

Siebzig Jahre nach der Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee der Sowjetunion ist die Erinnerungsarbeit inzwischen auch auf die „Dritte Generation“ übergegangen. Die unauslöschliche Traumatisierung wächst hinüber in die Leben der Nachgeborenen. Die Verantwortung geht in neue Hände.Wer von Traumata geplagt und geprägt ist, kann Forderungen nach einem sogenannten „Schlussstrich“ und nach dem verletzenden Ausruf „Nun muss das aber mal endlich ein Ende haben“ nur mit ungläubigem Kopfschütteln und begründetem Widerspruch  beantworten. Die Erwartung eines „Schlussstrichs“ entstammt dem Denken der Täter, auch der „Zweiten Generation“ der Täter. Diese und deren Nachkommen werden die andauernde Wirkmächtigkeit der Traumatisierungen anerkennen und respektieren müssen.

Die Shoah ist in unser aller Bewußtseinsschichten eingebrannt. Vielleicht lässt sich das Denken an den Holocaust zuweilen im Alltag überdecken und zeitweise verschütten. Doch dieses Brandmal wirkt in unseren sich zeitlich überlappenden Erfahrungsschichten ungleichzeitig weiter. Die Shoah wird nie abgegolten sein. Dieses Weiterwirken kann vielleicht durch verantwortungsgetriebenes Rückerinnern gelindert, nicht jedoch aufgehoben werden.

Wie sehr unreflektierte Tätersprache noch immer aktuell ist und verletzen kann, lässt sich an zwei journalistischen Formulierungen aus Tageszeitungen des Januar 2015 ablesen. Da wird vom „Ghetto Lodz“ und vom „polnischen Auschwitz“ geschrieben. Man muss nicht zur jüngsten Trauma-Generation gehören, um festzustellen, dass es das deutsche KZ „Litzmannstadt“ auf dem Boden der polnischen Stadt Lodz war. Auf der Gemarkung nahe der polnischen Stadt Oświęcim wurde das deutsche KZ Auschwitz errichtet.

Verletzend wirkt auch jene Aussage öffentlicher Amtsträger, die eine Einladung an Vertreterinnen und Vertreter der „Dritten Generation“ der Opfer mit dem Hinweis ablehnen, es sei nun genug getan und alles weitere sei Privatsache. Eine solche Haltung beleidigt nicht nur die Nachkommen der Überlebenden.

Vor diesem Hintergrund ist der Satz von Bundespräsident Joachim Gauck „Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz“ eine ermutigende Positionsbestimmung und Haltung. Die Erbschaft jener Zeit darf heute nicht auf Täterdenken verkürzt und verdreht werden. Es gilt, die Legenden der Täter offen zu legen und den inneren Erbschaften der Opfer und ihrer Nachkommen zuzuhören.

Das Unaussprechliche befindet sich nicht im Wort „damals“ sondern in der Ortsangabe „dort“. Der Raum wirkt im Gegenwärtigen.

Das Unabgeltbare der Shoah weitet die Unabgegoltenheit erinnerter Spuren. Die Shoah wurde und wird auch Teil von Ernst Blochs Genesis-Perspektive. Das Ungleichzeitige durchdringt den Wunsch nach dem werdenden Wir. Die Shoah entzieht sich dem Bestreben nach dialektischer Aufhebung.

 

 

Vor 80 Jahren erschien Ernst Blochs „Erbschaft dieser Zeit“

(Foto: © Welf Schröter)

(Foto: © Welf Schröter)

„Hier wird breit gesehen. Die Zeit fault und kreißt zugleich. Der Zustand ist elend oder niederträchtig, der Weg heraus krumm. Kein Zweifel aber, sein Ende wird nicht bürgerlich sein.“ Mit diesen Worten führte Ernst Bloch, der Philosoph des „Noch-Nicht“ und vehemente Kritiker des Nationalsozialismus, in sein Werk „Erbschaft dieser Zeit“ ein, das im Jahr 1935 in der Schweiz erschien. Als das lange verschollene Buch 1962 vom Autor neu veröffentlicht wird, begrüßt Enzensberger den Band und wendet die methodische Herangehensweise zugleich in die Gegenwart: „Wo aber wäre der Kritiker, der uns die Erbschaft unserer fünfziger Jahre beschriebe, so wie Bloch die seiner Zeit, satt von Anschauung und Erinnerung und hungrig vor Hoffnung?“

„Das Buch ist ein Handgemenge“, schrieb Bloch in den dreißiger Jahren. Im Zentrum steht der Begriff „Ungleichzeitigkeit“, den Bloch Marx aufnehmend auf die Geschichte der Sehnsüchte der Menschen am Ende der Weimarer Republik anlegt und mit dem er zudem den einseitigen analytischen Kältestrom der Komintern kritisierte. „Erbschaft dieser Zeit“ zählt noch heute zu den wichtigsten Erklärungshelfern, wie es zum „Schrecken-Deutschland“, zum Nationalsozialismus kommen konnte. Wenn im Jahr 2015 an die Befreiung Europas vom Nationalsozialismus erinnert wird, sei den Akteuren die Lektüre dieser Schrift vorab empfohlen.

Der „ungleichzeitige Rest“ (Bloch) des alten militärisch-feudalen wilhelminischen Kaiserreiches im Bewusstsein Weimars und die unzureichende Erfüllung der Novemberrevolution haben die Wünsche und Träume der Menschen empfänglich gemacht für die „anachronistische Verwilderung“ (Bloch). Zuwenig hätten die Gegner der NS-Propaganda den „Wärmestrom“(Bloch) die „Schatzkammern einer nicht ganz aufgearbeiteten Vergangenheit“ begriffen und ergriffen. „Der subjektiv ungleichzeitige Widerspruch ist gestaute Wut, (…).“

Im Jahr 2015 ist erneut „gestaute Wut“ zu erkennen, wenn auch eine andere. Ein Blick in „Erbschaft dieser Zeit“ kann beim notwendigen Handeln die „Breite“ sowie den „Stachel der Unsicherheit“ sichtbar machen helfen. „Schon morgen ist jedes Jetzt anders da“(Bloch).

 

Arbeit und Identität

(Foto: © Welf Schröter)

(Foto: © Welf Schröter)

Im Rahmen des Diskurses „Identität in der Virtualität“ ergriff der Tübinger Dozent und Philosoph Matthias Mayer in der Reihe „Arbeitswelt trifft Philosophie – Philosophie trifft Arbeitswelt“ das Wort. Er suchte die Verbindung zwischen Arbeit und Identität. Dabei wandte er sich dem Werk des Bloch-Schülers Eberhard Braun zu, der in seiner kritischen Adaption Hegels schrieb:

„Arbeitend erhebt das Selbstbewusstsein sich von seinem Versenktsein in das natürliche Sein zu einem übernatürlichen, geistigen Sein. Arbeit ist, so müssen wir sagen, im Kern absolute Abstraktion, der Beginn der Negation der Negation und deshalb der Anfang des Geistes.“ (Eberhard Braun)

„Hegel begreift das Wesen des Menschen als Prozess der Selbsterzeugung durch Arbeit. Dies ist das Moment, das es zu bewahren und fortzubilden gilt.“ (Eberhard Braun)

Bezugnehmend auf das von ihm mitherausgegebene Buch „Eberhard Braun: Die Rose am Kreuz der Gegenwart. Ein Gang durch Hegels ,Phänomenologie des Geistes‘“ führte Mayer aus:

„Es gibt, verkürzt, zwei Arten der Aufhebung, d.h. der Überwindung der Welt der Erscheinung, der Überwindung der Spaltung der Welt in Subjekt und Objekt. Die eine, von Schelling bevorzugte wie beschriebene, soll durch einen ,mystischen Moment‘ der Unmittelbarkeit sich vollziehen; er nennt sie ,intellektuelle Anschauung‘ . Die andere, von Hegel präferierte und erörterte, soll reflexiv, durch die ,Anstrengung des Begriffs‘  – auch sie spielt hinein in die Symbolik der Rose – gelingen, d.h. durch die mühsam in Begriffen vermittelte Erkenntnis, die zur absoluten Erkenntnis und absoluten Identität führt. ,Wahre Gedanken und wissenschaftliche Einsicht ist nur in der Arbeit des Begriffes zu gewinnen.‘ Beiden Systemen geht es um Identität. Bei Schelling ist sie in der Natur schon a priori grundgelegt.“

Der Charakter der Arbeitswelt ändert sich durch den voranschreitenden Prozess der Digitalisierung und Virtualisierung. Um den Wandel des Kerns der Arbeit zu erkennen und um die Bildung des Ich und der Identität zu erfassen, sei auf eine wesentliche Aussage Brauns verwiesen:

„Aus der Arbeit geht nicht nur die praktische Bildung hervor, die Verbesserung in der Beherrschung natürlicher Dinge. Auch alles theoretische Wissen geht aus der Arbeit hervor. Daraus lässt sich schließen: für Hegel hat Erkenntnis primär die Verfassung von Arbeit. Wie die Arbeit ist auch Erkennen ein Formieren des Gegebenen, und dieses Formieren ist ein Humanisieren, ein Vermenschlichen des ursprünglich den Menschen Fremden. Wenn dies aber richtig ist, dann ist Arbeit der Schlüsselbegriff zu Hegels Philosophie im Allgemeinen und im Ganzen.“ (Eberhard Braun)

Die Befreiung der Arbeit bedarf der Erkenntnis ihrer Entfremdung. Identität entsteht aus Arbeit: „Arbeitend erhebt der Mensch sich zum Denken, zur Vorstellung des Allgemeinen.“ (Braun)

Siehe: Eberhard Braun: Die Rose am Kreuz der Gegenwart. Ein Gang durch Hegels „Phänomenologie des Geistes“. Mit einer Einleitung von Matthias Mayer.

Harold Livingston (1923 – 2014)

Harold Livingston (Foto: © Welf Schröter)

Harold Livingston (Foto: © Welf Schröter)

Es war der 22. Juli 2009, als sich in der schwäbischen Kleinstadt Mössingen am Rande der Schwäbischen Alb zwei Männer trafen, die sich zuvor nie begegnet waren und doch indirekt verbunden schienen. Der Philosoph und Naturwissenschaftler Jan Robert Bloch gab dem Unternehmer Harold Livingston die Hand.

Monate später schrieb Jan Robert Bloch in seinem letzten Text vor seinem Tod über das Treffen in Mössingen: „Etwas stieg auf, was entschwunden schien. Etwas kehrte ein, wovon kaum jemand sprach.“ Jan Robert Bloch erinnerte sich an die Freundschaft seiner Eltern Ernst und Karola Bloch mit Adolph Lowe und Beatrice Lowe geb. Löwenstein.

Nur wenige Wochen vor seinem 91. Geburtstag im Oktober starb Harold Livingston in London. Er war der Sohn von Artur Löwenstein, dem Bauhaus-Anhänger und Mitbegründer des Mössinger Textilunternehmens Pausa sowie Bruder von Beatrice Löwenstein. Als 13-jähriger Junge wurde er zusammen mit seinen jüdischen Eltern und weiteren Angehörigen von den Nationalsozialisten vertrieben. Die Firma Pausa wurde in einer geplanten Aktion zwangs„arisiert“. Als 22-jähriger kam Harold Livingston als britischer Soldat zurück. Er gehörte nicht nur zu den Befreiern Deutschlands von der NS-Diktatur sondern auch zu den Befreiern der Inhaftierten im KZ Bergen-Belsen.

Auf Grund der Initiative von Bürgern konnten im Jahr 2009 Mitglieder der Familie Löwenstein 73 Jahre nach ihrer erzwungenen Emigration erstmals wieder Mössingen besuchen. Im Namen der Stadt entschuldigte sich der damalige Oberbürgermeister bei der Familie. Beim seinem dritten Besuch im Sommer 2013 kam Harold Livingston auf Einladung des Theaters Lindenhof und des Löwenstein-Forschungsvereins in die Steinlachstadt. Er nahm als Ehrengast an der Aufführung des Stückes „Ein Dorf im Widerstand“ teil. In einer beeindruckenden Rede entschuldigte sich bei diesem Aufenthalt der örtliche Landrat persönlich bei Harold Livingston für das verbrecherische Verhalten der Behörden und der Bank im Jahr 1936 im Zuge der Enteignung von Artur und Felix Löwenstein.

In hohem Alter konnte Harold Livingston wieder Zugang finden zu den Orten seiner Kindheit, Stuttgart und Mössingen. In Jan Robert Bloch hatte er einen sensiblen Gesprächspartner gefunden. Für den damals 72jährigen Bloch war das Zusammentreffen mit dem damals 85-jährigen Livingston das Symbol für eine andere, glaubwürdige und authentische Erinnerungskultur. Beide standen sie gegen jedwede Ausprägung des Antisemitismus.