Zu den großen Verdiensten von Michail Gorbatschows (geboren am 2. März 1931, gestorben am 30. August 2022) gehörte zweifellos seine politische Zurückhaltung im Herbst 1989, als in Leipzig und in zahlreichen anderen Städten der DDR Zehntausende auf die Straße gingen, um die SED-Diktatur zu beenden und Schritte in Richtung Demokratisierung zu gehen. Gorbatschow verhinderte, dass russische Panzer die Demonstranten niederwalzten. Er wollte 1989 kein neues Berlin 1953, kein Budapest 1956, kein Prag 1968 und keinen Militärputsch wie am 13. Dezember 1981 in Warschau. Doch im Januar 1991 galt diese Sicht nicht mehr. Russische Panzer gingen gegen Demonstrierende in Vilnius vor, um einer Autonomieerklärung der litauischen Gesellschaft zuvorzukommen.
Karola Bloch setzte politische Hoffnungen auf Gorbatschow. Ihre scharfe Kritik an der Politik der KPdSU und der Sowjetunion war allen bekannt, die sie hören wollten. Sie kritisierte die SED-Führung nach den blutigen Ereignissen am 17. Juni 1953 in Berlin. Ihr Herz schlug 1956 für die streikenden polnischen Arbeiter und für die Aufständischen in Budapest. Sie stand auf der Seite des „Prager Frühlings“ 1968 und der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność 1980. Sie protestierte am 13. Dezember 1981 gegen Jaruzelskis Militärputsch in Polen. Ihr Herz schlug für das „Neue Forum“ 1989 in Leipzig.
Gorbatschows Ankündigungen von Glasnost und Perestroika erweckte auch in ihr große Hoffnungen. Gemeinsam mit dem Schriftsteller Erich Fried schrieb sie im Mai 1988 einen Brief an die Redaktion der Zeitung Isvestija in Moskau. Darin hieß es unter anderem:
„Mehr als drei Jahrzehnte haben wir die Sowjetunion aus der Ferne betrachtet. Das Chruschtschow-Interregnum weckte 1956 unsere Hoffnungen, aber nicht für lange Zeit. Heute steht die Sowjetunion wieder an einem Kreuzweg. Wir haben das, was sich neuerdings dramatisch entfaltet, mit großem Interesse und mit großer Sympathie gesehen. Mehr als je seit den Zwanzigerjahren hat ein Mensch, der in der Sowjetunion an leitender Stelle steht, sowohl Massenunterstützung in seinem eigenen Land gewonnen als auch das Vorstellungsvermögen der übrigen Welt erregt. …“
(Karola Bloch: An die Isvestija. In: Anne Frommann, Welf Schröter (Hg.): Karola Bloch – Die Sehnsucht des Menschen, ein wirklicher Mensch zu werden. Reden und Schriften, Band 1, Mössingen 1989, S. 156)
Am 21. August 1991 – auf den Tag genau dreiundzwanzig Jahre nach dem Einmarsch der Panzer in Prag 1968 – ergriff Karola Bloch auf einer Kundgebung in Tübingen für Michail Gorbatschow das Wort. Sie wandte sich gegen den Staatsstreich des russischen Militärs, mit dem die Perestroika beendet werden sollte. Sie sagte damals unter anderem:
„Mit Trauer und Entsetzen habe ich vom gewaltsamen Sturz Michail Gorbatschows erfahren. Wieder einmal versucht eine Kaste alter Männer aus Armee und Geheimdienst ein gesellschaftliches Experiment mit Panzern niederzuwalzen. Die Bilder von Berlin, Budapest, Prag und Peking sehe ich vor Augen. Der Militärputsch von Moskau widerspricht nicht nur der sowjetischen Verfassung, er ist ein Verbrechen am russischen Volk, an den Völkern der Sowjetunion. Ein Ende der dortigen Reformpolitik wäre eine geschichtliche Tragödie für die ganze Welt. Mein Herz und meine Sympathien sind mit Michail Gorbatschow. …“
(Karola Bloch: Gegen den Staatsstreich. In: Anne Frommann, Welf Schröter (Hg.): „Ich gehe zu jenen, die mich brauchen“. Zum 85. Geburtstag Karola Blochs. Mössingen 1991, S. 189f.)
Einunddreißig Jahre nach dem Staatsstreich gegen Gorbatschow könnte mit dem Putinschen Einmarsch russischer Panzer in die Ukraine ein weiteres Element jener „geschichtlichen Tragödie“ Wirklichkeit geworden sein, vor dem Karola Bloch gewarnt hatte.