Mut zum Mut

Foto: © Welf Schröter

Inmitten des spannungsgeladenen Ringens um Erinnerung und die Würdigung des Widerstandes einfacher Menschen gegen Hitler, tritt eine Frau ans Mikrophon. Sie ist unüberhörbar Schwäbin, noch zögerlich, zum ersten Mal am Podium eines wissenschaftlichen Fachsymposiums. Sie spricht, immer sicherer werdend, dreißig Minuten über das Leben ihres Vaters und ihrer Mutter. Martin Maier war einer der maßgeblich Aktiven im „Mössinger Generalstreik“ gegen Hitler.

Beinahe dreißig Jahre lang erhob keine Person aus dem Kreis der Nachkommen der einst von der Gestapo verfolgten Teilnehmer des Generalstreiks öffentlich mehr die eigene Stimme. In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts waren die greisen Streikenden ein letztes Mal zu vernehmen. Nun tritt die über fünfzigjährige Rosemarie Vogt in die Öffentlichkeit. Bevor steht der achtzigste Jahrestag des Aufstandes in dem damaligen Textildorf am Rande der Schwäbischen Alb.

Sie spricht geradlinig, deutlich und nicht schüchtern. Sie verteidigt das Handeln ihrer Eltern. Ihr Vater hatte gesagt: „Ich hätte mir beim Rasieren nicht mehr in die Augen schauen können. Es war doch unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit den Leuten zu sagen, wer Hitler wählt, wählt Krieg. Wir konnten sie doch nicht mit offenen Augen ins Unglück rennen lassen.“

Die Tochter des bis zu seiner Amtsniederlegung 1933 aktiven Gemeinderats Martin Maier, der für seine Tat von der NS-Justiz zu 358 Tagen Gefängnis wegen Landeshochverrat und Hausfriedensbruch verurteilt, nach 1945 gerichtlich rehabilitiert und wieder zum Gemeinderat und Kreisrat gewählt wurde, lobte seinen „idealen Kommunismus“, der ihn trieb, sich für seine Mitmenschen einzusetzen. Später sprach sich Maier gegen die Ulbricht-Mauer und gegen die Sowjetpanzer in Prag aus. Sein Kommunismus war nicht der Kommunismus der Stalins, Breschnews etc.

Doch während in anderen Städten sich ein gewisses stolzes Selbstbewusstsein breit machen würde, spaltet die Erinnerung an den legitimen Widerstand der Mössinger gegen Hitler das heutige Stadtgeschehen. Rosemarie Vogt spricht von der Gegenwart, wenn sie die heutige „Verleumdung oder wenigstens üble Nachrede“ anprangert.

Während der NS-Zeit waren es vielfältige Denunziationen, die 98 Streikteilnehmer vor Gericht brachten. Nach 1945 war es das Schweigen und die subkutane Herabwürdigung der 800 Mutigen. Sie wurden als Wegbereiter von Stacheldraht und Lagern, als „Zuchthäusler“ und Gewalttätige bezeichnet. Heute im Januar 2013 braucht es in Mössingen erneut Zivilcourage, um gegen jene zu sprechen, die den Eindruck erwecken wollen, dass Hitler weniger schlimm gewesen sei als Stalin. – Als ob man zwischen zwei Mördern wählen könnte.

Am Ende ihrer Rede mit der Überschrift „Mut zum Mut“ lächelt Rosemarie Vogt und sagt selbstbewusst und augenzwinkernd: „Ich hoffe und wünsche mir, dass ich das Bild, das sich der eine oder andere von den ,schrecklichen‘ Kommunisten machte, etwas milder zeichnen konnte. Denn was zählt ist wie ein Mensch gelebt hat und wie er handelte.“

Ein kaum enden wollender Beifall gibt der Rednerin Ermutigung zurück. Sie hatte auch aus dem Herzen zahlloser Nachkommen der Generalstreikerfamilien gesprochen, die den Tränen nahe in den mittleren Reihen des Auditoriums sitzen. Es war ein Stück Zivilcourage in der Zivilgesellschaft gewachsen.

Das „virtuelle Ich“

Foto: © Welf Schröter

Der strukturelle Veränderungsprozess in der Arbeitswelt fordert uns gedanklich immer mehr heraus. Die steigende Virtualisierung im beruflichen Alltag beeinflusst unser Ich, unsere Identität. In den zunehmenden IT-gestützten Arbeitswelten wächst dem handelnden natürlichen Menschen eine oder mehrere virtuelle Zwillingsidentitäten („virtuelle Ichs“) zu. Das technisch abstrakte „virtuelle Ich“ entsteht zunächst durch aktive und passive Ansammlungen von Datenmengen und Profilen. Es formt sich und wird geformt durch neue Werkzeuge und Plattformen. Es wird qualitativ wirkungsmächtig und beginnt das „biografische Ich“ schrittweise zu beeinflussen. „Das ,biografische Ich‘ verhält sich zu seinem ,virtuellen Ich‘ ungleichzeitig“ (Schröter). Entfremdung?

Wir brauchen ein Denken, das nicht nur von Geschäftsprozessen her agiert, sondern die Identitätsstiftung als Ziel setzt und aufwertet. Der Prozess der Identitätsstiftung umfasst zukünftig sowohl das „biografische Werden“ als auch die „virtuelle Lebenslage“.

Was für Pädagogen als unannehmbar gilt, verlangt heute unsere Aufmerksamkeit. Die beginnende Dominanz des Virtuellen über das Nicht-Virtuelle (materiell Reale) setzt der menschlichen Ich-Werdung nach.

Hinzu kommt, dass das „biografische Ich“ im Blochschen Sinne ein ungleichzeitiges, partiell unabgegoltenes „Wir“ repräsentiert, während das „virtuelle Ich“ nicht nur eine sondern mehrere Identitäten, Rollen, Personas bündelt.

Das „Ich“ wird in Zukunft nicht mehr ein Gegensatz von „biografischem“ und „virtuellem Ich“ sein sondern die Konvergenz beider. Doch wer beeinflusst wen? Die Diskussion hat gerade erst begonnen. Zum Schrecken vieler und zur Freude vieler. Die neuen „Ichs“ sind keine Opfer, sondern bewusste Subjekte.

Der Diskurs des Forum Soziale Technikgestaltung zum Thema „SozialCharta Virtuelle Arbeit“ sucht nach ersten Antworten.

Jugendliche Tagträume der Moderne

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„Entscheidend sind die Ideen und Vorstellungen, die offene Neugierde auf die Innovationen der Moderne sowie der Mut, das Gebiet der Moderne zu betreten. Ein Gebiet, das in Deutschland – besonders nach der demütigenden Niederlage im Ersten Weltkrieg – von mächtigen Gegnern bekämpft wurde.“ Mit diesen Worten beschrieb im Jahr 2009 Jan Robert Bloch die Geschehnisse in der kleinen schwäbischen Gemeinde Mössingen in der Zeit zwischen 1925 und 1936.

Im „roten Mössingen“, wie der Ort damals wegen seiner zahlreichen Unterstützer von KPD und SPD genannt wurde, vermischten sich die Anti-Kriegs-Lebenserfahrungen der Teilnehmer des Ersten Weltkrieges mit den aufbrechenden gegenkulturellen Hoffnungen junger Mössinger, die aus dem verstockten religiös-wilhelminischen Geist ausbrechen und neue Lebenskonzepte erkunden wollten. Selbstbestimmtheit und die Entfaltung eines neuen offenen kulturellen Milieus schafften Raum für einen Tagtraum der „Moderne“.

Diese Moderne, die sich vor Ort mit dem Bauhaus-Netzwerk der jüdischen Unternehmer Artur und Felix Löwenstein verband, trug dazu bei, dass junge Frauen und Männer in Bewegung kamen für Demokratie und gegen die Kriegsgefahr. Am 31. Januar 1933 demonstrierten in dem 4.000-Einwohner-Ort Mössingen 800 Menschen gegen die Machtübergabe an Hitler. Der „Mössinger Generalstreik“ – der einzige im ganzen Reich – ließ die Menschen aufrecht gehen. Für sie war der Nationalsozialismus das Gegenteil der Moderne, das Gegenteil ihrer jugendlichen Lebenssehnsüchte. Sie wollten frei ihren Weg wählen.

Das Ringen um die Moderne wurde in Mössingen verloren. Mehr als 90 Generalstreikende kamen in Haft, ins Zuchthaus, ins KZ. Die jüdischen Unternehmer wurden drei Jahre später enteignet und vertrieben. Das Bauhaus war zuvor in Berlin geschlossen worden.

An die unabgegoltenen Tagträume von damals, an die Sehnsucht und die ungleichzeitigen Hoffnungen von einst erinnert heute ein Diskurs, der vor allem eines will: den Mut der damals Handelnden würdigen.

Autonomie und Freiheit

Nancy Fraser (Foto: © Welf Schröter)

Ist die Forderung nach einer existenzialistisch begründeten Autonomie des Individuums in unseren gegenwärtigen Gesellschaften eine ausreichende Anforderung an Veränderung? – Gegen diese Sicht ergriff Nancy Fraser, amerikanische Philosophin, freundlich aber bestimmt Partei gegen André Gorz. „Not sufficient, nicht ausreichend“ sei diese Position. Als Anhängerin von Herbert Marcuse wollte Fraser das Thema soziale Gerechtigkeit, die Forderung nach „equal freedom“ ebenso berücksichtigt wissen. Autonomie an sich sei noch kein Motor für „transitorische Reformen“ (Fraser). Doch Gorzens Traum der Emanzipation des Menschen könne sie viel abgewinnen.

Die theoretischen Provokationen von André Gorz gipfelten in der frühen Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen. Er war ein Schüler Jean-Paul Sartres und hatte sich doch mit ihm überworfen: André Gorz (1923-2007), existenzialistischer Marxinterpret und politischer Ökologe, der die Neue Linke Europas 1980 mit seinen Thesen des „Abschieds vom Proletariat“ zu recht herausforderte und der 1983 „Wege ins Paradies“ pointierte. Aus Anlass seines fünften Todestages kamen am 16. November 2012 in Potsdam auf Einladung der Heinrich-Böll-Stiftung Brandenburg und der Ernst-Bloch-Gesellschaft zur Tagung „Paradise now“ rund einhundert Gorz-Freunde und Gorz-KritikerInnen zusammen.

Gorz legte einen neuen Arbeitsbegriff seinem Denken zugrunde und verlangte eine Umverteilung von Arbeit für neue gesellschaftliche Zeitstrukturen sowie mehr individuelle Eigenzeit. Doch er blieb dabei den Grundkategorien der Kulturen industrieller abhängiger Erwerbstätigkeit verhaftet. Die Entgrenzung der Arbeit durch die heraufziehende Informatisierung der Arbeit unterschätzte er. André Gorz war ein wichtiger Wegbereiter für ein unabhängiges emanzipationsorientiertes Denken. Seine Herkunft aus einem jüdischen Elternhaus und das Erleben der Schrecken von Nazismus und Antisemitismus begründeten zugleich sein stetes Bedürfnis nach einer „authentischen Existenz“.

 

Von der Ent-Betrieblichung der Arbeit zur Ent-Betrieblichung der Betriebe

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Erneut hat ein hochkarätig besetzter „IT-Gipfel“ der Bundesregierung den Stellenwert der dynamischen Informations- und Kommunikationstechnologien unterstrichen. In der „Essener Erklärung“ vom 14. November 2012 werden die Ziele eines noch immer vor allem technikzentrierten Ausbaus der IT formuliert. Versteckt aber leicht zu finden ist in der Verlautbarung auch eine Aussage, die vorsichtig andeutet, welche Folgen unausgesprochen impliziert sind: „Digitale Technologien bewirken einen tief greifenden Wandel der Wirtschaft und der industriellen Prozesse.“

Nähert man sich diesem nur scheinbar allgemeinen Satz empirisch und analytisch, so stellt sich heraus, dass wir es hinter dem Rücken der Beteiligten mit einem sehr weit reichenden Umbauvorgang zu tun haben. Der in Gang gekommene Prozess der Ent-Betrieblichung der Arbeit berührt die verfassten Grundlagen traditioneller Unternehmensvorstellungen: Die langsame Ent-Betrieblichung der Betriebe durch eine sich beschleunigende Virtualisierung. War früher der Betrieb als Ort der Arbeit und der abhängigen Beschäftigung der Hort erlebter Gleichzeitigkeit und sozialer Sozialisation, so lässt sich heute erkennen, dass immer mehr Arbeitvolumina aus dem verfassten Ort Betrieb auf Dauer auswandern und sich jenseits des „Prinzips Betrieb“ ungleichzeitig erlebt aufhalten. Die neuen labilen Milieus lassen sich mit Begriffen wie „Industrie 4.0“, „Smart Factory“ oder „Crowd Sourcing“ nur annähernd beschreiben.

Die Dezentralisierungstendenzen alter tradierter Wirtschaftsorganisationen erhöhen die Gefahren der Individualisierung und Atomisierung von Beschäftigung. Der „Industrie 4.0“ wird eine sich verstärkende „Entfremdung 4.0“ folgen, wenn diese zentrifugalen Vorgänge mit ihren Implosionen erlebter Vertrautheiten die soziale Tragekraft einer Zivilgesellschaft überbelasten. Der durch IT-Einsatz erzeugte Wandel der Arbeits- und Erwerbswelt ist nicht primär eine Frage in den Händen technischer Expertise sondern eine Schlüsselherausforderung unserer Gesellschaft.

Der nächste „IT-Gipfel“ sollte als Leitmotive die Begriffe „Soziale Kohäsion“, „Differenz“, „Entfremdung“, „Ungleichzeitigkeit“ und „Diversity“ aufgreifen. Dann könnte man melden: „Die zivilgesellschaftlichen Impulse bewirken einen tief greifenden Wandel der IT-Technik.“

Das „Noch-Nicht“ der Arbeit

Eugen Rosenstock-Huessy und Ernst Bloch hatten ein großes, teilweise gemeinsames Thema: Es ist das Werden der Welt, das Werden der Arbeit des Menschen und somit das Werden des Menschen, das „Noch-Nicht“. Ähnlich wie Bloch in „Prinzip Hoffnung“ tendenzkundig die Genesis als kommendes Ergebnis des gesellschaftlichen Werdens des Menschen erkennt, sieht Rosenstock-Huessy – auf den Schultern Kants – perspektivisch im „Dritten Jahrtausend“ das Heraustreten des Menschen aus der „Finsternis“. Im dritten Band der „Soziologie“ (Eugen Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit. Eine nach-goethische Soziologie. Talheimer Ausgabe) geht der Autor erneut auf sein Leitthema ein: „Die Dritte-Jahrtausend-Ordnung der Gesellschaft hat also das Rätsel der Hohen Zeit und des Alltages zu ergründen. Und zwar ist das Neue gegenüber alten Hochzeiten eine veränderte Zeitmessung. In ein einziges Menschenleben werden heute die Wechsel von drei und vier Generationen alter Zeit hineingepresst. Diese Vervielfältigung der Lagen macht jede Lage heute zu etwas anderem als früher. In jeden Lebenstunnel, in den wir einfahren, nehmen wir heute das Bewußtsein der Ausfahrt am anderen Ende, also der Kündigung, der Scheidung, des Abschieds mit.“

Die Ungleichzeitigkeiten sozialer Entwicklungen zeigen sich unter anderem in dem sich wandelnden Verständnis von „Arbeit“ und „Zeit“. Wie nimmt der Mensch die Unabgegoltenheit öffentlicher Tagträume in seinem persönlichen Alltag wahr? Welchen Gestaltungsraum kann er sich emanzipatorisch erschließen?

Nun beginnt ein mutiges Projekt verschiedner Partner, die sich im Frühjahr 2013 in der Evangelischen Akademie Bad Boll treffen wollen, um der Lösung dieser gesellschaftlichen Rätsel näher zu kommen (http://bloch-blog.de/wp-content/uploads/2012/11/Flyer-Arbeit-und-Zeit-2013.pdf). Es geht um die „Anstrengung des Begriffs“, um ein gemeinsames Nachdenken, nicht frei von dialektisch Thesenhaftem. Möge der Ort, an dem sich Rosenstock-Huessy und Bloch zu unterschiedlichen Zeiten aufhielten, den Diskurs anregen: „Ich bitte Sie zu beginnen“ (Ernst Bloch).

In rebellischem Unfrieden

Foto: © Welf Schröter

Er hatte die Musik für die Trauerfeier von Herbert Marcuse geschrieben, hatte Rudi Dutschke und dessen Familie nach dem Attentat 1968 aufgenommen und in seinem Haus in Italien beherbergt, gehörte zur Anti-Vietnamkriegs-Bewegung und war sein Leben lang in rebellischem Unfrieden mit den Deutschen und ihrer Geschichte geblieben. In den fünfziger Jahren verließ er demonstrativ Deutschland, in dem er vor allem einen Hort von Nazi-Mördern erkennen wollte. Der Komponist Hans Werner Henze starb Ende Oktober 2012 in Dresden im Alter von 86 Jahren.

Im Jahr 1965 begegnete er Ernst Bloch. Zu seinen Freunden konnte er den Komponisten Karl Amadeus Hartmann zählen, der als Reaktion auf den Überfall Hitlerdeutschlands auf Polen das großartige „Concerto funèbre“ mit dem „Choral“ schrieb. Hartmann wurde im Nazi-Reich als „entartet“ diskriminiert. Henzes politische Ästhetik, sein Verständnis der sozialen Bedeutung von Musik und sein gesellschaftspolitisches Engagement haben ihm in der deutschen Gesellschaft viele Gegner und Feinde gebracht. Seine Parteilichkeit für Benachteiligte – man denke an seine Arbeit zu Metallarbeiterstreiks – und seine ungewöhnliche Kreativität verband ihn mit seinem Freund Paul Dessau und auch mit Bert Brecht, den er kennenlernte. Max Nyffeler von der NZZ fand die richtigen Worte: „ … ,musica impura‘ im Sinne von Nerudas ,poesia impura‘, gesättigt mit den Unreinheiten und Widersprüchen des realen Lebens“.

Die StaSi überwachte die Blochs auch in Tübingen

(Foto: © Welf Schröter)

Unter dem Titel „Ernst Bloch im Visier der Staatssicherheit – Der Operative Vorgang ,Wild‘“ beschrieb Jürgen Jahn, der frühere Lektor Ernst Blochs im DDR-Aufbau-Verlag, im „Bloch-Jahrbuch 2006“ die Geschichte der StaSi-Überwachung der Blochs von Ende 1956 bis Frühjahr 1961. Sechs Jahre später veröffentlichte Jahn im „Bloch-Jahrbuch 2012“ einen weiteren Aufsatz „Ein Gnadenakt besonderer Art“ über das Wirken der DDR-Staatssicherheit gegenüber der Familie Bloch. Im September 2012 drang die Erinnerung an die Geheimdienst- und IM-Aktivitäten gegen den Philosophen nach Tübingen durch. Im Rahmen einer Ausstellung der StaSi-Unterlagen-Behörde („Gauck-Behörde“) wurden Notizen von „IMs“ gezeigt, die sogar in Tübingen das Auftreten Blochs beobachteten und nach Berlin-Ost meldeten. Daraus war zu entnehmen, dass Bloch spätestens 1961 von seiner Überwachung Kenntnis erlangt hatte. Den Decknamen „Krone“ und ein Foto dieses in Tübingen im Bloch-Umfeld tätigen „IM“ brachte die Ausstellung mehr als fünfzig Jahre danach an den Neckar.

Siehe Jürgen Jahn: Ein Gnadenakt besonderer Art. Der Sondervorgang [SV] 5/86 „Kiel“. In: Francesca Vidal (Hg.) : Bloch-Jahrbuch 2012. Einblicke in Bloch’sche Philosophie. Anlässlich des 70ten Geburtstags von Gert Ueding. 2012, ISBN 978-3-89376-149-4

Heimat statt Heimat

Avishai Margalit (Foto: © Welf Schröter)

Eine Gesellschaft, in der keine Erniedrigung geduldet wird und die zwischen ihren Bürgerinnen und Bürgern einen anständigen Umgang sichert, nennt der israelische philosophierende Denker eine „decent society“. Die Eckpunkte derselben trug der 1939 geborene Avishai Margalit in Beispielen in seiner Dankesrede beim Empfang des „Ernst-Bloch-Preises 2012“ im Ernst-Bloch-Zentrum vor. Das Mitglied der israelischen Peace Now-Bewegung und der Israel Academy for Science and Humanities wurde von der Stadt Ludwigshafen am Rhein und dem Ernst-Bloch-Zentrum zum zehnten Preisträger erkoren. Margalit ist Verteidiger seines Landes und zugleich einer seiner großen Kritiker. Er wendet sich gegen den traditionellen Zionismus und sucht nach einem neuen Politikkonzept. Seine Kritik an der israelischen Gesellschaft ist ähnlich wie die an der palästinensischen Gesellschaft. Beide tragen Variationen der Nostalgie-Sehnsucht vor sich her, um reine Momente der Vergangenheit in die Zukunft zu transponieren. Dies könne keine tragfähige Lösungen hervorbringen. Beide Gesellschaften verharrten in ihrer jeweiligen Rückwendung und suchten unschuldige Heimaten „in the past“. Dieser Typ von Nostalgie führe zu Brutalität. Margalit spricht von Heimat im Sinne von Herkunft als Teil der Vergangenheit. Er wendet alte Zeiten gegen Gegenwart. Avishai Margalit erhielt den Ernst-Bloch-Preis. Was hat Margalits Denkansatz mit Bloch zu tun? Er sagt: „Man muss etwas über seine Bewunderung des Marxismus hinwegsehen, die mir problematisch erscheint.“ Der Vortrag des Preisträgers benannte Bloch als Utopisten, der Gefahr läuft zum Kitsch zu werden. Darüber ließe sich trefflich streiten. Schade nur, dass Margalit seinen Heimat-Begriff nicht mit dem nach vorne gewandten Heimat-Begriff Blochs konfrontierte. Auch seine Zeitanalyse der Nostalgie wäre mit Blochs Wort von der „Ungleichzeitigkeit“ reichhaltiger geworden. Der Bloch-Preisträger Margalit kennt das Blochsche Werk nur bruchstückhaft. Vielleicht lädt ihn der Preis zu tieferer Lektüre ein. Es brächte für alle attraktive Kontroversen. Susan Neiman, Schülerin von John Rawls und derzeit Direktorin des Einstein Forums Potsdam, hatte bei ihrer Laudatio schon begonnen, Margalit mit ihrer Rolle als „jewish socialist“ herauszufordern.

Mössinger Generalstreik gegen Hitler

Irene Scherer bei ihrer Rede am 17. Juli 2012 in der Pausa am Löwensteinplatz in Mössingen. (Foto: © Welf Schröter)

„Da ist nirgends nichts gewesen außer hier“ – so resümierte eine Mössingerin ihre Erzählung über die Ereignisse an jenem 31. Januar 1933, als die Arbeiterbewegung ihres Heimatorts den Generalstreik gegen die tags zuvor eingesetzte Hitlerregierung durchzuführen versuchte. Zwischen 600 und 800 Demonstranten sollen es gewesen sein, die im damals etwa 4.000 Einwohner zählenden Arbeiterbauerndorf Mössingen durch die Straßen und aus den Fabriken zogen. Es gelang ihnen, zwei der größten Betriebe am Ort stillzulegen, doch nach kurzer Zeit wird der „Mössinger Aufstand“ – wie ihn viele der damals Beteiligten nennen – durch massiven Polizeieinsatz abgebrochen. 80 Personen aus Mössingen und seinen Nachbargemeinden sind es dann, die für diesen vergeblichen Versuch, Terror und Krieg für Deutschland und Europa abzuwenden, ins Gefängnis oder ins KZ kommen – die meisten für einige Monate, manche für mehrere Jahre.

Vor knapp dreißig Jahren erschien endlich die erste Textsammlung und Dokumentation dieses außergewöhnlichen Ereignisses in Mössingen. Nun ist das Buch wieder zugänglich. Hermann Berner und Bernd Jürgen Warneken, die Herausgeber des Bandes „Da ist nirgends nichts gewesen außer hier! – Der Mössinger Generalstreik gegen Hitler“, widmen diese ergänzte und erweiterte Neuausgabe dem letzten Überlebenden der ehemaligen Generalstreiker, der im Alter von fast 102 Jahren im Januar 2010 gestorben ist: „Jakob Textor zu Ehren“. Jakob Textor war beim Generalstreik dabei und hatte durch viele öffentliche sowie nächtliche Aktionen vor dem Na­tionalsozialismus gewarnt. Sein spektakuläres Erklimmen des Kamins der Textilfirma Pausa, um dort die rote Fahne gegen Hitler zu hissen, bleibt im Gedächtnis.

Bei der Vorstellung des umfangreichen Werkes mit neuer Aufmachung verband Irene Scherer ihre Würdigung des Generalstreiks mit einem engagierten Plädoyer für Europa: „Die derzeitige Wirtschafts- und Finanzkrise in Europa hat eine ähnlich weit reichende Bedeutung wie der Fall der Berliner Mauer 1989. Es geht erneut um die Neuausrichtung Europas. Die Frage der Richtung steht wieder auf der Tagesordnung. Nicht die Rückwendung auf ein nationalstaatliches oder gar nationalistisches Denken ist gefordert, sondern die aktive Hinwendung zu einem Mehr an Europa ist unabdingbar. Es ist die Stunde von Vaclav Havel, Lew Kopelew und Adam Michnik: Die Demokratie verbündet sich mit Europa, nicht mit einem nationalen Rückschritt. Wir brauchen ein demokratisches und friedfertiges Gesamteuropa. Unsere Freunde in der Charta 77 in Prag sagten es in ihren Worten: Die Antwort auf Hitler heißt Europa.“ (Rede als pdf-Datei verfügbar). Ernst Blochs „Erbschaft dieser Zeit“ kann Pate stehen für ein Verständnis der Mössinger Ereignisse – damals und heute.  

(Hermann Berner, Bernd Jürgen Warneken (Hg.): „Da ist nirgends nichts gewesen außer hier!“ Der Mössinger Generalstreik gegen Hitler – Geschichte eines schwäbischen Arbeiterdorfes. ISBN 978-3-89376-140-1)