LATENZ – Journal für Wissenschaft und Gesellschaft, Arbeit und Technik, Kunst und Kultur

logo2Es wird anders. Die Welt befindet sich im Umbruch. Neue Technologien, neue Lebensweisen, neue Erfahrungswelten, aber auch neue Konfliktformationen. Die Zukunft ist offen. Aber sie ist nicht zufällig. Sie wird bedingt durch die ungleichzeitigen Dynamiken der Vergangenheit und die Ansprüche und Forderungen einer vielschichtigen Gegenwart. Der Philosoph Ernst Bloch sprach einst von der Front des historischen Prozesses, an der sich eine „objektiv-reale Möglichkeit“ ablesen lassen müsse:

„Dann eben, wenn Front den vordersten Abschnitt jener Zeit darstellt, in der es so wie bisher nicht weitergehen kann, und worin der nachfolgende Zustand, im Sprung stehend, auf der Kippe stehend, entschieden wird oder nicht. An unserem Jetztsein aber, es klärend, sein Gesicht aufschlagend, hat die Front sich letzthin zu bewähren“ (Ernst Bloch: Tübinger Einleitung in die Philosophie).

Das Journal „LATENZ“ versteht sich sowohl in der Tradition der Philosophie Ernst Blochs, fühlt sich aber nicht an dessen Stil und Methode des Philosophierens gebunden, wie auch in der Tradition der politischen Praxis Karola Blochs. Das Erkenntnisinteresse der Herausgeber/innen und der Redaktion besteht in einer konkret-utopischen Diagnose der Gegenwart. Dafür sind alle mit diesem Anliegen kompatiblen theoretischen und politischen Ansätze gefragt und willkommen. Das Verbindende bleibt der „aufrechte Gang“, die „moralische Orthopädie“, wie Ernst Bloch sie als Leitgedanken formuliert, d. h. das emanzipatorische Element aus der Tradition der Aufklärung, welches sich mit dem „guten und nützlichen“ Erbe des Christentums trifft.

Das Journal ist eine in unregelmäßigen Abständen erscheinende Buch-Zeitschrift, in der ver-sucht wird, offensichtliche wie verborgene, dominante oder auch nur auf Nebengleisen verlaufende gesellschaftliche Trends und Tendenzen zu analysieren und kritisch zu diskutieren. Wohin geht die Reise in Politik, Ökonomie, Technik, Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft? Welche „objektiv-realen Möglichkeiten“ birgt unsere Gegenwart? Worin besteht die Latenz des Jetzt?

Das Journal „LATENZ“ will ein Debatten-Forum sein. Autorinnen und Autoren unterschiedli-cher Fachdisziplinen und gesellschaftlicher Gruppierungen sollen eine Plattform erhalten, auf der innerhalb eines breiten Themenspektrums zwischen Gesellschaftstheorie und historisch-politischer Analyse, ökonomischer Prognose und ästhetischer Kritik versucht werden soll, die Gegenwart zu vermessen, deren innere Dynamik aufzuspüren und auf ihr eventuell emanzipatorisches Potenzial hin zu befragen.

Näheres siehe die Anlage (LATENZ).

„Wohlan, ich will aufrührerisch sein“

(Foto: © Welf Schröter)

(Foto: © Welf Schröter)

Es gibt Momente, in denen scheinen die Worte „Unabgegoltenheit“ und „Sehnsucht“ geradezu mit den Fingern greifbar zu sein. Wenn ältere Gesichter, in deren Augen noch immer das Feuer der begründeten und „belehrten Hoffnung“, der „docta spes“ (Ernst Bloch) lodert, aus ihren Lebensfalten Rückbesinnungen entpacken auf gemeinsames öffentliches Leben, auf Protest und Widerspruch, auf Leidenschaft für die „gemeinsame Sache“ (Karola Bloch), dann blitzt ein vorzeitiger Vorschein der Identität aus Vernunft und Wirklichkeit (Hegel) auf, der Ermutigung bringt und Hoffnung sät. Solche Momente sind nicht eben häufig. Doch im Erdgeschoß eines mittelalterlichen Fachwerkhauses in der Tübinger Innenstadt trat dieser Moment der ungleichzeitigen Gleichzeitigkeit ein.

Im Rahmen des Tübinger Bücherfestes 2015 fand am 17. Mai eine Lesung im Rahmen der derzeit noch laufenden Ausstellung zur Tübinger Protestbewegung der siebziger Jahre statt. Die Lesung im „Protestmuseum“ (Kornhaus) trug den Titel „Wohlan, ich will aufrührerisch sein“ (Ernst Bloch) – Rebellische Reden, freche Worte und aufmüpfige Beiträge von Karola und Ernst Bloch sowie Gretchen und Rudi Dutschke.

Zwei Stimmen aus den siebziger Jahren lasen zur aktuellen Ausstellung „Protest“ aus Briefen und Schriften, aus „Lieber Genosse Bloch“ und „Dutschke und Bloch“ sowie „Karola Bloch – Die Sehnsucht des Menschen, ein wirklicher Mensch zu werden“. Rund 100 Zuhörerinnen und Zuhörern quittierten die knapp einstündige Wanderung durch Texte der Blochs und der Dutschkes mit einem außergewöhnlich langanhaltenden Beifall.

Viele Junge und Junggebliebene aus dem Auditorium ließen sich durch den ersten Dialog Ernst Blochs mit Rudi Dutschke im Februar 1968 in Bad Boll an rebellische Zeiten erinnern. Da wurden emanzipatorisches Christentum und antitotalitäre Marxrezeption lebendig. Da waren Christus neben dem „Prager Frühling“, Gretchen Dutschke neben Elisabeth Käsemann präsent.

Die Zuhörenden folgten mit Schmunzeln Karola Blochs humorvoll spitzer Bemerkung über fliegende Tomaten auf Professoren. Sie spürten der Frage nach, was an dem Denken der Dutschkes und Blochs noch immer unabgegolten ist und welche Impulse uns heute bei der Verteidigung der Menschenrechte wieder aktuell erscheinen.

Den Schlusspunkt setzte ein Zitat aus dem Munde Rudi Dutschkes, der schon im Februar 1968 den heute hochaktuellen Begriff und die allseits akzeptierte Notwendigkeit einer „lernenden Gesellschaft“ als Basis einer stetigen Emanzipation „von unten“ formulierte.

In den Gesichtern der innerlich Junggebliebenen glätteten sich die Falten. Im Herzen wurden sie wieder Twens und es schien, als ob sie in sich „Ton, Steine, Scherben“ und Wolf Biermanns Ermutigungen für Ermutiger summten. Vielleicht waren auch ein paar Töne von Jimi Hendrix und Janis Joplin dabei.

 

Am 7. März wäre Rudi Dutschke 75 Jahre alt geworden

Im Alter von nur 39 Jahren war Rudi Dutschke, Christ und Kriegsdienstverweigerer aus der DDR, an den Folgen des Attentats von 1968 am Weihnachtsabend 1979 gestorben. Als Kritiker des Vietnamkrieges und Unterstützer des „Prager Frühlings“, als Unterstützer Sacharows und Gegner des Militärputsches in Chile war der am 7. März 1940 in Luckenwalde geborene Sozialist in den Jahren 1967/68 von einschlägigen Medien angegriffen und für beinahe vogelfrei erklärt worden. Ein junger Mann aus der rechten Szene nahm die Denunziation ernst und schoss auf ihn. Drei Kugeln verletzten Rudi Dutschke schwer.

Seine langsame Gesundung und Rekonvaleszenz wurde von einem intensiven Briefwechsel mit dem Philosophen Ernst Bloch begleitet. Die Briefe spiegeln nicht nur die persönliche Lebensgeschichte wider, sie geben zugleich Einblick in die Zeitgeschichte der siebziger Jahre.

Vor 27 Jahren erschien dieser legendäre Briefwechsel zwischen Dutschkes und Blochs. „Lieber Genosse Bloch …“ So hieß das von Karola Bloch herausgegebene Buch, das Ende der achtziger Jahre einen ersten Einblick in das produktive Freundschaftsverhältnis zwischen Dutschkes und Blochs eröffnete.

Sowohl Rudi Dutschke wie auch Karola und Ernst Bloch kamen aus der DDR kurz vor dem Mauerbau in den Westen. Nach der Kritik an der DDR folgte die Kritik an der westdeutschen Gesellschaft. Rudi Dutschke missbilligte Bloch lange Zeit als zu starren Denker. Erst mit dem 1968 erschienenen Werk Blochs „Atheismus im Christentum“ näherte sich der linke Christ Dutschke dem linken Atheisten Bloch an. Die Diskussion über den Utopie-Gehalt der Religion führte beide Männer zusammen.

 

 

Cardenal mit Bloch

IMG_1070Ein „utopischer Stern“ habe die beiden Nachdenklichen verbunden, schrieb Karola Bloch im Januar 1981 über Ernesto Cardenal und Ernst Bloch, als die „Architektin des Lebens“ – so die chilenische Künstlerin Margerita Pastene über die Bauhaus-Anhängerin – von ihrer Reise nach Mittelamerika und ihrem Aufenthalt im nicaraguanischen Managua zurückgekehrt war.

Cardenal, der „Theologe der Befreiung“, der die Tagträume eines sozial engagierten Christentums mit den Ansätzen eines antiautoritären Marxismus zu verknüpfen suchte, der aus der Katholischen Kirche exkommuniziert wurde, war damals Kulturminister in der neuen Regierung der FSLN nach dem gewaltsamen Sturz des früheren Diktators Somoza.

Monate vor dem Eintreffen in der Hauptstadt der Sandinisten hatte Karola Bloch Ernesto Cardenal bei dessen Besuch in Tübingen kennengelernt.

Bei einer öffentlichen Ansprache gab Karola Bloch in dem mit sich ringenden Land am Rande des Pazifik hintergründig weitsichtig der Regierung Nicaraguas eine politische Haltungsperspektive Rosa Luxemburgs als Leitmotiv mit auf den weiteren Weg: „Freiheit nur für die Anhänger der Regierung und für die Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer die Freiheit des anders Denkenden.“ Der kritische Impuls hat wohl nicht nachhaltig getragen. Ernesto Cardenal brach 1986 mit der FSLN.

Zwei Tage vor der 110. Wiederkehr des Geburtstages von Karola Bloch am 22. Januar konnte Ernesto Cardenal am 20. Januar seinen eigenen 90. Geburtstag feiern. Als Kulturschaffender des Wortes, als Schriftsteller und Lyriker blieb und bleibt er sich bis heute in der Rolle des Mahnenden aus Solentiname treu, wenn auch in der Sprache der Poesie. Felicitaciones!