Glück auf, Bernhard Hurm!

Ein großes Dankeschön gebührt dem Theatermacher Bernhard Hurm. Seit mehr als vier Jahrzehnten stärkt er das Theater Lindenhof in Melchingen. Der Bloch-Leser hat sich in kluger Weise in die Aufarbeitung der Geschichte des Mössinger Generalstreiks und der Geschichte der Mössinger Löwensteinschen Pausa eingemischt. Als Wertschätzung seiner jahrelangen Leistungen entstand zu seinem neuen Lebensabschnitt ein kleines Dreieinhalb-Minuten-Video. Siehe: https://youtu.be/apQw6y7qHBk  Glück auf, lieber Bernhard!

Verschwiegen – Vergessen – Wiederentdeckt. Und nun ignoriert?

Foto: © Welf Schröter

Foto: © Welf Schröter

„Ein Dorf gegen Hitler. Der 31. Januar 1933 markierte einen Einschnitt in die deutsche Geschichte. Die Nationalsozialisten unter Adolf Hitler gelangten an die Macht, die Weimarer Republik wurde abgeschafft, eine Diktatur entstand. Nicht überall im Land waren die Menschen mit der Machtübernahme einverstanden, hier und da leisteten Bürger Widerstand. Besonders Bemerkenswertes spielte sich im kleinen schwäbischen Dorf Mössingen ab.“ Mit diesem Worten beginnt eine sogenannte „Pageflow-Reportage“, die Campus TV Tübingen im Jahr 2016 online zugänglich machte.

Die mediale Aufbereitung der Ereignisse um den „Mössinger Generalstreik“ gegen Hitler am 31. Januar 1933 ist ein verdienstvoller Schritt. Damit wird Erinnerungs- und Gedenkarbeit erleichtert. Eine der Grundlagen des digitalen Werkes ist die von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg im Jahr 2015 herausgegebene Broschüre „,Heraus zum Massenstreik‘. Der Mössinger Generalstreik vom 31. Januar 1933 – linker Widerstand in der schwäbischen Provinz“, in der die geschichtlichen Abläufe didaktisiert ausgearbeitet wurden. Die für die „Pageflow Reportage“ verantwortliche Redaktion von Campus TV ist am Institut für Medienwissenschaften der Universität Tübingen angesiedelt.

Wer vom „Mössinger Generalstreik“ wenig weiß, wird über diese Darstellung glücklich sein. Mit Bild, Video, Schrift und Ton wird ein Überblick über Anlass, Ziele und Verlauf sowie über die Folgen der Aktion gegeben. Wer jedoch mit ausreichenden Vorkenntnissen auf diese WebSite trifft, wird unter einem besonderen Gesichtspunkt enttäuscht sein. Es stellt sich die Frage, warum die Redaktion entschieden hat, die jüdischen Spuren im „Mössinger Generalstreik“ vollständig auszublenden. In der Broschüre der Landeszentrale sind sie enthalten. Weitere Veröffentlichungen liegen seit langem vor.

Zum „Mössinger Generalstreik“ gehört, dass der Streik im damaligen Textilunternehmen Pausa startete. Die Pausa wurde von den jüdischen Brüdern Artur und Felix Löwenstein 1919 gegründet. Sie arbeiteten sehr früh mit dem von den Nationalsozialisten bedrängten Bauhaus zusammen. Von dort holten die Löwensteins mehrere linkssozialistisch politisierte junge Designerinnen zur Pausa. Diese ebenfalls jüdischen Bauhaus-Frauen wirkten in den Jahren vor 1933 in der Pausa. Schon vor 1933 wehrten sich die jüdischen Besitzer gegen den Nationalsozialismus. Sie beendeten die Zusammenarbeit mit Firmen, die sich der NSDAP verbunden sahen. Schon vor 1933 wurden die Löwensteins bedroht. Als die Belegschaft der Pausa den Streik beschloss, schützten und unterstützen die Löwensteins die Streikenden, indem sie ihnen freigaben. Nach 1933 nahm der massive Druck auf die Löwensteins zu. 1936 wurden die Pausa-Gründer zwangsenteignet und aus Mössingen vertrieben. Mit dem Jahr 1936 wurde der jüdische Name Löwenstein aus dem öffentlichen Gedächtnis Mössingens gelöscht.

Von 1936 bis 2006 wurde die Geschichte der Löwensteins weitgehend verschwiegen. Nur selten gab es kleine Erwähnungen am Rande. Durch Publikationen in 2006 und 2013 sowie durch die Gründung des Löwenstein-Forschungsvereins im Jahr 2007 begann die aktive Wiederentdeckung. Die Nachkommen der Pausa-Gründer sind 73 Jahre nach ihrer Vertreibung zum ersten Mal wieder 2009 nach Mössingen gekommen. Inzwischen sind sie vier Mal angereist. Zuletzt besuchten sie die Stadt im Sommer 2016 aus Anlass des 80. Jahrestages der Zwangsenteignung der Pausa und der Vertreibung der jüdischen Gründer. In der Theaterfassung des „Mössinger Generalstreiks“ durch das Theater Lindenhof „Ein Dorf im Widerstand“ (2013) sind die Löwensteins mehrfach präsent.

In seiner Begrüßung sagte Oberbürgermeister Michael Bulander 2016: „Wir erinnern an die Zwangsenteignung der Textildruckfirma Pausa und die Vertreibung der Unternehmer Artur und Felix Löwenstein aus unserer Stadt und letztendlich der gesamten Familie aus Deutschland vor 80 Jahren. Damit schreibt Mössingen in der NS-Zeit nicht nur die Geschichte des Mössinger Generalstreiks, als am 31. Januar 1933 über 800 Personen gegen die Machtübergabe an Hitler demonstrierten – darunter auch ein großer Teil von Pausa-Arbeitern. Die Unternehmer Löwenstein hatten ihnen nach einer positiven Streikabstimmung für den Nachmittag freigegeben.“

Warum also fehlt in der medialen Aufbereitung des „Mössinger Generalstreiks“ durch Campus TV Tübingen die Gewichtung der Rolle der jüdischen Brüder Löwenstein? Sollten wir nicht der Gefahr entgegenarbeiten, dass verschwiegene, vergessene und endlich wiederentdeckte Geschichte erneut ignoriert wird? Historische Ehrlichkeit und fachwissenschaftliche Solidität verlangen eine Nachbearbeitung der „Pageflow Reportage“.

Wie äußerten sich doch Harold Livingston und Doris Angel, die Kinder der Pausa-Gründer, bei einem ihrer Besuche in Mössingen: „Wir sind heute zusammengekommen, um das Andenken an Artur und Felix Löwenstein zu ehren, zwei schöpferische und fleißige Unternehmer. Unsere Väter waren maßgeblich an der Begründung der modernen Wirtschaft von Mössingen beteiligt. Harold und ich freuen uns, dass die Stadt heute blüht und gedeiht, und besonders darüber, dass die Stadtverwaltung und viele Mössinger Bürger die Leistungen der Brüder Löwenstein anerkennen und würdigen.“

 

Siehe zu Thema: Irene Scherer, Edith Policke, Klaus Ferstl, Welf Schröter: Die Löwensteins und der Mössinger Generalstreik. Wie die Pausa-Gründer sich gegen die Nationalsozialisten stellten. In: Irene Scherer, Klaus Ferstl, Welf Schröter (Hg.): Für Artur und Felix Löwenstein. Ein Leseheft anlässlich des 80. Jahrestages der Zwangsenteignung der Pausa und der Vertreibung der Brüder Löwenstein aus Mössingen 1936. S. 17-21 (2016, 42 Seiten, ISBN 978-3-89376-167-8). Siehe dazu auch: Irene Scherer, Welf Schröter, Klaus Ferstl (Hg.): Artur und Felix Löwenstein. Würdigung der Gründer der Textilfirma Pausa und geschichtliche Zusammenhänge (2013, 396 Seiten, ISBN 978-3-89376-150-0).

Zur Pageflow Reportage: https://multimedia.hd-campus.tv/entries/mossinger-generalstreik#244

Empfänger unbekannt

Gelungene Premiere am 12. September 2012 in der Pausa in Mössingen für das Vier-Personen-Theaterstück "Empfänger unbekannt" des Theaters Lindenhof Melchingen.

Der Ort war gut gewählt: In der ehemaligen Fabrikhalle des früheren Textildruckunternehmens Pausa kam in der schwäbischen Stadt Mössingen ein Stück zur theatralischen Aufführung, das 1938 in den USA unter dem Titel „Adress unknown“ als Anklage gegen den Nationalsozialismus von Kressmann Taylor geschrieben und veröffentlicht wurde. Die US-Autorin hatte die Form eines romanähnlichen Briefdialoges gewählt, um das Auseinanderbrechen des Zusammenhalts zweier Männer aufzublättern. 1932 wechselt der eine nach Berlin, der andere bleibt in den USA. Der eine wird zum Repräsentanten der NSDAP und verbittet sich abwehrend weitere Briefe von seinem jüdischen früheren Freund. Dessen jüdische Schwester, eine ambitionierte Tänzerin, die naiv in den dreißiger Jahren im Berlin der NS-Zeit künstlerische Karriere machen will, kommt in Gefahr, wird von der SA ermordet, weil der Jung-„Partei-Genosse“ sie nicht zu schützen vermag. Nun schreibt der in Amerika Gebliebene nach Berlin offensiv Briefe und lässt den Abtrünnigen als Partner im jüdischen Geschäftsleben erscheinen. Briefe als Waffe. Dialektik der Kommunikation. Die bittere Rache gelingt. Ein weiteres Opfer.

Die Aufführung in den Räumen der (neuen) Pausa ist geschichtsträchtig. Denn die Firma (alte Pausa) war von den beiden Stuttgarter Unternehmern Felix und Artur Löwenstein 1919 gegründet und 1936 von den NS-Institutionen zwangs-„arisiert“ worden. Beide Löwensteins mussten samt Familien Mössingen verlassen. Dreiundsiebzig Jahre dauerte es bis Bürgerinnen und Bürger die Nachkommen der Löwensteins wieder nach Mössingen einluden. Achtzig Jahre nach der Pausa-Gründung wurde ein Brief von Mössingen nach Manchester geschrieben, der Verantwortung, Erinnerung und Entschuldigungen einläutete.

Das Theater Lindenhof aus Melchingen inszenierte eine Briefkommunikation als dramatisch-dramaturgische Täter-Opfer-Täter-Erkundung. Eine nüchterne schlichte Bühne, mit wenigen Tischen, Lichtveränderungen, Lautscherben, zitierende Briefstimmen und einem Ausdruckstanz als Körpersprache ließen Charaktere brechen. Die Bühne zelebrierte die Macht der Worte.

Bald wird in einer Lesung in den Räumen der Pausa ein anderer Briefverkehr zu Ohren kommen. Die Briefe der Tänzerin Andziula Tagelicht aus dem Warschauer Ghetto an die in den USA im zeitweisen Exil lebende Karola Bloch lassen eine Spannung von Hoffnung und Verzweiflung aufscheinen. Die Tänzerin wollte mit Tanz den Kindern des Ghettos Hoffnung geben. Vergebens. Den letzten Brief, den Karola Bloch aus Warschau erhielt, war ihr eigener. Er kam zurück mit dem Stempel „Empfänger unbekannt“. Nun wusste sie, dass die Tänzerin – und nicht nur sie – ermordet worden waren.

Wenn im kommenden Jahr in Mössingen die Schwiegertochter Karola Blochs, Anne Monika Sommer-Bloch, zum siebzigsten Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto die Worte Andziula Tagelichts mit der Violine interpretiert, wird die Pausa die Erinnerung an die Löwensteins und an die Theater-Aufführung „Empfänger unbekannt“ anmahnen.