Nichts ist vergessen

(Foto: © Welf Schröter)

(Foto: © Welf Schröter)

Siebzig Jahre nach der Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee der Sowjetunion ist die Erinnerungsarbeit inzwischen auch auf die „Dritte Generation“ übergegangen. Die unauslöschliche Traumatisierung wächst hinüber in die Leben der Nachgeborenen. Die Verantwortung geht in neue Hände.Wer von Traumata geplagt und geprägt ist, kann Forderungen nach einem sogenannten „Schlussstrich“ und nach dem verletzenden Ausruf „Nun muss das aber mal endlich ein Ende haben“ nur mit ungläubigem Kopfschütteln und begründetem Widerspruch  beantworten. Die Erwartung eines „Schlussstrichs“ entstammt dem Denken der Täter, auch der „Zweiten Generation“ der Täter. Diese und deren Nachkommen werden die andauernde Wirkmächtigkeit der Traumatisierungen anerkennen und respektieren müssen.

Die Shoah ist in unser aller Bewußtseinsschichten eingebrannt. Vielleicht lässt sich das Denken an den Holocaust zuweilen im Alltag überdecken und zeitweise verschütten. Doch dieses Brandmal wirkt in unseren sich zeitlich überlappenden Erfahrungsschichten ungleichzeitig weiter. Die Shoah wird nie abgegolten sein. Dieses Weiterwirken kann vielleicht durch verantwortungsgetriebenes Rückerinnern gelindert, nicht jedoch aufgehoben werden.

Wie sehr unreflektierte Tätersprache noch immer aktuell ist und verletzen kann, lässt sich an zwei journalistischen Formulierungen aus Tageszeitungen des Januar 2015 ablesen. Da wird vom „Ghetto Lodz“ und vom „polnischen Auschwitz“ geschrieben. Man muss nicht zur jüngsten Trauma-Generation gehören, um festzustellen, dass es das deutsche KZ „Litzmannstadt“ auf dem Boden der polnischen Stadt Lodz war. Auf der Gemarkung nahe der polnischen Stadt Oświęcim wurde das deutsche KZ Auschwitz errichtet.

Verletzend wirkt auch jene Aussage öffentlicher Amtsträger, die eine Einladung an Vertreterinnen und Vertreter der „Dritten Generation“ der Opfer mit dem Hinweis ablehnen, es sei nun genug getan und alles weitere sei Privatsache. Eine solche Haltung beleidigt nicht nur die Nachkommen der Überlebenden.

Vor diesem Hintergrund ist der Satz von Bundespräsident Joachim Gauck „Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz“ eine ermutigende Positionsbestimmung und Haltung. Die Erbschaft jener Zeit darf heute nicht auf Täterdenken verkürzt und verdreht werden. Es gilt, die Legenden der Täter offen zu legen und den inneren Erbschaften der Opfer und ihrer Nachkommen zuzuhören.

Das Unaussprechliche befindet sich nicht im Wort „damals“ sondern in der Ortsangabe „dort“. Der Raum wirkt im Gegenwärtigen.

Das Unabgeltbare der Shoah weitet die Unabgegoltenheit erinnerter Spuren. Die Shoah wurde und wird auch Teil von Ernst Blochs Genesis-Perspektive. Das Ungleichzeitige durchdringt den Wunsch nach dem werdenden Wir. Die Shoah entzieht sich dem Bestreben nach dialektischer Aufhebung.

 

 

„Ich komme aus der Hölle“

Foto: © Welf Schröter

Mit diesen Worten eröffnete Fritz Bauer einen seiner eindrücklichen öffentlichen Vorträge, die er in einer Zeit hielt, als in Frankfurt der Auschwitz-Prozess lief. Fritz Bauer, der Citoyen, der Bürgerrechtler und Rechtsstaatler, der Radikaldemokrat und hessischer Generalstaatsanwalt hatte es geschafft, dass am 20. Dezember 1963 der erste große Auschwitz-Prozess gegen die KZ-Mörder begann, beginnen konnte. Die Süddeutsche Zeitung nennt ihn heute – 50 Jahre danach – einen jüdischen Deutschen, der nicht Rache sondern Recht wollte.

Bedrängt, bedroht und beharrlich bereitete Bauer gegen die damalige Richterschaft die Durchführung des Prozesses vor.  Er wollte Recht, er wollte Wahrheit, er wollte Wissen. Mit seinem Prozess schrieb er Justizgeschichte. Mehr noch, er war davon überzeugt, dass ohne Kenntnis des Holocaust und ohne Auseinandersetzung mit der Shoah sich ein selbst tragendes wirklich demokratisches Gemeinwesen dauerhaft nicht halten könne. Fritz Bauer schrieb damit ein Stück Demokratiegeschichte.

„Ich komme aus der Hölle“. Mit diesen Worten beschrieb er die Aussagen und Schilderungen der Überlebenden des KZ’s. Die Zeugen erzählten erstmals öffentlich in einem bundesdeutschen Nachkriegsgerichtssaal das unbeschreibliche Grauen des Holocaust. Die Sätze der Menschen, die nach Jahren erstmals wieder mit ihren Peinigern in einem Raum waren, offenbarten den Medien Leidensgeschichten, die schon von den Journalisten, Staatsanwälten und Zuhörern kaum auszuhalten waren. Die Last der Schilderungen empfand Fritz Bauer als „Hölle“. Doch um wieviel schlimmer war es für die Überlebenden, die diese Schrecken unentrinnbar ihr Leben lang als gleichzeitig ungleichzeitige Erfahrung in sich trugen, ertrugen und oft nicht mehr ertrugen. Fritz Bauer gab den Opfern einen Teil ihrer Würde zurück.

Im Juli 1968 skizzierte ihn die ZEIT anlässlich der unerwarteten Nachricht seines Todes posthum mit den Worten: „Mit seinem über die Jahre hinaus zerfurchten Gesicht, seinen flammenden, weißen Haaren, seiner rauhen, stoßartigen Stimme wirkte er auf den ersten Blick wie ein Patriarch, ein Prophet der Aufklärung: etwas von Ben Gurion, etwas von Ernst Bloch, ganz ins Pragmatische gewendet.“ Er war ein Verfechter der Verteidigung der Würde des Menschen. Darin war er sich mit Karola Bloch einig.

„Es möchte unsere kriminalrechtliche und kriminal-politische Aufgabe sein, zunächst einmal die autoritären Schlacken vergangener und jüngster Jahrzehnte zu beseitigen, um aus Demokraten des Wortes Demokraten der Tat zu werden.“ (Fritz Bauer 1958)

Heute – 50 Jahre nach dem Auschwitz-Prozess – möchte man innehalten, sich zurücklehnen und sagen, Fritz Bauers Arbeit wurde von seinen politischen und juristischen Enkeln erfolgreich zu Ende geführt. Doch das Unaufgeklärte, Ungerichtete und ungleichzeitig Unabgegoltene ist noch immer präsent und wirksam. Die „Zweite Generation“ und die „Dritte Generation“ der Shoah-Getroffenen ringen noch immer um Wahrheit und um weitere Brocken der Würde.

Dagegen wächst bei so manchem Vertreter der sonst immer so aufklärerisch-aufmerksamen Neuen Linken eine „moderne“ Haltung des akademischen Schlussstrichs. Die Thematisierung der Shoah sei unwissenschaftlich geworden. Denn: Damit mache man keine Karriere im Wissenschaftsbetrieb.

Der Wissenschaftler und Jurist Fritz Bauer wußte dies auch schon. Aber genau deshalb tat er, was er tat.