Die Zukunft des Ich

Der Diskurs über „Identität in der Virtualität“, wie er seit mehreren Jahren im Spannungsverhältnis von sozialer Technikgestaltung und Blochscher Philosophie geführt wird, bekommt nun von prominenter Seite weiteren Rückenwind.ZukunftICH

Bisherige Grundlage der laufenden Debatte ist die These, dass der Begriff der „Identität“ in der E-Society sich aus dem Konvergieren von biografischer und virtueller Identität neu entwickelt. Für die Kontroverse um „Industrie 4.0“ bedeutet dies, dass Identität zu einem zivilgesellschaftlichen Schlüsselthema der Transformation der „Wissensgesellschaft“ wird: Die Einflüsse und Chancen der „virtuellen Identitäten“ und ihre Rückwirkungen auf das „biografische Ich“ erfordern einen ganzheitlichen Blick und ein auf Ganzheitlichkeit angelegtes Gestaltungskonzept. (Schröter)

Die deutsche Oktober-Ausgabe der IT-Zeitschrift „WIRED“ stellt die Frage nach der Zukunft des „Ich“ und meint: „Soziale Netzwerke und Internet of Things verändern die menschliche Identität radikal.“

Joachim Hentschel sieht die „Technologie als Krücke der Ich-Konstruktion“ und das digitale Ich als „ein Backup der eigenen Persönlichkeit“: „Dass die Ich-Digitalisierung heute noch so oft als Dystopie und Bedrohung verstanden wird, hat aber wohl weniger mit der Angst vor dem Datenmissbrauch zu tun. Eher mit einem verbreiteten bürgerlichen Konzept von Authentizität, in dem das Technische, Virtuelle, Nicht-Körperliche per se als weniger maßgeblich gilt.“ Hentschel warnt – in seiner Sicht immanent konsequent – davor, „Online- und Offline-Ich zu apodiktisch zu trennen.“

Zweifellos steckt in seinem Hinweis auf besagte Authentizität ein richtiges Argument. Das „Virtuelle Ich“ wird in seiner Bedeutung und Wirkungsweise noch immer unterbewertet. Jedoch unterschätzt der Autor das gewachsene soziale und kulturelle Gewicht der Entstehungsgeschichte des „biografischen Ichs“. Das Humanum kann technisch ergänzt, nicht aber ersetzt werden. In Hentschels Prognose steckt zuviel transhumanistischer Perspektive.

 

Diskurs „SozialCharta Virtuelle Arbeit“

Foto: Schröter

Mit dem pluralistischen Diskurs um eine „SozialCharta Virtuelle Arbeit“ soll ein Blick in die nahe Zukunft der Arbeit geworfen werden. Dabei geht es gestalterisch um die Frage, „was wir heute anstoßen sollten, damit morgen verbesserte humane und soziale Arbeitswelten in der Informations- und Wissensgesellschaft möglich werden“. Deshalb befasst sich der Diskurs sowohl mit einer Vorausschau wie auch mit der Beschreibung dessen, was zukünftig sozial genannt wird.

Am Ende des offenen Diskurses, an dem sich Menschen unterschiedlicher weltanschaulicher Richtungen und unterschiedlicher Positionen aus Wirtschaft- und Arbeitszusammenhängen beteiligen, steht keine Musterlösung und keine Musterbetriebsvereinbarung. Es geht vielmehr um die Sammlung konsensfähiger Eckpunkte, die in betriebliche, tarifliche und gesellschaftliche Aushandlungsprozesse eingebracht werden können. Der Diskurs will widersprüchliche Interessen der um Einkommen bemühten Berufstätigen aufgreifen, kontrovers beraten und Gemeinsamkeiten herausarbeiten.

Der Diskurs bezieht sich auf Erfahrungen und Kenntnisse, die aus der ehrenamtlichen Arbeit des seit zwanzig Jahren aktiven Personennetzwerkes Forum Soziale Technikgestaltung gesammelt wurden. Zugleich ist der Diskurs eine Art Werkstatt-Blitzlichtaufnahme, der auch seine Grundannahmen hinterfragt und immer wieder an neue Erfahrungen anpasst.

Die einfließenden Meinungen kommen von Betriebsräten, Personalräten, Beschäftigten, Angestellten, Wissenschaftler/innen, Erwerbssuchenden, Selbstständigen, Werkverträgler/innen, Gewerkschafter/innen, unternehmerisch Handelnden, Forschenden, Verbandsvertreter/innen, politisch Aktiven, CLOUDwerkern, Netznomaden, Cybernauten und Neulingen. Alle demokratisch denkenden Menschen, die hart in der Sache und freundlich im Umgang debattieren wollen, sind willkommen. Kontakt: schroeter@talheimer.de

Ungleichzeitigkeit der digitalen Demokratie

Foto: © Welf Schröter

Die Alltagswirkung dessen, was mancher Wissenschaftler euphemistisch „Wissensgesellschaft“ nennt, dringt in die Lebenswelt fast aller Bürgerinnen und Bürger ein. Im virtuellen „Datenschutzforum“ hat sich jüngst Peter Schar, Bundesbeauftragter für Datenschutz und die Informationsfreiheit, zu Wort gemeldet:

„Unabhängig von dem aktuellen „Skandal” hat die Informationstechnik schon heute jeden Arbeitsplatz, jeden Haushalt und große Bereiche unserer Freizeit erreicht. PCs, Tablet-Computer und Smartphones sind nicht einfach nur neue Werkzeuge der Kommunikation, die ansonsten folgenlos bleiben: Die Integration von Chips in alle möglichen Gegenstände, die umfassende Vernetzung aller möglichen Aktivitäten und die leichte Zugänglichkeit sozialer Netzwerke hat den Alltag einer wachsenden Zahl von Menschen dramatisch verändert und beeinflusst damit nicht nur unser Verhalten, sondern auch unsere Wahrnehmung der Realität. Und die damit verbundenen Risiken – nicht nur für die Privatsphäre – werden immer deutlicher.“ (August 2013)

Der politische Kommentator Sascha Lobo hat parallel in seiner Kolumne in Spiegel Online zu Recht auf die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung der digitalen Gesellschaft hingewiesen:

„Das politische Empfinden zur digitalen Sphäre breitet sich schmerzhaft langsamer aus als die Nutzung des Internets. Die Werte einer digitalen Demokratie entstehen nicht von allein, nur weil eine demokratische Gesellschaft digitaler wird.“

Die technischen „Innovationen“ strukturieren und verändern die materielle und zivilgesellschaftliche Basis schneller als das Lernen der Mitglieder dieser Gesellschaft die Demokratisierung der Verkehrsformen bewirken kann. Es scheint als ob Blochs „docta spes“ (belehrte Hoffnung) noch immer belehrte Erfahrung und belehrende Enttäuschung voraussetzt.