Kritik ist Aufheben

Als sich im April 2015 im Ludwigshafener Ernst-Bloch-Zentrum Freunde der Philosophie Eberhard Brauns zusammenfanden, um das fachliche Werk dieses viel zu früh verstorbenen Denkers zu würdigen, zeigten sich Brauns Ausarbeitungen zur Rezeption Hegels so aktuell wie nie. Der These vom vermeintlichen Ende der Geschichte, die allenthalben in inszenierten Talkshows wiederbelebt wird, hatte Philosoph Braun früh und stets widersprochen. So scheint es nicht überraschend, dass die offizielle scientific community ihm zu seinen Lebzeiten die Aufnahme in die Reihen der Alma Mater hatte verwehren wollen.

Irene

(Foto: © Welf Schröter)

In ihrer Rede (Vorrede Irene Scherer_Talheimer Verlag) zum Erscheinen des Buches „Eberhard Braun: Die Rose am Kreuz der Gegenwart. Ein Gang durch Hegels ,Phänomenologie des Geistes‘“ (ISBN 978-3-89376-161-6) ging die Verlegerin Irene Scherer (Talheimer Verlag) auf jene Widerstände ein, mit denen der Philosoph Eberhard Braun an der Universität Tübingen zu ringen hatte:

„Der Talheimer Verlag würdigt mit dieser Ausgabe den Philosophen Prof. Dr. Eberhard Braun, der von 1971 bis 1974 Ernst Blochs Assistent in Tübingen war und sich in dessen denkerischer Tradition bewegte und diese zugleich auch bewusst überschritt. Seine Nähe zur Philosophie Ernst Blochs musste Eberhard Braun mit Hemmnissen und Hindernissen in seiner beruflichen Laufbahn bezahlen. Philosophische Traditionen, die jenseits des Blochschen oder Hegelschen Denkens verortet waren, warfen ihm vor, er vertrete keine ,europäische Philosophie‘. Deswegen verweigerte man ihm eine Berufung auf einen Tübinger Philosophielehrstuhl.“

Irene Scherer zitierte Karola Bloch, die sich mit Eberhard Braun öffentlich solidarisierte:

„Mit großer Erbitterung erfüllen mich die Manipulationen an der Philosophischen Fakultät, wo ein ausgezeichneter Pädagoge wie der Philosoph Eberhard Braun vom zweiten auf den dritten Platz [der Berufungsliste] geschoben wird, und so der Möglichkeit beraubt wird eine Professur zu bekommen. Es wäre gut, wenn in dieser konservativen Philosophischen Fakultät ein Marxist sein Wissen den Studenten vermitteln könnte. Die Studenten haben das auch gewollt und waren mit Braun solidarisch. War es nicht Neid bei manchen Philosophen in Tübingen, weil sie wußten, daß zu Braun in die Vorlesung 100 und noch mehr Hörer kamen, während sie vielleicht nur ein Dutzend hatten? Es ist bestimmt ein Verlust für die Studierenden, wenn sie nicht von einem konsequenten politische bewußten Menschen den aufrechten Gang lernen können statt konformistischen Sing-Sang.“ (Karola Bloch – Die Sehnsucht des Menschen, ein wirklicher Mensch zu werden. Reden und Schriften aus ihrer Tübinger Zeit. Bd. 1, ISBN 978-3-89376-003-9)

Unter Verweis auf allzu leichtgewichtige und durchsichtige Verabschiedungen kritischer Philosophien aus dem öffentlichen Diskurs unterstrich die Verlegerin die Bedeutung der philosophischen Erbschaften und deren Präsenz. Sie ließ Braun diesbezüglich zu Wort kommen:

„Philosophien, gerade die aus der Vergangenheit vorliegenden, sind nicht einfach wahr oder falsch in dem Sinn, dass wir sie entweder insgesamt akzeptieren oder ver­wer­fen. Es kommt vielmehr darauf an, das in der Hülle einer vergangenen Gesamtkonzeption Angelegte aufzunehmen, zu verändern, fortzubilden. Dieses Verfahren hat Marx Kritik genannt. Kritik ist Auf­heben, ein Tun, das zugleich negiert und bewahrt und hierin die Erkenntnis auf eine neue Stufe hebt.“

 

„Hoffnung der Befreiung“

(Foto: © Welf Schröter)

(Foto: © Welf Schröter)

Es war die Fernsehdokumentation von Eric Friedler über Elisabeth Käsemann am 5. Juni 2014 in der ARD, die Erinnerungen an jene aufgewühlten Tage im Mai und Juni des Jahres 1977 in Erinnerung brachten. Die Nachricht vom brutalen Tod der Tübinger Schülerin und Berliner Studentin hatte damals in der Tübinger Studentenschaft wahre Schockwirkungen ausgelöst.

Eines Morgens hatten Studierende aus Respekt vor der Lebensleistung der Soziologin und  Politikwissenschaftlerin, die ein engagiertes Christentum lebte, das Gebäude der Evangelischen Fakultät der Universität Tübingen in „Elisabeth-Käsemann-Institut“ umbenannt. Für viele ihrer Kommilitonen und Freunde schien ihr politisches Leben mit ihrem Wechsel nach Lateinamerika zu beginnen.

Doch Elisabeth Käsemanns Weg war nicht eindimensional, nicht doktrinär, nicht ideologisch. Gemeinsam mit Rudi Dutschke, der sein – rebellisches – Christentum nie verleugnete, reiste Elisabeth Käsemann im Frühjahr 1968 nach Prag. Sie wollten die neue Luft des „Prager Frühlings“ schmecken. Beide sympathisierten mit dem Aufbruch zur Freiheit auf dem Wenzelsplatz. Nach den Schüssen auf Rudi Dutschke in Berlin und dem Einmarsch der Panzer in Prag ging Elisabeth Käsemann im September 1968 nach Lateinamerika. Auch Rudi Dutschke hatte einen Wechsel dorthin ins Auge gefasst. Aber das Attentat änderte alles.

Den Tod ihrer Tochter zeigten die Eltern Elisabeth Käsemanns im Juni 1977 mit einer Traueranzeige an: „Wir haben heute unsere Tochter Elisabeth auf dem Lustnauer Friedhof bestattet. Am 11. Mai 1947 geboren, am 24. Mai 1977 von Organen der Militärdiktatur in Buenos Aires ermordet, gab sie ihr Leben für Freiheit und mehr Gerechtigkeit in einem von ihr geliebten Lande. Ungebrochen im Wollen mit ihr einig, tragen wir unsern Schmerz aus der Kraft Christi und vergessen nicht durch sie empfangene Güte und Freude.“ (zitiert nach der Ausstellung „Ein Leben in Solidarität mit Lateinamerkia – Elisabeth Käsemann“, Mai 2007)

Die Ermordung Elisabeth Käsemanns hat neben Protest und Entrüstung auch einen Wärmestrom der Anteilnahme ausgelöst. Jürgen Moltmann und Karola Bloch sahen sich auf der Seite von Ernst Käsemann und dessen Familie. „Eure Elisabeth hat ihre Liebe und ihre Hoffnung der Befreiung eines erniedrigten Volkes gewidmet, damit der Raum weit werde für den Armen und die Bedrängnis ein Ende finde! Auf diesem Weg zur Freiheit der anderen ist sie den Bedrängern des Volkes zum Opfer gefallen. Sie ist in die Gemeinschaft der ungezählten, der namenlosen Opfer von Gewalttaten eingegangen.“ (Jürgen Moltmann)

Ernst Käsemann, der Bultmann-Schüler, widerstand mit seinem christlichen Glauben dem Nationalsozialismus. Er stand in der Tradition der „Bekennenden Kirche“. Er versuchte, seiner Tochter Kraft zu geben. „Gut, dass es solche Menschen gibt, mit wirklich aufrechtem Gang.“ (Karola Bloch)

We shall overcome

Ein Denkender (Foto: © Welf Schröter)

Lange bevor die Rolling Stones mit ihren Songs „Streetfighting Man“ und „Sympathy for the Devil“ die braven Tanzschulen durcheinander brachten, lange bevor John Lennon mit den Beatles „Revolution“ sang, lange bevor The Cream, Jerry Garcia und die „Greatful Dead“, Miriam Makeba, Janis Joplin, Jimi Hendrix, MC5, Frank Zappa und die „Mothers of Invention“, Bruce Springsteen, John Lee Hooker, Bob Dylan („Blowin’ in the Wind“) mit ihren politisch-lyrisch-musikalischen Botschaften ihre Zuhörer inspirierten und aufrüttelten, war jener Sänger mit Leidenschaft und politischer Parteilichkeit sowie seinen selbst geschriebenen bzw. bearbeiteten Songs solidarisch bei jenen, die seine Stimme brauchten: Pete Seeger, brillanter Musiker, aufrührerischer Songwriter, Gewerkschafter und Menschenfreund sang für Benachteiligte, an den Rand der Gesellschaft Gedrängte, streikende Arbeiter, rebellierende Schwarze, Umweltschützer, Kriegsgegner, Pazifisten. Seine Waffen waren sein Banjo, seine Stimme, sein Verstand und sein Herz.

Sein künstlerischer Kommunismus kam Ernst Blochs „Aufrechtem Gang“ sehr nahe. Sein „Noch-Nicht“-Song – auf der Basis eines alten Gospelstücks – „We shall overcome“ wurde in seiner Version und der Neuaufnahme durch die Sängerin Joan Baez zum Leitmotiv der Jugendrevolte der sechziger und siebziger Jahre gegen den Vietnamkrieg, gegen Rassismus und Unterdrückung. Ähnlich wie Ernst Bloch wurde Pete Seeger vor den McCarthy-Ausschuss gegen unamerikanische Umtriebe zitiert. Ein langes Radio- und Medienverbot und ein Urteil über zehn Jahre Gefängnis machten ihn bei den späteren Berkeley-Rebellen erst richtig populär. Für ihn galt ein Motto, nach dem Karola Bloch, – die zeitweise ebenso wie Pete Seeger in der amerikanischen KP war –, ihr Leben ausrichtete: „Ich gehe zu jenen, die mich brauchen, nicht zu denen, die ich brauche.“

Einer von Pete Seegers bekanntesten Protestsongs „Where have all the Flowers gone“ wurde für viele junge Männer Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre in Europa zu einem markanten Aufruf, sich pazifistisch dem Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern. Seine nüchterne unprätentiöse Stimme, sein bescheidenes Auftreten, seine Klarheit der Aussage waren für junge Ohren im Lande des Heintje- und Roy-Black- und Egerländer-Kitsches eine Initialzündung, die konsequent hinüberleitete zu den bitteren bluesnahen Antikriegsstücken von Jimi Hendrix wie „The Star Spangled Banner“ und „Machine Gun“.

Pete Seeger ist am 27. Januar 2014 im Alter von 94 Jahren gestorben. Er wollte mit seinem Leben der Gerechtigkeit mehr Einfluss verschaffen. Er forderte von seinen Zuhörenden vor allem eines: Mut zur Einmischung, denn „This Land is your land“ (Pete Seeger). Dieser Imperativ ist mit seinem Tod nicht erloschen.