Das „Noch-Nicht“ der Arbeit

Eugen Rosenstock-Huessy und Ernst Bloch hatten ein großes, teilweise gemeinsames Thema: Es ist das Werden der Welt, das Werden der Arbeit des Menschen und somit das Werden des Menschen, das „Noch-Nicht“. Ähnlich wie Bloch in „Prinzip Hoffnung“ tendenzkundig die Genesis als kommendes Ergebnis des gesellschaftlichen Werdens des Menschen erkennt, sieht Rosenstock-Huessy – auf den Schultern Kants – perspektivisch im „Dritten Jahrtausend“ das Heraustreten des Menschen aus der „Finsternis“. Im dritten Band der „Soziologie“ (Eugen Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit. Eine nach-goethische Soziologie. Talheimer Ausgabe) geht der Autor erneut auf sein Leitthema ein: „Die Dritte-Jahrtausend-Ordnung der Gesellschaft hat also das Rätsel der Hohen Zeit und des Alltages zu ergründen. Und zwar ist das Neue gegenüber alten Hochzeiten eine veränderte Zeitmessung. In ein einziges Menschenleben werden heute die Wechsel von drei und vier Generationen alter Zeit hineingepresst. Diese Vervielfältigung der Lagen macht jede Lage heute zu etwas anderem als früher. In jeden Lebenstunnel, in den wir einfahren, nehmen wir heute das Bewußtsein der Ausfahrt am anderen Ende, also der Kündigung, der Scheidung, des Abschieds mit.“

Die Ungleichzeitigkeiten sozialer Entwicklungen zeigen sich unter anderem in dem sich wandelnden Verständnis von „Arbeit“ und „Zeit“. Wie nimmt der Mensch die Unabgegoltenheit öffentlicher Tagträume in seinem persönlichen Alltag wahr? Welchen Gestaltungsraum kann er sich emanzipatorisch erschließen?

Nun beginnt ein mutiges Projekt verschiedner Partner, die sich im Frühjahr 2013 in der Evangelischen Akademie Bad Boll treffen wollen, um der Lösung dieser gesellschaftlichen Rätsel näher zu kommen (http://bloch-blog.de/wp-content/uploads/2012/11/Flyer-Arbeit-und-Zeit-2013.pdf). Es geht um die „Anstrengung des Begriffs“, um ein gemeinsames Nachdenken, nicht frei von dialektisch Thesenhaftem. Möge der Ort, an dem sich Rosenstock-Huessy und Bloch zu unterschiedlichen Zeiten aufhielten, den Diskurs anregen: „Ich bitte Sie zu beginnen“ (Ernst Bloch).

Heimat statt Heimat

Avishai Margalit (Foto: © Welf Schröter)

Eine Gesellschaft, in der keine Erniedrigung geduldet wird und die zwischen ihren Bürgerinnen und Bürgern einen anständigen Umgang sichert, nennt der israelische philosophierende Denker eine „decent society“. Die Eckpunkte derselben trug der 1939 geborene Avishai Margalit in Beispielen in seiner Dankesrede beim Empfang des „Ernst-Bloch-Preises 2012“ im Ernst-Bloch-Zentrum vor. Das Mitglied der israelischen Peace Now-Bewegung und der Israel Academy for Science and Humanities wurde von der Stadt Ludwigshafen am Rhein und dem Ernst-Bloch-Zentrum zum zehnten Preisträger erkoren. Margalit ist Verteidiger seines Landes und zugleich einer seiner großen Kritiker. Er wendet sich gegen den traditionellen Zionismus und sucht nach einem neuen Politikkonzept. Seine Kritik an der israelischen Gesellschaft ist ähnlich wie die an der palästinensischen Gesellschaft. Beide tragen Variationen der Nostalgie-Sehnsucht vor sich her, um reine Momente der Vergangenheit in die Zukunft zu transponieren. Dies könne keine tragfähige Lösungen hervorbringen. Beide Gesellschaften verharrten in ihrer jeweiligen Rückwendung und suchten unschuldige Heimaten „in the past“. Dieser Typ von Nostalgie führe zu Brutalität. Margalit spricht von Heimat im Sinne von Herkunft als Teil der Vergangenheit. Er wendet alte Zeiten gegen Gegenwart. Avishai Margalit erhielt den Ernst-Bloch-Preis. Was hat Margalits Denkansatz mit Bloch zu tun? Er sagt: „Man muss etwas über seine Bewunderung des Marxismus hinwegsehen, die mir problematisch erscheint.“ Der Vortrag des Preisträgers benannte Bloch als Utopisten, der Gefahr läuft zum Kitsch zu werden. Darüber ließe sich trefflich streiten. Schade nur, dass Margalit seinen Heimat-Begriff nicht mit dem nach vorne gewandten Heimat-Begriff Blochs konfrontierte. Auch seine Zeitanalyse der Nostalgie wäre mit Blochs Wort von der „Ungleichzeitigkeit“ reichhaltiger geworden. Der Bloch-Preisträger Margalit kennt das Blochsche Werk nur bruchstückhaft. Vielleicht lädt ihn der Preis zu tieferer Lektüre ein. Es brächte für alle attraktive Kontroversen. Susan Neiman, Schülerin von John Rawls und derzeit Direktorin des Einstein Forums Potsdam, hatte bei ihrer Laudatio schon begonnen, Margalit mit ihrer Rolle als „jewish socialist“ herauszufordern.

Ungleichzeitigkeiten im Konzept „Industrie 4.0“

Nach der Entwicklung erster Manufakturen samt Landflucht und der Maschinisierung der Industrie über die mikroelektronischen Umbauten bis hin zur Virtualisierung globaler Unternehmen hat die Wirtschaftsgeschichte vier Stufen erklommen. Heute sprechen wir von „Industrie 4.0“ und meinen damit die weitgehende Reorganisierung von Arbeit und Produktion auf globaler Ebene. An die Stelle der verorteten Fabrik tritt langsam die „smart factory“ mit dem „smart working“. An die Stelle der Standortkommune kommt die „smart city“. Die Energiewende verlangt nach den „smart grids“. Die Wortstücke sind mehr als nur die Sammlung von modischen Wichtigtuereien. Dahinter steckt der starke Wandel hin zu „Neuen Infrastrukturen der Arbeit“ (Schröter). Doch darunter verbergen sich Hoffnungen und Verunsicherungen von Menschen. Die einen sind noch in der zweiten oder dritten Stufe der Industrialisierung, andere ringen schon mit den Herausforderungen digitaler Entfremdung. Menschen, die sich gleichzeitig treffen, sind in ihrem Denken und Fühlen nicht mehr gleichzeitig. Altes schwingt mit und mischt sich ein. „Industrie 4.0“ unterbricht und trennt Tradiertes, fügt Neues interkulturell zusammen. Verlust und kulturelle Bereicherung liegen nahe beisammen. Doch wie soll es gelingen, dass in der Geschwindigkeit der Herausbildung der „Identität in der Virtualität“ niemand verloren geht? „Industrie 4.0“ ist im Kern eine soziale Veränderung. Wir müssen das Undenkbare denken: Kann gesellschaftliche und individuelle Emanzipation mit Hilfe des „smart working“ und im Einklang mit virtuellen Identitäten erfolgen oder nur gegen sie? 

Karola Bloch (1905-1994) im Jahr 1988. (Bild: © Welf Schröter)

Im Jahr 1988 sprach ich mit der Architektin und Sozialistin Karola Bloch (1905-1994) über den Wandel der Arbeit und die wachsende Technisierung. Sie antwortete damals: „Wenn die Technisierung fortschreitet, wird es immer notwendiger werden, für die Menschen Beschäftigung zu finden. Das wirkt sich auf die gesamte Industrie aus und vergrößert das Problem der Arbeitslosigkeit. Es wird mit der Zeit eine ganz andere Ökonomie kommen müssen. Wenn die Menschen eigentlich nicht mehr soviel arbeiten, aber von irgend etwas leben müssen, brauchen sie eine Bezahlung, ein notwendiges Substrat, um existieren zu können. Unsere Gesellschaft hat sich wahnsinnig verändert und wandelt sich noch. Bis jetzt hat der Einzelne einen Lohn bekommen in der Höhe, die seiner geleisteten Arbeit entsprach. Wenn nun aber die Arbeit wegfällt, muß er dennoch einen Lohn bekommen, um leben zu können. Das ist eine ganz andere Vorstellung, eine andere Ökonomie. Der Begriff der Arbeit als solcher wird sich ändern. Auch die Zukunft der Gewerkschaften wird anders sein, als man sich das heute vorstellt. (…) Ich denke dabei immer an den Menschen, an den Sinn des Lebens. Da kommen ganz andere Faktoren in die Arbeit hinein. Ich habe den Eindruck, als ob die Menschen – vielleicht unbewußt – eigentlich auch an ihrer Zerstörung arbeiten. Denn der Verlust einer Arbeitsfunktion ist doch gleichzeitig etwas Zerstörerisches. Arbeit spielt doch für die Menschen eine ganz enorme Rolle. Wir können uns ein sinnvolles Leben heute ohne Arbeit nicht vorstellen.“ (Karola Bloch: Denkende Maschinen. In: Anne Frommann, Welf Schröter (Hg.): Karola Bloch – Die Sehnsucht des Menschen, ein wirklicher Mensch zu werden“. Reden und Schriften, Band 2. 1989, Seite 96.)

Habermas und Europas Ungleichzeitigkeiten

Selten war die Aktualität und Bedeutung eines Begriffs wie „Ungleichzeitigkeit“ aus der Bloch’schen Philosophie so erkennbar wie im Verlauf des Jahres 2012. Die Spannung zwischen der europäischen Idee und den Lasten des nationalstaatlichen Denkens nimmt zu. Habermas, Nida-Rümelin und Bofinger konstatierten am 3. August 2012 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter der Überschrift „Einspruch gegen die Fassadendemokratie“ – einen Strategiewechsel fordernd und konsequent „systemische Probleme“ diagnostizierend: „Diese sind durch Anstrengungen auf der nationalen Ebene nicht zu bewältigen, sie erfordern eine systemische Antwort.“ Gegen „monetären Nationalismus“ und für „das Versprechen eines sozialen Europas“ plädierten sie: „Denn nur für ein politisch geeintes Kerneuropa besteht die Aussicht, den inzwischen fortgeschrittenen Prozess der Umwandlung der sozialstaatlichen Bürgerdemokratie in eine marktkonforme Fassadendemokratie umkehren zu können.“ Hier steht die Unabgegoltenheit des Tagtraumes vom friedfertigen Miteinander in Europa dem ungleichzeitigen Verhaftetsein im Nationalen gegenüber. Ernst Bloch warnte in seinem Buch „Erbschaft dieser Zeit“ vor der Vernachlässigung der gleichzeitigen Präsenz ungleichzeitigen Nationalgefühls in der Bürgerschaft der späten Weimarer Republik. Habermas sekundiert heute in folgenden Worten: „Allerdings sollte die historische Erinnerung an die Einigung des Deutschen Reiches, die vielen Landesteilen dynastisch oktroyiert wurde, gerade uns eine Warnung sein.“ Die Antwort der drei Autoren auf die Herausforderung der „Ungleichzeitigkeiten“ im europäischen Werden greift das subjektive Empfinden bewusst auf: „Der europäische Bundesstaat ist das falsche Modell und überfordert die Solidaritätsbereitschaft der historisch eigenständigen europäischen Völker. Die heute fällige Vertiefung der Institutionen könnte sich von der Idee leiten lassen, dass ein demokratisches Kerneuropa die Gesamtheit der Bürger aus den EWU-Mitgliedsstaaten repräsentieren soll, aber jeden einzelnen in seiner doppelten Eigenschaft als direkt beteiligten Bürger der reformierten Union einerseits, als indirekt beteiligtes Mitglied eines der beteiligten europäischen Völker andererseits.“ Das „Gefühl verletzter Gerechtigkeit“ (Habermas) verlangt bewusst nach einem Mehr an Partizipation und Demokratie. Ein Verdrängen dieses Gefühls könnte als unaufgelöste Erbschaft die Fortsetzung der Vertiefung Europas bremsen oder blockieren: „Nicht alle sind im selben Jetzt da, sie sind es nur äußerlich dadurch, dass sie heute zu sehen sind, dadurch aber leben sie nicht mit den anderen zugleich. Sie tragen vielmehr Früheres mit, das mischt sich ein.“ (Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit)

Virtualisierung der Arbeit

Inzwischen ist der „Wandel der Arbeit“ ein Thema für viele Akteure in der Gesellschaft geworden. Nicht nur Gewerkschaften, Betriebs- und Personalräte diskutieren die „Virtualisierung der Arbeit“ und „Neue Infrastrukturen der Arbeit“ (Schröter) sondern auch Selbstständige, Freelancer und Kleinbetriebe.

Die Informationstechnologie bietet die Grundlagen dafür, dass Teile von Arbeitsabläufen und wachsende Ausschnitte von Arbeitsvolumina per technischer Leitung verlagert werden können. Die Digitalisierung von Vorgängen zieht eine tendenzielle Flüchtigkeit nach sich. Die Potenziale der Arbeitswelten am Netz und über das Netz lockern die Bindung an Orte und vereinbarte Räume. Mehr noch: Die beschleunigt voranschreitende Virtualisierung verwandelte den Charakter der Arbeitsinhalte und des Verständnisses von Arbeit. Arbeit beginnt sich strukturell zu enträumlichen.

Die industrielle Arbeitswelt der materiellen Produktion und der materiellen Dienstleistungen wird immer mehr von virtuellen Arbeitsumgebungen durchdrungen. Reale und virtuelle Arbeitswelten verschmelzen zu einer neuen Wirklichkeit, zu einer verspannten Räumlichkeit. Diese neue Wirklichkeit entsteht unter anderem dadurch, dass das Reale das Virtuelle und das Virtuelle das Reale konstitutiv wechselseitig bedingt. Das eine ist ohne das andere auf Dauer nicht handlungsfähig. Die Erwerbsarbeit des industriellen Typs wird schrittweise abgelöst von einer Mischung des Realen und des Virtuellen. Die Durchlässigkeit der Räume prägt die Wahrnehmung des Raumes als nicht-beständig. Zur synchronen Dreigliedrigkeit des Industriearbeitsplatzes von Ort, Zeit und Organisation tritt in der wissensbasierten asyn­chronen Arbeitsrealität die Ungleichzeitigkeit des Ortes, der Zeit und der Verfasstheit von Arbeit als dauerhafte vierte Konstante. Die Arbeitswelten der Informations- und Wissensgesellschaften fußen unter anderem auf der Ungleichzeitigkeit des Realen mit dem Virtuellen. Eine derartige Ungleichzeitigkeit verlangt eine strukturell andere Emanzipationsstrategie. Sie schließt eine Emanzipation mit Hilfe der Virtualität und vor allem in der Virtualität ein.

Die Initiative „Arbeitswelt trifft Philosophie – Philosophie trifft Arbeitswelt“ – getragen vom Forum Soziale Technikgestaltung und weiteren Partnern – führt dazu einen strukturierten Diskurs durch.

Gauck und Heimat

Unter dem Motto „Unsere Heimat kommt nicht in braune Hände“ hielt Bundespräsident Joachim Gauck am 20. Jahrestag des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen am 26. August 2012 eine bemerkenswerte Rede. Darin sprach er von den „größten ausländerfeindlichen Ausschreitungen in der Geschichte der Bundesrepublik“. Rostock habe ein „Brandmal“. Einen wesentlichen Teil seiner Ansprache befasste sich Gauck mit dem mitgetragenen Früheren, das sich einmischt: „Ich weiß, dass in Lichtenhagen, in Rostock, wie überall in der DDR viele Menschen nach der Wiedervereinigung arbeitslos wurden, dass sie sich als Verlierer sahen, enttäuscht waren über die Zustände im neuen Deutschland, in dem sie – anstatt zu Wohlstand zu gelangen – häufig sozial abrutschten. Ich weiß, dass sich viele tief verunsichert fühlten, orientierungslos in der neuen Freiheit, überfordert mit den unzähligen und einschneidenden Veränderungen, ungeübt in der Übernahme von Verantwortung. Ich weiß, dass bei manchen Menschen die Furcht vor der Freiheit umschlug in Wut und Aggression. Die Entstehung solcher Gefühle kann man erklären. Aber unsere Erfahrung lehrt: Wenn Hass entsteht, wird nichts besser, aber alles schlimmer. Hass darf als Mittel der Konfliktlösung niemals geduldet sein!“ An anderer Stelle analysiert er: „Auch Erfahrungen von materieller Sicherheit, Frieden und einer gesicherten Ordnung führten und führen dazu, dass der Einzelne wie die Gesellschaft die Angstimpulse besser beherrschen können. In Zeiten der Krise jedoch, Zeiten des Umbruchs oder der Identitätssuche wächst die Angst rapide.“ Hier sprach Gauck auf den Spuren Blochs “Ungleichzeitigkeit” und folgerte immanent: „Es liegt nicht am schlechteren Charakter der Ostdeutschen, dass es Unterschiede zu den Westdeutschen gibt, sondern an unseren unterschiedlichen Prägungen und Erfahrungen: Hier im Osten konnten wir nicht teilhaben an einer Zivilgesellschaft von aktiven und eigenverantwortlichen Bürgern.“ Doch zugleich verlässt er Blochs Denken, wenn er den Heimat-Begriff als Ort bezeichnet, von dem man herkommt bzw. in dem man lebt. Blochs Heimat-Definition setzt die Genesis an das Ende der Geschichte der Menschwerdung und sieht Heimat als die zu gestaltende konkrete Utopie in naher Zukunft.