- Inschrift „Tempel des Literaturgottes“ auf der Leipziger Buchgrafik-Ausstellung gegen den nahenden Krieg 1914 (Foto: © Welf Schröter)
Es waren nicht nur Tausende von Menschen auf dem „Platz des himmlischen Friedens“. In zahlreichen Städten Chinas gingen Millionen von Menschen für mehr Demokratie und Freiheitsrechte auf die Straße. Sie forderten keinen Umsturz, sie forderten Verbesserungen für ihr Land. Sie gingen im Geiste ihrer Literatur und Lesekultur, ihrer Bücher und ihres kulturellen Wissens auf den großen Platz der Öffentlichkeit.
Als vor 25 Jahren am 4. Juni 1989 in Peking mit Waffengewalt gegen Studenten, Arbeiter, Professoren, Schriftsteller vorgegangen wurde und am Ende mehrere tausend Tote auf der Straße lagen, ging ein Schock nicht nur durch die Oppositionsbewegungen in Leipzig, Warschau und Prag. Würden die Kommunistischen Parteien auch dort zu den Waffen greifen lassen? Hätte die „Samtene Revolution“ eine Chance?
Im Juni 1989 nahm Karola Bloch die Nachrichten von Tiananmen-Platz mit tiefem Erschrecken zur Kenntnis: „Es ist furchtbar, was in Peking geschieht. Sie erschlagen Menschen und lassen sie hinrichten, obwohl sie gar nicht Feinde des Sozialismus sind, sondern lediglich Demokratie und Reformen verlangen. Ich bin entsetzt, wenn ich erfahre, wie Menschen zum Tode verurteilt werden. Es ist etwas so Unwiederbringliches. Sind wir jetzt nicht zu Ende mit dem Kommunismus?“ (Sehnsucht 2, 94)
Für sich persönlich beantwortete Karola Bloch die gestellte Frage negativ: „Ich sehe, dass der Kommunismus nicht fähig war, die Menschen zu ergreifen und zu erobern.“ Dabei unterschied sich ihr persönliches Verständnis der kommunistischen Idee von denen Stalins, Ulbrichts und andere grundlegend. Für die Polin, Architektin und Sozialistin aus jüdischem Haus waren Freiheit und Demokratie untrennbar mit dem Tagtraum eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ verbunden.
Ähnlich hatte sich ihr späterer Mann Ernst Bloch schon 1918 gegen den Ersten Weltkrieg als sehnlichst Hoffender und enttäuscht Kritiserender der „Russischen Revolution“ geäußert: „Erst muß diese Phase: die bürgerliche, die politische Freiheit, das demokratische Minimum überall, vor allem aber in den Zentralstaaten, zu Ende gebracht werden; dann erst kann die soziale Freiheit, die ökonomisch-soziale Demokratie, das demokratische Maximum wahrhaft Freiheit sein und bleiben.“
Und an anderer Stelle schrieb er: „Weil also Marx allein mit dem Hochkapitalismus zu rechnen gelehrt hatte, gab man der beginnenden proletarischen Fabrikverschmutzung Rußlands als der programmgemäßen Antithesis in kommunistisch-kapitalistisch-sozialistischer Wirtschaftsdialektik den gottlosen Segen; und machte gerne, mit der Minderheit an Soldatenpöbel und Fabrikarbeitern, preußisch-zaristische ,Diktatur des Proletariats‘.“
Es gibt Dinge, über die heute ein anständiger Mensch nicht zweierlei Meinung sein kann. So eines der gängigen Bloch-Zitate. Wer heute also die Unabgegoltenheit Blochschen Denkens artikuliert oder artikulieren will, wird dies vom Standpunkt der Überlebenden des Tiananmen vom Juni 1989 aus leisten müssen, wenn Glaubwürdigkeit die eigene Rede prägen soll.
Anne Frommann, Welf Schröter (Hg.): Karola Bloch – Die Sehnsucht des Menschen, ein wirklicher Mensch zu werden, Reden und Schriften. Zwei Bände, Mössingen 1989.
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