Vollzahl der Zeiten

(Foto: Welf Schröter)

Lange vor der Herrschaft der Inkas in Lateinamerika entfaltete sich im Gebiet des heutigen Peru die indianische Hochkultur der Chachapoya. Ihr Totenkult zeichnete sich dadurch aus, dass sie den Schädel ihrer verstorbenen Angehörigen im eigenen komplex in Felswände erbauten steinernen Wohnhaus begruben. Sie waren davon überzeugt, dass die Toten somit weiterhin unter den Lebenden verblieben. Vergangene Zeit sollte gleichzeitig sein und gegenwärtig bleiben.

Der vom Protestantismus geleitete Denker, Kenner vorchristlicher Kulturen und Hitlergegner Eugen Rosenstock-Huessy sah die kommende Gleichzeitigkeit vergangener Menschenzeiten in der Zukunft des diesseitigen und jenseitigen Humanum. Die religiöse Erfüllung des Menschentraumes identifizierte er in einem neuen Zusammenleben, in der Anerkennung des „Du“ des Anderen als Anerkennung des eigenen „Ich“, und in der Hoffnung auf Heimat im christlichen Erlösungsprozess. Wenn die gelebten Leben von Vergangenheit und Gegenwart in der Zukunft zur „Vollzahl der Zeiten“ gelangen, wird Ungleichzeitigkeit gleichzeitig.

„Der Zeiten sind mehrere. Jeder zeitlichen Menschenart kommen ihre Bahnen, Räume, Alter zu. Je vollzähliger wir sie anerkennen, desto weiter greift der Frieden. Friedfertig werden wir, stille in unserem Land und voll der Klänge unserer Stunde, wenn wir das Erbe bewähren, das wir empfangen haben: die Vollzahl der Zeiten.“ So schrieb Rosenstock-Huessy in seinem Hauptwerk „Im Kreuz der Wirklichkeit – Eine nach-goethische Soziologie“ in Band drei mit dem Titel „Die Vollzahl der Zeiten“. „Der vollständige Mensch“ komme „sicher nicht aus den vereinzelten Zeiten, sondern nur aus ihrer Vollzahl.“

Ernst Bloch, der Denker des „Noch-Nicht“ und der Antizipation konkret-utopischer – nicht utopistischer – „Heimat“, war in seinem ersten Hauptwerk „Geist der Utopie“, das 1918 erschien, von tiefer christlicher Religiosität und beginnendem marxistischen Rebellentum geprägt. Er schrieb: „Alles könnte vergehen, aber das Haus der Menschheit muss vollzählig erhalten bleiben und erleuchtet stehen, damit dereinst, wenn draußen der Untergang rast, Gott darin wohnen und uns helfen kann – und solches führt aus der Seelenwanderung heraus auf den Sinn der echten sozialen, historischen und kulturellen Ideologie.“

Fünf Jahre später veröffentlichte Bloch eine überarbeitete Fassung von „Geist der Utopie“. In der Version von 1923 greift er die Idee der „Vollzahl“ erneut auf: „Und vor allem eben, über der uns immer wieder repetierbaren, sinnhafter umspielbaren Geschichte, läßt die Seelenwanderung zugleich alle Subjekte am Ende der Geschichte präsent, bewährt präsent sein, garantiert sie den Begriff der ,Menschheit‘ in seiner dereinst höchst konkret vollzähligen, absoluten Entität.“

Im Begriff der „Vollzahl der Zeiten“ suchten Rosenstock-Huessy wie auch Bloch nach der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Für Bloch liegt dort die „Heimat“. In der Zukunft. Als kommende Genesis.

Beide Denker begannen ihre Werke als Reaktion auf die Schrecken des Ersten Weltkrieges, der vor einhundert Jahren seinen Anfang nahm.

 

Eugen Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit. Eine nach-goethische Soziologie. Talheimer Ausgabe. Band 1: Übermacht der Räume; Band 2: Vollzahl der Zeiten 1; Band 3: Vollzahl der Zeiten 2. Verbesserte, vollständige und korrigierte Neuausgabe mit Namen- und Sachregister. Herausgegeben von Michael Gormann-Thelen, Ruth Mautner, Lise van der Molen. Mit einem Vorwort von Irene Scherer und einem Nachwort von Michael Gormann-Thelen. 2008/2009, 1.964 Seiten, Ausgabe in drei Bänden.

Neue Solidarität und „Change with Honour“

Michael Gormann-Thelen (Foto: © Welf Schröter)

Eugen Rosenstock-Huessy „verdient wieder hervor- und herausgerufen und dem Vergessen entrissen zu werden“. Mit dieser Kernaussage führt Michael Gormann-Thelen den Gesellschaftsreformer, Juristen, Reformpädagogen und Erwachsenenbildner „ERH“ in die Debatte um die gegenwärtige Gestaltung von „Arbeit“ und „Zeit“ ein. In der Evangelischen Akademie Bad Boll umreißt er im Februar 2013 Rosenstock-Huessys Denken, in dem er auf dessen Revolutionsverständnis eingeht. Nach ERH gelte es, die großen Weltrevolutionen zu würdigen wie etwa die Papstrevolution des 11. bis 14. Jahrhunderts, die Reformation, die Englische Revolution, die Französische Revolution und die Russische Revolution: „Jede Welt-Revolution zeichnet sich dadurch aus, dass sie einen »totalen«, universell gültigen Anspruch »an alle« in die Welt brachte, jeder ebenso unerhört wie alles verwandelnd“ (Gormann-Thelen).

„Da ist Rosenstock-Huessys Soziologie »Im Kreuz der Wirklichkeit«, die zunächst von den »Übermächten« der Räume und des Raumdenkens handelt und diese beiden letzteren als Verfallsformen von »Ernst« und »Spiel« und von »Krieg« und »Frieden« vorführt. Danach kommt die Zeitenlehre unter dem ersten Titel »Die Gewalt der Zeiten«, später unter dem Titel »Die Vollzahl der Zeiten«. Nicht heißt es »Zurück zu den Sachen!«, sondern »Zurück zu uns selbst!«“ (Gormann-Thelen)

Im Jahr 1947 sprach Eugen Rosenstock-Huessy in der Paulskirche zu »Friedensbedingungen einer Weltwirtschaft«. Michael Gormann-Thelen zitiert: „Die künftige Solidarität, deren Fehlen uns heute noch plagt, weil der Geist nicht wehen will, ist die Solidarität all derer, die sich unter dem Zwang des technischen Fortschritts ändern müssen. Wandlungsfähig muß jedes Mitglied der Gesellschaft bleiben. (…) Den seelischen Zutritt zu dem Rohstoff Mensch zu pflegen, ist die Friedensbedingung einer Weltwirtschaft.“ (Rosenstock-Huessy)

„Wo wir alle eigentlich nur kleine Teile des Ganzen sind und es wahrscheinlich auch nicht anders können, müssen wir Ordnungen finden und darauf habe ich nun seit 1912 meine Sach’ gestellt, wir müssen Formen finden, in denen statt des Kriegsheeres die Urbedürfnisse der menschlichen Seele in der Gemeinschaft sich verleiblichen können.“ (Rosenstock-Huessy in einem früheren Beitrag)

Als zentralen Imperativ formuliert Rosenstock-Huessy: »Wir müssen in eine Gesellschaftsordnung eintreten, in der die Wandelbarkeit – to change with honour – das Selbsterhaltungsprinzip der Menschheit wird.«

Eugen Rosenstock-Huessy wurde in der DDR nach 1956 genauso unterdrückt wie Ernst Bloch. Die Bürgerrechtsbewegung gegen die SED und mit ihr Wolfgang Ullmann beriefen sich sowohl auf Rosenstock-Huessy wie auf Bloch.

„Wer den Zusammenhang verliert, verliert Zeit“

Dr. Ruth Mautner (Foto: © Welf Schröter)

Diesen Satz von Eugen Rosenstock-Huessy setzt Ruth Mautner ins Zentrum ihres Beitrages „Wie viele Zeiten leben in uns gleichzeitig?“. Die Mitherausgeberin des zweitausend Seiten umfassenden Hauptwerkes des „unreinen Denkers“ (ERH über ERH) mit dem Titel „Im Kreuz der Wirklichkeit – Eine nachgoethische Soziologie“ greift auf Gedanken Rosenstock-Huessys zurück, wenn sie in scheinbar alten Sprachmustern ein Bild für solidarisches Miteinanderarbeiten zeichnet: „Angstlos miteinander atmen“ (ERH). Zeit ist immer das, womit sie gefüllt ist. Zeit ist daher nie Zeit. Bewusstsein in der Zeit ergibt Bewusstsein von Zeit. Wir leben in diversen Zeiten.

Sie stellt der „Gegenwart“ das Rosenstocksche Wort „Widerwart“ entgegen, was soviel bedeutet wie unpopuläre Bahnbrecher oder ein Ärgernis sein, nicht der Mode, dem Trend, den Gewohnheiten folgen. „Widerwart ist Gegenwart zur Unzeit, wenn die Zeit noch nicht reif ist. Es erfordert Mut, Kraft und Hingabe ohne Anerkennung zu leben und zu wirken. Und: Nur das Erwartete kann Gegenwart werden.“ (Mautner)

In ihrem Vortrag in der Evangelischen Akademie Bad Boll unterscheidet sie Zeitgenossen (Menschen haben eine gemeinsame Zeit, sind zeitübergreifend im Gespräch) und Raumgenossen (Menschen ohne Bezug zueinander): „Wir hier, die wir uns in einem Raum befinden, sind vorerst einmal Raumgenossen – ob wir jedoch auch Zeitgenossen werden oder vielleicht auch schon sind, müsste sich erst herausstellen. Wir teilen als Raumgenossen den Augenblick hier im Raum beisammen zu sein. Zeitgenosse kann auch jemand sein, die/der längst nicht mehr unter den Lebenden weilt. Zeitgenossen werden Menschen, die sich als ,Wir‘ bewähren: z.B. in ein Gespräch eintreten (nicht bloß ,plaudern‘, wie die Österreicher sagen, oder etwas erzählen, …) oder aber zusammen etwas erarbeiten, und nicht nur alle am Fließband stehen.“ (Mautner)

Eugen Rosenstock-Huessy, Vorsitzender der World Association of Adult Education, war engagierter Erwachsenen- und Jugendbildner. Wurde so zum Mentor des „Kreisauer Kreises“. Im Zentrum aber blieb die soziale Frage: „Vom Gebot einer neuen Zeit- und Raumeinteilung war ich befallen. Und unter dies Gebot neuer Zeit und neuen Raumes trat ich selber. Es kam darauf an, das abgebrochene Gespräch unter den Menschen wieder in Gang zu setzen. Die Untersuchungen zur Lebensarbeit in der Industrie, zur Ausgliederung der Werkstätten, zur Erfassung des Betriebes, entsprangen aus einer neuen Lage. Sie führte mich dreimal in die Nöte der Arbeitslosigkeit. Und der Arbeitslose scheint mir der menschliche Mittelpunkt aller sozialen Fragen unserer Zeit.“ (Eugen Rosenstock-Huessy)

Bewusstseins-Schichten unserer Arbeitswelten

Beat Dietschy (Foto: © Welf Schröter)

Es war ein Experiment besonderer Art. Knapp 45 Personen kamen für zwei Tage im Februar 2013 in der Evangelischen Akademie Bad Boll zusammen, um sich den Begriffen „Arbeit“ und „Zeit“ historisch, kulturell, theologisch, sozial und gesellschaftspolitisch zu nähern. Als öffnende Werkzeuge dienten die Denker Ernst Bloch (1885-1977) und Eugen Rosenstock-Huessy (1888-1973).

Beat Dietschy, letzter Assistent und Mitarbeiter des Philosophen Ernst Bloch, filterte dessen Werk, um auf die Spuren des Arbeitsverständnisses zu kommen. Ausgehend von Blochs „Geist der Utopie“ über „Erbschaft dieser Zeit“, „Das Prinzip Hoffnung“ bis „Tendenz – Latenz – Utopie“ führte Dietschy seine Zuhörer durch das umbaute Denken:

„Primat hat die Suche nach Selbstbegegnung, die unkonstruierbare Frage nach uns selber, die noch keinerlei zureichende Antwort enthält. Denn ,wir haben kein Organ für das Ich oder Wir, sondern liegen uns selbst im gelben Fleck, im Dunkel des gelebten Augenblicks, dessen Dunkel letzthin unser eigenes Dunkel, uns Unbekanntsein, Vermummt- oder Verschollensein ist‘ (Bloch).“

Gegen die entfremdete Arbeit setzte Ernst Bloch den Begriff der „tätigen Muße“. Sie ist die Aufhebung der Entfremdung. Wie weit aber ist die Arbeitswelt am Übergang von der industriell-materiellen Produktionswelt hin zur wissensbasiert-immateriellen, virtuellen Produktionswelt der Industrie 4.0 von der Aufhebung der Entfremdung entfernt?

In vielen individuellen und gesellschaftlichen Schichtungen unseres Bewusstseins tragen wir die Geschichte der Arbeit und ihrer Bedingungen in uns. Ein Teil von uns lagert noch in der bäuerlichen Welt „bäuerliches Tao“ (Ernst Bloch), ein anderer Teil hängt in der Zeit der beginnenden Manufakturen, ein weiterer bewegt sich unbewusst im Takt industrieller Werkhallen, während der Kopf die nahe Zukunft der Cyber Physical Systems CPS zu verstehen versucht: Arbeitswelt von morgen.

Die Schichtungen liegen wie schwere, dicke Teppiche als Schätze der Erfahrungen in uns übereinander gestapelt. Je nach Erschütterung, Krise oder manifester Enttäuschung brechen die Bewusstseinsschichten aus den Teppichen aus. Nicht selten drängen sie den Menschen in seiner Orientierung nach rückwärts. In scheinbar Bekanntes, scheinbar Erlebtes.

„Wer ist schon im gerade gelebten Augenblick wirklich anwesend, gegenwärtig?“, fragt Beat Dietschy, sich auf Bloch beziehend. Des Philosophen Hinweis auf „das Dunkel des gelebten Augenblicks“ provoziert unseren Erkenntniswunsch im Jetzt. Ich und die Welt? Wer ist das neue „Wir“?

Das gemeinsame Denk-Experiment von Bad Boll brachte die Lust am utopischen Denken zurück.

Das „Noch-Nicht“ der Arbeit

Eugen Rosenstock-Huessy und Ernst Bloch hatten ein großes, teilweise gemeinsames Thema: Es ist das Werden der Welt, das Werden der Arbeit des Menschen und somit das Werden des Menschen, das „Noch-Nicht“. Ähnlich wie Bloch in „Prinzip Hoffnung“ tendenzkundig die Genesis als kommendes Ergebnis des gesellschaftlichen Werdens des Menschen erkennt, sieht Rosenstock-Huessy – auf den Schultern Kants – perspektivisch im „Dritten Jahrtausend“ das Heraustreten des Menschen aus der „Finsternis“. Im dritten Band der „Soziologie“ (Eugen Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit. Eine nach-goethische Soziologie. Talheimer Ausgabe) geht der Autor erneut auf sein Leitthema ein: „Die Dritte-Jahrtausend-Ordnung der Gesellschaft hat also das Rätsel der Hohen Zeit und des Alltages zu ergründen. Und zwar ist das Neue gegenüber alten Hochzeiten eine veränderte Zeitmessung. In ein einziges Menschenleben werden heute die Wechsel von drei und vier Generationen alter Zeit hineingepresst. Diese Vervielfältigung der Lagen macht jede Lage heute zu etwas anderem als früher. In jeden Lebenstunnel, in den wir einfahren, nehmen wir heute das Bewußtsein der Ausfahrt am anderen Ende, also der Kündigung, der Scheidung, des Abschieds mit.“

Die Ungleichzeitigkeiten sozialer Entwicklungen zeigen sich unter anderem in dem sich wandelnden Verständnis von „Arbeit“ und „Zeit“. Wie nimmt der Mensch die Unabgegoltenheit öffentlicher Tagträume in seinem persönlichen Alltag wahr? Welchen Gestaltungsraum kann er sich emanzipatorisch erschließen?

Nun beginnt ein mutiges Projekt verschiedner Partner, die sich im Frühjahr 2013 in der Evangelischen Akademie Bad Boll treffen wollen, um der Lösung dieser gesellschaftlichen Rätsel näher zu kommen (http://bloch-blog.de/wp-content/uploads/2012/11/Flyer-Arbeit-und-Zeit-2013.pdf). Es geht um die „Anstrengung des Begriffs“, um ein gemeinsames Nachdenken, nicht frei von dialektisch Thesenhaftem. Möge der Ort, an dem sich Rosenstock-Huessy und Bloch zu unterschiedlichen Zeiten aufhielten, den Diskurs anregen: „Ich bitte Sie zu beginnen“ (Ernst Bloch).