Dialektik der Ungleichzeitigkeit

Altes Industriegesellschaftliches vermischt sich mit neuem „Informationsgesellschaftlichem“. Der Druck am Arbeitsplatz wächst nun drastisch an. Der Inhalt der Worte Markt, Wettbewerb, Globalisierung nimmt den Atem. Der Druck spitzt sich weiter zu und unterwirft Arbeit und Leben dem Diktat der Ökonomisierung der Zeit. Die Versuche, auf dieses Diktat der Ökonomisierung der Zeit zu reagieren, einander wieder etwas Luft zu verschaffen, auf die Herausforderungen zu antworten, vollziehen sich selbst immer mehr unter den Spielregeln und mit den Schlagworten der Ökonomisierung der Zeit.

(Foto: © Welf Schröter)

(Foto: © Welf Schröter)

Diese erinnern daran, dass zwischen den Schichtungen unseres Bewusstseins, zwischen den Teppichen der erlebten Zeit alte Tagträume lagern, die noch nicht erfüllt, nicht eingelöst sind. Zu dem Wunsch nach dem Wiederentdecken des menschlichen „Arbeitsvermögens“  gesellten sich qualitative Fragen nach dem Unabgegoltenen früherer Auseinandersetzungen. Wo sind die enttäuschten Hoffnungen früherer Jahre? Wo sind die alten und älteren Tagträume des öffentlichen Raumes abgeblieben? Unter welchen Bewusstseinschichtungen und unter welchen Erfahrungsteppichen liegen sind verborgen, nicht verloren, aber noch nicht wieder gefunden? Wie lassen sich diese alten Schätze finden und heben?

Diese Schätze stehen nicht in den Bibliotheken, in den Datenbanken, in den Social Medias. Sie sind aufbewahrt in den Gedächtnissen der handelnden Menschen, in den Gedächtnissen gesellschaftlich-öffentlicher Diskussionen, in den Gedächtnissen von öffentlichen Tagträumen, der erfüllten und nicht-erfüllten, der enttäuschten und unabgegoltenen. Sie sind – blochianisch ausgedrückt – als Ungleichzeitige mit uns gleichzeitig vorhanden, aber für uns nicht immer erkannt. Sie sind latent da. Mit dem Begriff „Ungleichzeitigkeit“ lassen sich wie Teppiche überlagerte Bewusstseinsschichten Schritt für Schritt, bildlich gesprochen Teppich für Teppich, wieder zugänglich und auffindbar machen.

Bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts gab es eine relativ einheitliche Arbeitswelt und eine relativ einheitliche Vorstellung davon, was Arbeit ist und wie man sie regelt. Diese relative Einheitlichkeit ergab für die Menschen die Chance der persönlichen Lebensplanung. Der eingetretene Entmischungsprozess wird durch den Einsatz neuer Technologien, durch Informations- und Kommunikationstechnik enorm beschleunigt.

Der Entmischungsprozess bedeutet in der Umkehrung, dass die alte Einheitlichkeit nicht wieder rückholbar ist. Es gilt zu überlegen, wie eine neue gemeinsame Grundlage unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens, unseres solidarischen Miteinanders aussehen kann. Die Erbschaft des alten Solidaritätsgedankens verfügt über viele Schichtungen, über Unerfülltes, Uneingelöstes, Unabgegoltenes. Die ungleichzeitigen Schätze der Solidarität liegen noch zwischen den besagten Teppichen. Es sind Splitter aus Ethik, Moral, Erfahrungen, Enttäuschungen, die wir benötigen, um ein neues Leitbild einer solidarischen Gesellschaft hervorzubringen.

Ein solches neues solidarisches Bild einer Gesellschaft wird nicht mehr allein über den Begriff Arbeit definiert und bestimmt werden. Dies ergibt sich aus dem Erosions- und Entmischungsprozess der Arbeitswelt selbst. Arbeitsvermögen, Tätigkeiten, „tätige Muße“ (Bloch), kreatives Arbeiten, gesellschaftliches Mindesteinkommen, Teilhabe an der Gesellschaft werden neu miteinander verknüpft werden müssen.

Mit neuen Fragen können wir in neuer Weise auf die Erfahrungs- und Bewusstseinsschichtungen, auf und unter die Teppiche blicken. Wir finden dadurch Neues, indem wir neu fragen. Die Antworten auf unsere neuen Fragen können wir zum Teil aus unserem ungleichzeitigen gesellschaftlich-geschichtlichen Gedächtnis gewinnen. Denken wir an das Thema Zeit, dass sich durch die Jahrhunderte und Jahrtausende menschlich erlebter Geschichte zieht. Es gab schon gute Antworten, aber sie sind verschüttet. Es gilt, sich zu erinnern.

Für Ernst Bloch lag die Genesis in der Zukunft. Heimat entsteht für ihn in der Zukunft als Ergebnis gesellschaftlichen Handelns.

 

Identität der Entfremdung

Andreas Boes (Foto: © Welf Schröter)

Der Münchner Sozialwissenschaftler Andreas Boes hat sich auf einer gemeinsamen Stuttgarter Tagung der Evangelischen Akademie Bad Boll und des Forum Soziale Technikgestaltung in gebotener Schärfe mit dem Wandel der Arbeit in der globalen IT-Wirtschaft auseinandergesetzt.

Mit spitzer „Feder“ seziert er dabei die sich ausbreitende Strategie großer Konzerne, ihre Stammbelegschaften zu verkleinern und diese gleichzeitig in einen alltäglichen Wettbewerbsstress mit den global nomadierenden Freelancern zu treiben.

Neue Leistungssysteme sollen Feste (Jobbing) mit Freien (Tasking) dynamisch gegeneinander verschränken. Boes spricht vom sich radikalisierenden „System permanenter Bewährung“. Die ausgeweitete Transparenz offenbart stetig das Leistungsvermögen des Einzelnen und ordnet ihn in Rankings ein. Der sich verkehrende Community-Traum der „Liquids“ spült mit der Gestik des Innovativen soziale Sicherheiten beiseite. 

Der ideologisierende Imperativ der Community „Privatheit ist Diebstahl“ reduziert das Individuum zur „funktionalen Identität“ (Boes), die ständig hohe Leistung und Kreativität entäußern muss. „Funktionale Identitäten“ sind technikgestützte Wettbewerbsrollen im „globalen Informationsraum“ (Boes) im Prozess digitaler oder digital assistierter Wertschöpfung mit Hilfe des Auswahlmodells Crowdsourcing. Auch die dabei noch verbliebenen Kapazitäten an Individualität und „Creativity“-Alleinstellungsmerkmalen werden nun der „Inwertsetzung“ (Boes) unterworfen.

Die Analyse von Andreas Boes und die Darlegung der „funktionalen Identität“ offenbaren die Kräfte der Entfremdung, die in den globalen Informationsgesellschaften auf Erwerbstätige und Erwerbssuchende einwirken. Doch hinter bzw. unter der Bewußtseinsschicht der Rolle „funktionale Identität“ liegen die noch unabgegoltenen Bewußtseinsschichten des nach Eigenständigkeit und Unabhängigkeit strebenden kreativen Subjekts, das als Mensch nach Ausdrucksformen emanzipatorischer Identitätsstiftung sucht.

Das Eine ist mit dem Anderen nicht gleichzeitig. Das Alte wirkt weiter und wirkt in das Neue hinein. Rudolf Bahro sprach einst ganz dialektisch von der gesellschaftlichen Kraft „überschüssigen Bewusstseins“. So betrachtet ist das System Crowdsourcing immanent burnoutgefährdet. Schwarm-Intelligenz lässt sich nicht dauerhaft in ein System sperren. „Funktionale Identitäten“ sind nicht nachhaltig, auch ökonomisch nicht.

Entgegenständlichung von Arbeit

Foto: © Welf Schröter

Im 19. Jahrhundert hatte sich ein kritischer Kopf namens Karl Marx mit der Bedeutung der Arbeit für den Menschen befasst. In deutlicher Klarheit schrieb er: „Das praktische Erzeugen einer gegenständlichen Welt, die Bearbeitung der unorganischen Natur ist die Bewährung des Menschen als eines bewußten Gattungswesens …“ Diesen noch engen Begriff von Arbeit begann Eberhard Braun, ein Schüler des Philosophen Ernst Bloch, mehr als hundert Jahre später in seinen „Grundrissen einer besseren Welt“ zu hinterfragen: „Was heißt hier Arbeit?“ Wie hängen materielle Bearbeitung der Natur und Bewußtseinsbildung zusammen?

Braun geht über Marx hinaus und sieht in der Arbeit die „Produktion eines bestimmten gesellschaftlichen Verhältnisses“. Braun sucht die gesellschaftliche Dimension, wenn er argumentiert: „Arbeit ist nicht nur Stoffwechsel, Aneignung der äußeren Natur, sie stellt nicht nur einzelne lebensnotwendige Produkte her; insofern sie dies tut, produziert sie zugleich auch ein bestimmtes gesellschaftliches Verhältnis, einen bestimmten historischen Lebenszusammenhang …“

Dieser Kernsatz Braun’schen Denkens lässt sich nun auf eine aktuelle Transformation des Charakters von Arbeit übertragen: Welche Lebenszusammenhänge, welche gesellschaftlichen Verkehrsformen wird die fortschreitende Dematerialisierung und Virtualisierung eines wachsenden Teiles der Erwerbsarbeit nach sich ziehen? Wie wirkt sich die zunehmende Entgegenständlichung von Arbeit auf die Identitätsbildung und die soziale Realität des Menschen heute aus?

Alte Bewußtseinsschichten mehrerer Generationen wirken in den heutigen arbeitenden Generationen fort. Das Herstellen eines materiellen Gegenstandes gibt dem schaffenden Individuum Genugtuung und Selbstbewußtsein. Nun aber in Zeiten von „Neuen Infrastrukturen der Arbeit“, von „Industrie 4.0“ und von „Cyber-Physical Systems“ wird die Genugtuung und das Selbstbewußtsein mehr und mehr aus virtuellen Arbeitsumgebungen erwachsen müssen. Die „gesellschaftlichen Verhältnisse“ beginnen, schrittweise auf dem Zusammenwachsen – auf der Konvergenz – von Materiellem und Virtuellem zu basieren. Die Produktionsformen sind im Umbruch. Aus der alten Gemeinschaft wird eine neue Sozialität entstehen. Atomisiert oder community-orientiert?

In diesen Zeiten der Ungleichzeitigkeiten wird das Denken Eberhard Brauns, seine politische Philosophie der Hoffnung, wieder aktuell.