Vor 80 Jahren erschien Ernst Blochs „Erbschaft dieser Zeit“

(Foto: © Welf Schröter)

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„Hier wird breit gesehen. Die Zeit fault und kreißt zugleich. Der Zustand ist elend oder niederträchtig, der Weg heraus krumm. Kein Zweifel aber, sein Ende wird nicht bürgerlich sein.“ Mit diesen Worten führte Ernst Bloch, der Philosoph des „Noch-Nicht“ und vehemente Kritiker des Nationalsozialismus, in sein Werk „Erbschaft dieser Zeit“ ein, das im Jahr 1935 in der Schweiz erschien. Als das lange verschollene Buch 1962 vom Autor neu veröffentlicht wird, begrüßt Enzensberger den Band und wendet die methodische Herangehensweise zugleich in die Gegenwart: „Wo aber wäre der Kritiker, der uns die Erbschaft unserer fünfziger Jahre beschriebe, so wie Bloch die seiner Zeit, satt von Anschauung und Erinnerung und hungrig vor Hoffnung?“

„Das Buch ist ein Handgemenge“, schrieb Bloch in den dreißiger Jahren. Im Zentrum steht der Begriff „Ungleichzeitigkeit“, den Bloch Marx aufnehmend auf die Geschichte der Sehnsüchte der Menschen am Ende der Weimarer Republik anlegt und mit dem er zudem den einseitigen analytischen Kältestrom der Komintern kritisierte. „Erbschaft dieser Zeit“ zählt noch heute zu den wichtigsten Erklärungshelfern, wie es zum „Schrecken-Deutschland“, zum Nationalsozialismus kommen konnte. Wenn im Jahr 2015 an die Befreiung Europas vom Nationalsozialismus erinnert wird, sei den Akteuren die Lektüre dieser Schrift vorab empfohlen.

Der „ungleichzeitige Rest“ (Bloch) des alten militärisch-feudalen wilhelminischen Kaiserreiches im Bewusstsein Weimars und die unzureichende Erfüllung der Novemberrevolution haben die Wünsche und Träume der Menschen empfänglich gemacht für die „anachronistische Verwilderung“ (Bloch). Zuwenig hätten die Gegner der NS-Propaganda den „Wärmestrom“(Bloch) die „Schatzkammern einer nicht ganz aufgearbeiteten Vergangenheit“ begriffen und ergriffen. „Der subjektiv ungleichzeitige Widerspruch ist gestaute Wut, (…).“

Im Jahr 2015 ist erneut „gestaute Wut“ zu erkennen, wenn auch eine andere. Ein Blick in „Erbschaft dieser Zeit“ kann beim notwendigen Handeln die „Breite“ sowie den „Stachel der Unsicherheit“ sichtbar machen helfen. „Schon morgen ist jedes Jetzt anders da“(Bloch).

 

Lobo entdeckt Bloch

Er gilt als kluger Selbstvermarkter und selbsternannter Internetexperte: Sascha Lobo, Journalist, Autor, Blogger und Marketinghelfer großer Konzerne. Seit jüngster Zeit schreibt er sich als Spiegel-Online-Autor ins Netz ein. Stets sucht er neue Schlagworte – bei sich und anderen –, um sich in der heißen Hektik von Tweets und Blogs „vorne“ zu halten. Nach Jahren der Netzkritik, des Ringens um Datenschutz und Datenhoheit sowie der Kritik an der Netzpolitik entdeckt Sascha Lobo nun den Philosophen Ernst Bloch. Besser müsste man sagen, er schließt sich einer Entdeckung an.IMG_6683

In den neunziger Jahren startete der Diskurs „Arbeitswelt trifft Philosophie – Philosophie trifft Arbeitswelt“ mit Wissenschaft, Unternehmen, Gewerkschaften und Philosophen als Initiative des Netzwerkes Forum Soziale Technikgestaltung unterstützt vom Ernst-Bloch-Zentrum. Kernthese des weit über zehn Jahre laufenden Diskurses ist die Hinwendung zum Begriff „Ungleichzeitigkeit“ aus Blochs Werk „Erbschaft dieser Zeit“.

Die weitreichenden Veränderungen und Transformationen der Arbeitswelt durch den Einsatz moderner Informations- und Kommunikationstechniken führ(t)en zu grundlegenden Brüchen im Verständnis von Arbeit: Das Entstehen „neuer Infrastrukturen der Arbeit“ wurde in diesem Diskurs mit dem kategorialen Blochschen Hilfsmittel der „Ungleichzeitigkeit“ analysiert und gefasst. Die Ergebnisse des Diskurses sind in mehreren Publikationen wie „Gestaltete Virtualität“ und „Identität in der Virtualität“ sowie in mehreren „Bloch-Jahrbüchern“ nachlesbar.

In der Sonntagnachtausgabe (19. Oktober) der ZDF-Philosophie-Sendung von Richard David Precht hat nun auch der SPIEGEL-Blogger Sascha Lobo das Thema aufgegriffen und Blochs Begriff der „Ungleichzeitigkeit“ als einen wichtigen Schlüssel zur Betrachtung der „Zukunft der Arbeit“ gewertet. Damit hat er dem Thema eine enorme zusätzliche Öffentlichkeitswirkung eingeräumt.

Sascha Lobo hält in Kürze die zweite „Zukunftsrede“ im Ernst-Bloch-Zentrum (www.bloch.de) in Ludwigshafen am Rhein. Es wäre ein Gewinn, würde sich Sascha Lobo in einen seit Jahren bestehenden Diskursprozess einvernetzen.

 

Ernst Blochs „Vademecum“ (1918/19)

Martin Korol (links) und Jost Hermand 2014 in Berlin (Foto: © Martin Korol)

Martin Korol (links) und Jost Hermand 2014 in Berlin (Foto: © Martin Korol)

Mehr als einhundert Intellektuelle, Schriftstellerinnen und Autoren, Kunstschaffende und Gewerkschafterinnen hatten sich vor kurzem in Berlin unter dem Zitat Albert Einsteins „Das Denken der Zukunft muss Kriege unmöglich machen“ zu einer politischen Debatte zum Thema „Der Krieg in Kunst, Literatur und Wissenschaft“ zusammengefunden. Es galt, die Literatur und Kunst zu befragen, wie sie sich politisch den Kriegen entgegenstellte. Gedanken von Erich Fried, Anita Augspurg, Heinrich Böll, Albert Einstein, Lida Gustava Heymann, Arnold Zweig und Leonhard Frank wurden hörbar. Jost Hermand eröffnete mit seinen reichen literarischen und politischen Kenntnissen den Blick zurück für einen Blick nach vorn.

Dazwischen kamen die Worte Ernst Blochs in Erinnerung, wie er vom Schweizer Exil aus mit seiner Schrift „Vademecum für heutige Demokraten“ den Ersten Weltkrieg analysierte. Bloch hatte diesen Text aus dem Jahr 1918, der im Frühjahr 1919 erstmals veröffentlicht wurde, später nicht in seine Gesamtausgabe im Suhrkamp Verlag aufgenommen. Erst der „Blochianer“ und Hans-Mayer-Schüler Martin Korol gab den Text zum 100. Geburtstag Ernst Blochs 1985 acht Jahre nach dem Tod des Philosophen in „Kampf, nicht Krieg“ heraus.

Blochs „Geh-mit-mir“-Schrift (lat.: vade mecum) ist es wert, sie heute neu zu lesen. Der damals 33-jährige Publizist und Journalist im Exil schrieb mit brennender Leidenschaft sein zentrales frühes Antikriegswerk nieder. In der allgemeinen Bloch-Rezeption und im Schatten von „Geist der Utopie“ ist diese Schrift in der heutigen Bloch-Community kaum präsent. Bei genauerer Betrachtung hatte Ernst Bloch in diesem umfangreichen Zeitungsaufsatz, den er vor Ende des Ersten Weltkrieges begann, wesentliche Vorarbeiten für seine spätere Analyse „Erbschaft dieser Zeit“ (1934) und der Bedeutung der „Ungleichzeitigkeit“ (Bloch) geleistet.

Bloch sezierte im Vademecum die politische Lage in Europa. In unerbittlicher Härte beschrieb er die zentrale Kriegsschuld von Preußen-Deutschland und Österreich. In loyaler und zugleich scharfer Kritik an Marx warnte er vor einer Unterschätzung der Bedeutung des Agrarischen in der deutschen Geschichte bei einem gesellschaftlichen Umbruch. Er wandte sich kühl gegen Lenins Verherrlichung des Proletariats und sagte für die russische Entwicklung einen Rückschlag in einen autoritären Staat voraus.

Vor allem aber sah Ernst Bloch in der Zerschlagung des agrarisch bedingten preußischen Militärstaates die zentrale Bedingung für eine gesellschaftliche Emanzipation in Deutschland und Europa. Sollte dies nicht gelingen, werde der preußische Kriegswahn mit seiner Blut-und-Rasse-Ideologie alsbald wieder auferstehen und ein neues Desaster auslösen. Was Bloch 1918/19 voraussah, kam 1933 zur Macht.

„Wir haben also kein Gefühl für Verbrecher, bloß weil sie erfolgreich waren. Ein Sein, und wenn es Jahrtausende zählt, hat nicht die Kraft, über das Recht zu entscheiden. Es ist Wahnsinn und wird durch den Rekurs auf ,Blut‘ und ,Rasse‘ (gebraucht, als ob Menschen Zuchthengste wären) nicht sittlicher, wenn sich die Niederträchtigkeit von heute durch die Niederträchtigkeit von gestern legitimiert.“ (Ernst Bloch, Vademecum, 1919)

 

Altes Bewusstsein in der neuen Welt

Foto: © Welf Schröter

Die Online-Zeitung „Telepolis“ hat jüngst eine Debatte losgetreten, in der Anhänger und Kritiker des medialen sogenannten „Dschungelcamps“ eines privaten Fernsehsenders heftig aneinander geraten sind. Unter der Überschrift „Bloch versus Dschungelcamp“ wurde nach einer aktuellen Erbschaft dieser Zeit gesucht.

In Anlehnung an das Blochsche Werk („Erbschaft dieser Zeit“) der dreißiger Jahre nahm ein „Telepolis“-Autor das methodische Rüstzeug des Denkens von Ernst Bloch auf und spiegelte den Begriff der „Ungleichzeitigkeit“ auf die aktuelle kommerzielle Fernsehkultur. Warum zieht es so viele Zuschauerinnen und Zuschauer vor die Mattscheibe, um den Ereignissen dieser Kunstwelt zu folgen?

„Das Dschungelcamp ist deshalb so erfolgreich, weil es bestimmte Bedürfnisse bei einem immer breiter werdenden Publikum befriedigt, die zuvor in solch einer Intensität nicht präsent waren. Es ist gewissermaßen ein Produkt der ,Mitte’, in der sich immer stärker die Wünsche regen, andere Menschen erniedrigt, gequält, unterworfen und ausgebeutet zu sehen.“ Der Autor Tomasz Konicz sieht die Gründe in einem neuen Bedürfnis nach Demütigung anderer: „Der Erfolg des Dschungelcamps verweist somit auf ein sich immer stärker aufstauendes autoritäres Potenzial in der Bevölkerung.“  (http://www.heise.de/tp/artikel/38/38405/1.html)

Analog zu Blochs Analyse der Vorhitlerzeit, in der die Angst der Mittelschicht, der Angestellten und vergleichbarer Gruppen vor dem sozialen Abstieg untersucht wurde, sieht Konicz die aktuelle Krise und Krisenangst als wichtigen Begründungszusammenhang der medialen Formierung: „Dem autoritären Charakter ist eine Untertanenmentalität eigen, die in Krisenzeiten ihre Servilität gegenüber dem herrschenden System psychisch nur aufrechterhalten kann, wenn sie sich Möglichkeiten der Triebabfuhr verschafft.“

Mit Bloch formuliert er: „Da dem autoritären Charakter ein Aufbegehren gegen die Verhältnisse, die ihn in den Irrsinn treiben, unmöglich scheint, bricht sich die so angestaute Wut gegen Schwächere Bahn.“ Der „Telepolis“-Autor erkennt nicht überwundene „Reste älteren ökonomischen Seins und Bewusstseins“ (Bloch).

Zweifellos hat Tomasz Konicz mit der Übertragung des Blochschen Gedankens der „Ungleichzeitigkeit“ auf die mediale Gegenwart einen richtigen Weg bestritten. Dennoch greift er zu kurz, wenn er allein die ästhetische Dimension in den Vordergrund rückt. Der Ansatz bedarf der Ergänzung durch eine Analyse des grundlegenden Wandels der Arbeit.

Die tiefen Brüche der modernen Arbeitswelt mit ihren Entfremdungen schaffen jene Identitätsverluste, Sehnsüchte und Heimatblockaden, die eine psychologische Ablenkung ins Mediale erst herausfordern. Der Übergang von der industriell-produktiven materiellen Arbeitswelt des 20. Jahrhunderts hin zur industriell-produktiven mehr und mehr immateriellen Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts reißt in Identität und Selbstbewusstsein jene zusätzlichen Lücken auf, in die ein „Dschungelcamp“ Einfluss zu nehmen sucht.

Habermas und Europas Ungleichzeitigkeiten

Selten war die Aktualität und Bedeutung eines Begriffs wie „Ungleichzeitigkeit“ aus der Bloch’schen Philosophie so erkennbar wie im Verlauf des Jahres 2012. Die Spannung zwischen der europäischen Idee und den Lasten des nationalstaatlichen Denkens nimmt zu. Habermas, Nida-Rümelin und Bofinger konstatierten am 3. August 2012 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter der Überschrift „Einspruch gegen die Fassadendemokratie“ – einen Strategiewechsel fordernd und konsequent „systemische Probleme“ diagnostizierend: „Diese sind durch Anstrengungen auf der nationalen Ebene nicht zu bewältigen, sie erfordern eine systemische Antwort.“ Gegen „monetären Nationalismus“ und für „das Versprechen eines sozialen Europas“ plädierten sie: „Denn nur für ein politisch geeintes Kerneuropa besteht die Aussicht, den inzwischen fortgeschrittenen Prozess der Umwandlung der sozialstaatlichen Bürgerdemokratie in eine marktkonforme Fassadendemokratie umkehren zu können.“ Hier steht die Unabgegoltenheit des Tagtraumes vom friedfertigen Miteinander in Europa dem ungleichzeitigen Verhaftetsein im Nationalen gegenüber. Ernst Bloch warnte in seinem Buch „Erbschaft dieser Zeit“ vor der Vernachlässigung der gleichzeitigen Präsenz ungleichzeitigen Nationalgefühls in der Bürgerschaft der späten Weimarer Republik. Habermas sekundiert heute in folgenden Worten: „Allerdings sollte die historische Erinnerung an die Einigung des Deutschen Reiches, die vielen Landesteilen dynastisch oktroyiert wurde, gerade uns eine Warnung sein.“ Die Antwort der drei Autoren auf die Herausforderung der „Ungleichzeitigkeiten“ im europäischen Werden greift das subjektive Empfinden bewusst auf: „Der europäische Bundesstaat ist das falsche Modell und überfordert die Solidaritätsbereitschaft der historisch eigenständigen europäischen Völker. Die heute fällige Vertiefung der Institutionen könnte sich von der Idee leiten lassen, dass ein demokratisches Kerneuropa die Gesamtheit der Bürger aus den EWU-Mitgliedsstaaten repräsentieren soll, aber jeden einzelnen in seiner doppelten Eigenschaft als direkt beteiligten Bürger der reformierten Union einerseits, als indirekt beteiligtes Mitglied eines der beteiligten europäischen Völker andererseits.“ Das „Gefühl verletzter Gerechtigkeit“ (Habermas) verlangt bewusst nach einem Mehr an Partizipation und Demokratie. Ein Verdrängen dieses Gefühls könnte als unaufgelöste Erbschaft die Fortsetzung der Vertiefung Europas bremsen oder blockieren: „Nicht alle sind im selben Jetzt da, sie sind es nur äußerlich dadurch, dass sie heute zu sehen sind, dadurch aber leben sie nicht mit den anderen zugleich. Sie tragen vielmehr Früheres mit, das mischt sich ein.“ (Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit)