Inmitten des spannungsgeladenen Ringens um Erinnerung und die Würdigung des Widerstandes einfacher Menschen gegen Hitler, tritt eine Frau ans Mikrophon. Sie ist unüberhörbar Schwäbin, noch zögerlich, zum ersten Mal am Podium eines wissenschaftlichen Fachsymposiums. Sie spricht, immer sicherer werdend, dreißig Minuten über das Leben ihres Vaters und ihrer Mutter. Martin Maier war einer der maßgeblich Aktiven im „Mössinger Generalstreik“ gegen Hitler.
Beinahe dreißig Jahre lang erhob keine Person aus dem Kreis der Nachkommen der einst von der Gestapo verfolgten Teilnehmer des Generalstreiks öffentlich mehr die eigene Stimme. In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts waren die greisen Streikenden ein letztes Mal zu vernehmen. Nun tritt die über fünfzigjährige Rosemarie Vogt in die Öffentlichkeit. Bevor steht der achtzigste Jahrestag des Aufstandes in dem damaligen Textildorf am Rande der Schwäbischen Alb.
Sie spricht geradlinig, deutlich und nicht schüchtern. Sie verteidigt das Handeln ihrer Eltern. Ihr Vater hatte gesagt: „Ich hätte mir beim Rasieren nicht mehr in die Augen schauen können. Es war doch unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit den Leuten zu sagen, wer Hitler wählt, wählt Krieg. Wir konnten sie doch nicht mit offenen Augen ins Unglück rennen lassen.“
Die Tochter des bis zu seiner Amtsniederlegung 1933 aktiven Gemeinderats Martin Maier, der für seine Tat von der NS-Justiz zu 358 Tagen Gefängnis wegen Landeshochverrat und Hausfriedensbruch verurteilt, nach 1945 gerichtlich rehabilitiert und wieder zum Gemeinderat und Kreisrat gewählt wurde, lobte seinen „idealen Kommunismus“, der ihn trieb, sich für seine Mitmenschen einzusetzen. Später sprach sich Maier gegen die Ulbricht-Mauer und gegen die Sowjetpanzer in Prag aus. Sein Kommunismus war nicht der Kommunismus der Stalins, Breschnews etc.
Doch während in anderen Städten sich ein gewisses stolzes Selbstbewusstsein breit machen würde, spaltet die Erinnerung an den legitimen Widerstand der Mössinger gegen Hitler das heutige Stadtgeschehen. Rosemarie Vogt spricht von der Gegenwart, wenn sie die heutige „Verleumdung oder wenigstens üble Nachrede“ anprangert.
Während der NS-Zeit waren es vielfältige Denunziationen, die 98 Streikteilnehmer vor Gericht brachten. Nach 1945 war es das Schweigen und die subkutane Herabwürdigung der 800 Mutigen. Sie wurden als Wegbereiter von Stacheldraht und Lagern, als „Zuchthäusler“ und Gewalttätige bezeichnet. Heute im Januar 2013 braucht es in Mössingen erneut Zivilcourage, um gegen jene zu sprechen, die den Eindruck erwecken wollen, dass Hitler weniger schlimm gewesen sei als Stalin. – Als ob man zwischen zwei Mördern wählen könnte.
Am Ende ihrer Rede mit der Überschrift „Mut zum Mut“ lächelt Rosemarie Vogt und sagt selbstbewusst und augenzwinkernd: „Ich hoffe und wünsche mir, dass ich das Bild, das sich der eine oder andere von den ,schrecklichen‘ Kommunisten machte, etwas milder zeichnen konnte. Denn was zählt ist wie ein Mensch gelebt hat und wie er handelte.“
Ein kaum enden wollender Beifall gibt der Rednerin Ermutigung zurück. Sie hatte auch aus dem Herzen zahlloser Nachkommen der Generalstreikerfamilien gesprochen, die den Tränen nahe in den mittleren Reihen des Auditoriums sitzen. Es war ein Stück Zivilcourage in der Zivilgesellschaft gewachsen.