Das „virtuelle Ich“

Foto: © Welf Schröter

Der strukturelle Veränderungsprozess in der Arbeitswelt fordert uns gedanklich immer mehr heraus. Die steigende Virtualisierung im beruflichen Alltag beeinflusst unser Ich, unsere Identität. In den zunehmenden IT-gestützten Arbeitswelten wächst dem handelnden natürlichen Menschen eine oder mehrere virtuelle Zwillingsidentitäten („virtuelle Ichs“) zu. Das technisch abstrakte „virtuelle Ich“ entsteht zunächst durch aktive und passive Ansammlungen von Datenmengen und Profilen. Es formt sich und wird geformt durch neue Werkzeuge und Plattformen. Es wird qualitativ wirkungsmächtig und beginnt das „biografische Ich“ schrittweise zu beeinflussen. „Das ,biografische Ich‘ verhält sich zu seinem ,virtuellen Ich‘ ungleichzeitig“ (Schröter). Entfremdung?

Wir brauchen ein Denken, das nicht nur von Geschäftsprozessen her agiert, sondern die Identitätsstiftung als Ziel setzt und aufwertet. Der Prozess der Identitätsstiftung umfasst zukünftig sowohl das „biografische Werden“ als auch die „virtuelle Lebenslage“.

Was für Pädagogen als unannehmbar gilt, verlangt heute unsere Aufmerksamkeit. Die beginnende Dominanz des Virtuellen über das Nicht-Virtuelle (materiell Reale) setzt der menschlichen Ich-Werdung nach.

Hinzu kommt, dass das „biografische Ich“ im Blochschen Sinne ein ungleichzeitiges, partiell unabgegoltenes „Wir“ repräsentiert, während das „virtuelle Ich“ nicht nur eine sondern mehrere Identitäten, Rollen, Personas bündelt.

Das „Ich“ wird in Zukunft nicht mehr ein Gegensatz von „biografischem“ und „virtuellem Ich“ sein sondern die Konvergenz beider. Doch wer beeinflusst wen? Die Diskussion hat gerade erst begonnen. Zum Schrecken vieler und zur Freude vieler. Die neuen „Ichs“ sind keine Opfer, sondern bewusste Subjekte.

Der Diskurs des Forum Soziale Technikgestaltung zum Thema „SozialCharta Virtuelle Arbeit“ sucht nach ersten Antworten.

Autonomie und Freiheit

Nancy Fraser (Foto: © Welf Schröter)

Ist die Forderung nach einer existenzialistisch begründeten Autonomie des Individuums in unseren gegenwärtigen Gesellschaften eine ausreichende Anforderung an Veränderung? – Gegen diese Sicht ergriff Nancy Fraser, amerikanische Philosophin, freundlich aber bestimmt Partei gegen André Gorz. „Not sufficient, nicht ausreichend“ sei diese Position. Als Anhängerin von Herbert Marcuse wollte Fraser das Thema soziale Gerechtigkeit, die Forderung nach „equal freedom“ ebenso berücksichtigt wissen. Autonomie an sich sei noch kein Motor für „transitorische Reformen“ (Fraser). Doch Gorzens Traum der Emanzipation des Menschen könne sie viel abgewinnen.

Die theoretischen Provokationen von André Gorz gipfelten in der frühen Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen. Er war ein Schüler Jean-Paul Sartres und hatte sich doch mit ihm überworfen: André Gorz (1923-2007), existenzialistischer Marxinterpret und politischer Ökologe, der die Neue Linke Europas 1980 mit seinen Thesen des „Abschieds vom Proletariat“ zu recht herausforderte und der 1983 „Wege ins Paradies“ pointierte. Aus Anlass seines fünften Todestages kamen am 16. November 2012 in Potsdam auf Einladung der Heinrich-Böll-Stiftung Brandenburg und der Ernst-Bloch-Gesellschaft zur Tagung „Paradise now“ rund einhundert Gorz-Freunde und Gorz-KritikerInnen zusammen.

Gorz legte einen neuen Arbeitsbegriff seinem Denken zugrunde und verlangte eine Umverteilung von Arbeit für neue gesellschaftliche Zeitstrukturen sowie mehr individuelle Eigenzeit. Doch er blieb dabei den Grundkategorien der Kulturen industrieller abhängiger Erwerbstätigkeit verhaftet. Die Entgrenzung der Arbeit durch die heraufziehende Informatisierung der Arbeit unterschätzte er. André Gorz war ein wichtiger Wegbereiter für ein unabhängiges emanzipationsorientiertes Denken. Seine Herkunft aus einem jüdischen Elternhaus und das Erleben der Schrecken von Nazismus und Antisemitismus begründeten zugleich sein stetes Bedürfnis nach einer „authentischen Existenz“.

 

Von der Ent-Betrieblichung der Arbeit zur Ent-Betrieblichung der Betriebe

Foto: © Welf Schröter

Erneut hat ein hochkarätig besetzter „IT-Gipfel“ der Bundesregierung den Stellenwert der dynamischen Informations- und Kommunikationstechnologien unterstrichen. In der „Essener Erklärung“ vom 14. November 2012 werden die Ziele eines noch immer vor allem technikzentrierten Ausbaus der IT formuliert. Versteckt aber leicht zu finden ist in der Verlautbarung auch eine Aussage, die vorsichtig andeutet, welche Folgen unausgesprochen impliziert sind: „Digitale Technologien bewirken einen tief greifenden Wandel der Wirtschaft und der industriellen Prozesse.“

Nähert man sich diesem nur scheinbar allgemeinen Satz empirisch und analytisch, so stellt sich heraus, dass wir es hinter dem Rücken der Beteiligten mit einem sehr weit reichenden Umbauvorgang zu tun haben. Der in Gang gekommene Prozess der Ent-Betrieblichung der Arbeit berührt die verfassten Grundlagen traditioneller Unternehmensvorstellungen: Die langsame Ent-Betrieblichung der Betriebe durch eine sich beschleunigende Virtualisierung. War früher der Betrieb als Ort der Arbeit und der abhängigen Beschäftigung der Hort erlebter Gleichzeitigkeit und sozialer Sozialisation, so lässt sich heute erkennen, dass immer mehr Arbeitvolumina aus dem verfassten Ort Betrieb auf Dauer auswandern und sich jenseits des „Prinzips Betrieb“ ungleichzeitig erlebt aufhalten. Die neuen labilen Milieus lassen sich mit Begriffen wie „Industrie 4.0“, „Smart Factory“ oder „Crowd Sourcing“ nur annähernd beschreiben.

Die Dezentralisierungstendenzen alter tradierter Wirtschaftsorganisationen erhöhen die Gefahren der Individualisierung und Atomisierung von Beschäftigung. Der „Industrie 4.0“ wird eine sich verstärkende „Entfremdung 4.0“ folgen, wenn diese zentrifugalen Vorgänge mit ihren Implosionen erlebter Vertrautheiten die soziale Tragekraft einer Zivilgesellschaft überbelasten. Der durch IT-Einsatz erzeugte Wandel der Arbeits- und Erwerbswelt ist nicht primär eine Frage in den Händen technischer Expertise sondern eine Schlüsselherausforderung unserer Gesellschaft.

Der nächste „IT-Gipfel“ sollte als Leitmotive die Begriffe „Soziale Kohäsion“, „Differenz“, „Entfremdung“, „Ungleichzeitigkeit“ und „Diversity“ aufgreifen. Dann könnte man melden: „Die zivilgesellschaftlichen Impulse bewirken einen tief greifenden Wandel der IT-Technik.“

Das „Noch-Nicht“ der Arbeit

Eugen Rosenstock-Huessy und Ernst Bloch hatten ein großes, teilweise gemeinsames Thema: Es ist das Werden der Welt, das Werden der Arbeit des Menschen und somit das Werden des Menschen, das „Noch-Nicht“. Ähnlich wie Bloch in „Prinzip Hoffnung“ tendenzkundig die Genesis als kommendes Ergebnis des gesellschaftlichen Werdens des Menschen erkennt, sieht Rosenstock-Huessy – auf den Schultern Kants – perspektivisch im „Dritten Jahrtausend“ das Heraustreten des Menschen aus der „Finsternis“. Im dritten Band der „Soziologie“ (Eugen Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit. Eine nach-goethische Soziologie. Talheimer Ausgabe) geht der Autor erneut auf sein Leitthema ein: „Die Dritte-Jahrtausend-Ordnung der Gesellschaft hat also das Rätsel der Hohen Zeit und des Alltages zu ergründen. Und zwar ist das Neue gegenüber alten Hochzeiten eine veränderte Zeitmessung. In ein einziges Menschenleben werden heute die Wechsel von drei und vier Generationen alter Zeit hineingepresst. Diese Vervielfältigung der Lagen macht jede Lage heute zu etwas anderem als früher. In jeden Lebenstunnel, in den wir einfahren, nehmen wir heute das Bewußtsein der Ausfahrt am anderen Ende, also der Kündigung, der Scheidung, des Abschieds mit.“

Die Ungleichzeitigkeiten sozialer Entwicklungen zeigen sich unter anderem in dem sich wandelnden Verständnis von „Arbeit“ und „Zeit“. Wie nimmt der Mensch die Unabgegoltenheit öffentlicher Tagträume in seinem persönlichen Alltag wahr? Welchen Gestaltungsraum kann er sich emanzipatorisch erschließen?

Nun beginnt ein mutiges Projekt verschiedner Partner, die sich im Frühjahr 2013 in der Evangelischen Akademie Bad Boll treffen wollen, um der Lösung dieser gesellschaftlichen Rätsel näher zu kommen (http://bloch-blog.de/wp-content/uploads/2012/11/Flyer-Arbeit-und-Zeit-2013.pdf). Es geht um die „Anstrengung des Begriffs“, um ein gemeinsames Nachdenken, nicht frei von dialektisch Thesenhaftem. Möge der Ort, an dem sich Rosenstock-Huessy und Bloch zu unterschiedlichen Zeiten aufhielten, den Diskurs anregen: „Ich bitte Sie zu beginnen“ (Ernst Bloch).

Ungleichzeitigkeiten im Konzept „Industrie 4.0“

Nach der Entwicklung erster Manufakturen samt Landflucht und der Maschinisierung der Industrie über die mikroelektronischen Umbauten bis hin zur Virtualisierung globaler Unternehmen hat die Wirtschaftsgeschichte vier Stufen erklommen. Heute sprechen wir von „Industrie 4.0“ und meinen damit die weitgehende Reorganisierung von Arbeit und Produktion auf globaler Ebene. An die Stelle der verorteten Fabrik tritt langsam die „smart factory“ mit dem „smart working“. An die Stelle der Standortkommune kommt die „smart city“. Die Energiewende verlangt nach den „smart grids“. Die Wortstücke sind mehr als nur die Sammlung von modischen Wichtigtuereien. Dahinter steckt der starke Wandel hin zu „Neuen Infrastrukturen der Arbeit“ (Schröter). Doch darunter verbergen sich Hoffnungen und Verunsicherungen von Menschen. Die einen sind noch in der zweiten oder dritten Stufe der Industrialisierung, andere ringen schon mit den Herausforderungen digitaler Entfremdung. Menschen, die sich gleichzeitig treffen, sind in ihrem Denken und Fühlen nicht mehr gleichzeitig. Altes schwingt mit und mischt sich ein. „Industrie 4.0“ unterbricht und trennt Tradiertes, fügt Neues interkulturell zusammen. Verlust und kulturelle Bereicherung liegen nahe beisammen. Doch wie soll es gelingen, dass in der Geschwindigkeit der Herausbildung der „Identität in der Virtualität“ niemand verloren geht? „Industrie 4.0“ ist im Kern eine soziale Veränderung. Wir müssen das Undenkbare denken: Kann gesellschaftliche und individuelle Emanzipation mit Hilfe des „smart working“ und im Einklang mit virtuellen Identitäten erfolgen oder nur gegen sie? 

Karola Bloch (1905-1994) im Jahr 1988. (Bild: © Welf Schröter)

Im Jahr 1988 sprach ich mit der Architektin und Sozialistin Karola Bloch (1905-1994) über den Wandel der Arbeit und die wachsende Technisierung. Sie antwortete damals: „Wenn die Technisierung fortschreitet, wird es immer notwendiger werden, für die Menschen Beschäftigung zu finden. Das wirkt sich auf die gesamte Industrie aus und vergrößert das Problem der Arbeitslosigkeit. Es wird mit der Zeit eine ganz andere Ökonomie kommen müssen. Wenn die Menschen eigentlich nicht mehr soviel arbeiten, aber von irgend etwas leben müssen, brauchen sie eine Bezahlung, ein notwendiges Substrat, um existieren zu können. Unsere Gesellschaft hat sich wahnsinnig verändert und wandelt sich noch. Bis jetzt hat der Einzelne einen Lohn bekommen in der Höhe, die seiner geleisteten Arbeit entsprach. Wenn nun aber die Arbeit wegfällt, muß er dennoch einen Lohn bekommen, um leben zu können. Das ist eine ganz andere Vorstellung, eine andere Ökonomie. Der Begriff der Arbeit als solcher wird sich ändern. Auch die Zukunft der Gewerkschaften wird anders sein, als man sich das heute vorstellt. (…) Ich denke dabei immer an den Menschen, an den Sinn des Lebens. Da kommen ganz andere Faktoren in die Arbeit hinein. Ich habe den Eindruck, als ob die Menschen – vielleicht unbewußt – eigentlich auch an ihrer Zerstörung arbeiten. Denn der Verlust einer Arbeitsfunktion ist doch gleichzeitig etwas Zerstörerisches. Arbeit spielt doch für die Menschen eine ganz enorme Rolle. Wir können uns ein sinnvolles Leben heute ohne Arbeit nicht vorstellen.“ (Karola Bloch: Denkende Maschinen. In: Anne Frommann, Welf Schröter (Hg.): Karola Bloch – Die Sehnsucht des Menschen, ein wirklicher Mensch zu werden“. Reden und Schriften, Band 2. 1989, Seite 96.)

Virtualisierung der Arbeit

Inzwischen ist der „Wandel der Arbeit“ ein Thema für viele Akteure in der Gesellschaft geworden. Nicht nur Gewerkschaften, Betriebs- und Personalräte diskutieren die „Virtualisierung der Arbeit“ und „Neue Infrastrukturen der Arbeit“ (Schröter) sondern auch Selbstständige, Freelancer und Kleinbetriebe.

Die Informationstechnologie bietet die Grundlagen dafür, dass Teile von Arbeitsabläufen und wachsende Ausschnitte von Arbeitsvolumina per technischer Leitung verlagert werden können. Die Digitalisierung von Vorgängen zieht eine tendenzielle Flüchtigkeit nach sich. Die Potenziale der Arbeitswelten am Netz und über das Netz lockern die Bindung an Orte und vereinbarte Räume. Mehr noch: Die beschleunigt voranschreitende Virtualisierung verwandelte den Charakter der Arbeitsinhalte und des Verständnisses von Arbeit. Arbeit beginnt sich strukturell zu enträumlichen.

Die industrielle Arbeitswelt der materiellen Produktion und der materiellen Dienstleistungen wird immer mehr von virtuellen Arbeitsumgebungen durchdrungen. Reale und virtuelle Arbeitswelten verschmelzen zu einer neuen Wirklichkeit, zu einer verspannten Räumlichkeit. Diese neue Wirklichkeit entsteht unter anderem dadurch, dass das Reale das Virtuelle und das Virtuelle das Reale konstitutiv wechselseitig bedingt. Das eine ist ohne das andere auf Dauer nicht handlungsfähig. Die Erwerbsarbeit des industriellen Typs wird schrittweise abgelöst von einer Mischung des Realen und des Virtuellen. Die Durchlässigkeit der Räume prägt die Wahrnehmung des Raumes als nicht-beständig. Zur synchronen Dreigliedrigkeit des Industriearbeitsplatzes von Ort, Zeit und Organisation tritt in der wissensbasierten asyn­chronen Arbeitsrealität die Ungleichzeitigkeit des Ortes, der Zeit und der Verfasstheit von Arbeit als dauerhafte vierte Konstante. Die Arbeitswelten der Informations- und Wissensgesellschaften fußen unter anderem auf der Ungleichzeitigkeit des Realen mit dem Virtuellen. Eine derartige Ungleichzeitigkeit verlangt eine strukturell andere Emanzipationsstrategie. Sie schließt eine Emanzipation mit Hilfe der Virtualität und vor allem in der Virtualität ein.

Die Initiative „Arbeitswelt trifft Philosophie – Philosophie trifft Arbeitswelt“ – getragen vom Forum Soziale Technikgestaltung und weiteren Partnern – führt dazu einen strukturierten Diskurs durch.