Rosas „Resonanz“ ohne Blochs „Heimat“

Foto: © Welf Schröter

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Die neue Ausarbeitung des Soziologen Hartmut Rosa mit dem Titel „Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehung“ (2016) hat große Erwartungen erzeugt. Ausgehend von seinem hervorragenden Band „Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung“ (2012) war zu glauben, dass er seine Analyse der Zusammenhänge von Beschleunigung und Demokratie, von Zeitwahrnehmung und Selbstwahrnehmung vertiefen und erweitern würde. Doch im Kern hat er sich von seiner früheren Perspektive schrittweise entfernt und sich einer affirmierenden Positionierung genähert. (Siehe dazu „Schwierigkeiten beim Lesen von Hartmut Rosas ,Resonanz‘“.)

Rosa legt eine hochinteressante Darlegung der beiden neu definierten Kategorien „Resonanz“ und „Entfremdung“ vor. Nachteilig wirkt sich aus, dass er die Entstehung seiner Theorie früheren Denkern wir Marx, Adorno, Habermas und Bloch geradezu buchstäblich in den Mund legt, als ob diese die wissenschaftliche Tür für Hartmut Rosa geöffnet hätten.

In einem grundlegenden Missverständnis des Bloch‘schen Werkes schreibt Rosa etwa (740): „Kinder sind Resonanzwesen, so hat es sich gezeigt; nicht zuletzt deshalb konnte Bloch postulieren, die (resonante) Heimat, in der noch keiner gewesen sei, scheine uns aus der Kindheit her.“

Rosa nennt zwar das dreibändige Werk von Ernst Bloch „Das Prinzip Hoffnung“ als Referenzliteratur, hat es offensichtlich aber nicht ausreichend rezipiert. Auf 815 Seiten kommt er lediglich zwei Mal auf Blochs „Heimat“-Begriff zu sprechen. Jedoch verwendet er lediglich das auf der Buchrückseite des dritten Bandes zitierte Schlusszitat. Die für die „Resonanz“-Diskussion notwendige Aufhebung des Bloch’schen Begriffes der „Ungleichzeitigkeit“ unterlässt er völlig (604). In der produktiven Spannung von „Resonanz“ und „Ungleichzeitigkeit“ läge aber eine der Schlüssel-Thesen und Anti-Thesen einer zukunftsweisenden systematischen Theorie moderner Gesellschaftlichkeit.

Auch die hegelianische Subjekt-Objekt-Beschreibung mit ihren emanzipatorischen Kritiken durch Marx und Bloch erscheint für Rosa als materialistisch zu wendende Dialektik wenig bedeutsam. Er spricht von seiner eigenen These, in der „Subjekt und Welt einander antworten“(482, 65). Rosa erinnert an die Marx’sche Verdinglichungsanalyse (544, 579), zieht sich aber von der Möglichkeit eines oder mehrerer gesellschaftlicher Subjekte zurück.

„Resonanz ist das Andere der Entfremdung“ (306). Dieser Kernaussage Rosa schiebt der Autor eine Definition von Entfremdung nach, die sich materiell-ökonomischen Konnexen kaum zu öffnen wagt: „Entfremdung bezeichnet damit eine Form der Welterfahrung, in der das Subjekt den eigenen Körper, die eigenen Gefühle, die dingliche und natürliche Umwelt oder aber die sozialen Interaktionskontexte als äußerlich, unverbunden und nichtresponsiv beziehungsweise als stumm erfährt“ (306).

Jenseits von Blochs „belehrter Hoffnung“ („docta spes“) verwandelt Rosa Hoffnung in individuelle Zuversicht: „Resonanz entsteht also niemals dort, wo alles ,reine Harmonie‘ ist, und auch nicht aus der Abwesenheit von Entfremdung, sondern sie ist vielmehr gerade umgekehrt das Aufblitzen von Hoffnung auf Anverwandlung und Antwort in einer schweigenden Welt“ (321).

Gegen die „belehrte Hoffnung“ Blochs erscheint Rosas Hypothese wagemutig, dass „die Resonanzkraft der Geschichte erlischt, dass die geschichtlichen Ereignisse uns nichts mehr zu sagen haben“ (511).

 

Wenn das Ich mit sich nicht mehr im Einklang steht – Ein thesenhaftes Gedankenlabyrinth

Konvergenz der Ichs oder antipodischer Janus. (Foto: © Welf Schröter)

Konvergenz der Ichs oder antipodischer Janus. (Foto: © Welf Schröter)

Mit zunehmender Geschwindigkeit verändert der neue Typ von Digitalisierung ganzheitlicher Geschäfts- und Arbeitsprozesse über Betriebsgrenzen hinweg unser Verständnis von Arbeit und unser Befinden in der digitalen Transformation der Gesellschaft. ,Arbeit 4.0‘ wirft ihre Schatten voraus.

In der Arbeitswelt stehen sich hinter dem Rücken des Schaffenden das ,biografische Ich‘ und das ,virtuelle Ich‘ in einer widersprüchlichen Dualität gegenüber. Beide zusammen markieren die Eckpunkte der Identitätsarbeit des zu emanzipierenden Subjekts.Das menschliche Subjekt gerät dabei unter Echtzeitbedingungen in das Spannungsgefüge von Realität und Virtualität, von fiktiver Realität und realer Virtualität. Trägt dies zu einem Mehr an gesellschaftlicher und individueller Emanzipation bei oder erwächst daraus ein bislang unbekanntes Hemmnis, das sich dem Wert ,Selbstbestimmung‘ strukturell entgegenstellt?

Es ist nach jetziger Vorabschätzung davon auszugehen, dass die individuelle ,Identitätsarbeit‘ der nahen Zukunft dauerhaft durch die Spannung zwischen ,biografischem Ich‘ und ,virtuellem Ich‘ konfiguriert wird. Identität wird fragmentiert aus beiden Teilen bestehen. Daraus ist zu folgern, dass die Herausbildung einer ganzheitlichen Identität – als Verknüpfung der alltagsweltlichen realen Lebenslage mit der an Bedeutung gewinnenden ,virtuellen Lebenslage‘ – zu einem Schlüsselthema der kommenden wirtschaftlichen und sozialen Modernisierungsprozesse werden wird und werden muss.

Diese operative Ungleichzeitigkeit des prozessualen Arbeitens fordert vom Subjekt, vom Individuum, die Ungleichzeitigkeiten des kulturellen Erfahrens und Bewusstwerdens nicht nur als ein vorübergehendes Phänomen anzusehen, sondern in diesem Phänomen eine auf Dauer angelegte Identität/Nicht-Identität zu erkennen.

Es ist zu wiederholen: Das ,biografische Ich‘ verhält sich zu seinem ,virtuellen Ich‘ ungleichzeitig.

Die ganzheitliche Identität eines arbeitenden, schöpferisch tätigen Menschen wird zunehmend von dem Hybrid aus ,biografischem Ich‘ und ,virtuellen Ich‘ gebildet. Der Begriff der ,Identität‘ wird in den kommenden Jahren zu einem Schlüsselbegriff der Aufhebung von Entfremdung, der Humanisierung der Arbeit und zivilgesellschaftlichen Emanzipation werden. Das Themenfeld ,Identität in der Virtualität‘ wird zur gesellschaftlich-öffentlichen Gestaltungsaufgabe. Das ,Ich‘ sucht ,Heimat‘.

„Nicht alle sind im selben Jetzt da, sie sind es nur äußerlich dadurch, daß sie heute zu sehen sind, dadurch aber leben sie nicht mit den anderen zugleich. Sie tragen vielmehr Früheres mit, das mischt sich ein. Je nachdem wo einer leiblich, vor allem klassenhaft steht, hat er seine Zeiten. Ältere Zeiten als die heutigen wirken in älteren Schichten nach. Leicht geht oder träumt es sich in ältere zurück“ [Ernst Bloch].

 

„Verhinderte, im Jetzt enthaltene Zukunft?“ (Bloch)

(Foto: © Welf Schröter)

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Die wachsenden Abstraktionen, Virtualisierungen, Komplexitäten, Beschleunigungen und neue Verzeitlichungen fordern Antworten für die Neuverortung des Menschen in einer sowohl evolutionär als auch revolutionär anmutenden globalisierten Vernetzung von Menschen, Dingen, Maschinen und Produkten heraus. Virtuelle und nicht-virtuelle Wirklichkeiten in den Geschäfts- und Arbeitsumgebungen greifen ineinander und erzeugen eine ganzheitlich wahrnehmbare Mischform der Arbeitswelt.Eines der zentralen wachsenden Zukunftsthemen für die Erwerbswelt ist das Entstehen, Sichern und Pflegen von Identität, von Identitätsstiftung aus virtuell-flüchtigen Arbeitsumgebungen. Darin liegt eine wesentliche gesellschaftspolitische Gestaltungsaufgabe. Für eine ökologische, soziale und gesellschaftliche Gestaltung dieses Veränderungsbündels bedarf es einer Erweiterung der bisher zur Verfügung stehenden Handlungskategorien. Eine neue Kategorie ist in der besonderen Hervorhebung einer ganzheitlich verstandenen Sicht der Identität des Individuums in die Perspektive und Praxis von „Industrie 4.0“ zu erkennen. Eine solche positive Aufhebung von Identität ist unabdingbar, um die Entfremdungsdynamiken in der Arbeit und von der Arbeit zu begrenzen und zu bändigen.

Was passiert mit dem menschlichen Subjekt im Spannungsgefüge von Realität und Virtualität, zwischen fiktiver Realität und realer Virtualität? Erleichtert dieses Spannungsgefüge die gesellschaftliche und individuelle Emanzipation oder stellt es ein wachsendes Hemmnis dar? Der Wandel der materiell schöpferischen Arbeit hin zu einer vermehrt immateriell schöpferischen Tätigkeit führt zur Erhöhung der Abstraktion und der Komplexität des Arbeitens. Virtuelle Arbeit erfährt ihren Wert und bringt als Ergebnis der Quantität von Kommunikationsarbeit und Vernetztheit „virtuelle Identität“ hervor. Das „biografische Ich“ verhält sich dabei zu seinem „virtuellen Ich“ ungleichzeitig.

Der Biokybernetiker Valentin Braitenberg (1926-2011) sah in der Erfindung des Computers die sachlich-analytische Antwort und Kritik an der nationalsozialistischen Vergewaltigung der Sprache und der Germanistik. Die Computerei war für Braitenberg, dem Maturana-Schüler, ein aufklärerisch-antitotalitärer und basisdemokratischer Handlungsansatz. Im Gespräch betonte er, dass die Menschen sich mit Hilfe der Rechner von ideologischen Verbrämungen selbst befreien könnten.

„Wenn Du die Welt verändern willst, gib den Menschen die passenden Werkzeuge in die Hand!“ (Sinngemäß zitiert aus den studentischen Forderungen des gesellschaftskritischen „Free Speech Movement“ in Berkeley, California im Jahr 1968). So lautete der Reflex der Protestbewegung der sechziger Jahre. Teile dieser Bewegung entwickelten deshalb die ersten Personal Computer und die passende Netz-Software.

Spiegelt sich mehr als vierzig Jahre danach Unangegoltenes und Uneingelöstes? Ist dies – heute betrachtet – in den Worten Blochs eine „verhinderte, im Jetzt enthaltene Zukunft“?

„Das letzte Wort im Hauptwerk ,Das Prinzip Hoffnung‘ heißt ,Heimat‘. Der Philosoph hofft, daß einmal der Tag kommt, an dem der Mensch seine Identität, seine Heimat finden wird.“ (Karola Bloch)

Entbirgt die Spannung zwischen „biografischem Ich“ und „virtuellem Ich“ ein neues Humanum? Eine endlich humane „Ich“-Identität in Richtung auf die – im Sinne Blochs – vor uns liegende Genesis?

 

Dialektik der Ungleichzeitigkeit

Altes Industriegesellschaftliches vermischt sich mit neuem „Informationsgesellschaftlichem“. Der Druck am Arbeitsplatz wächst nun drastisch an. Der Inhalt der Worte Markt, Wettbewerb, Globalisierung nimmt den Atem. Der Druck spitzt sich weiter zu und unterwirft Arbeit und Leben dem Diktat der Ökonomisierung der Zeit. Die Versuche, auf dieses Diktat der Ökonomisierung der Zeit zu reagieren, einander wieder etwas Luft zu verschaffen, auf die Herausforderungen zu antworten, vollziehen sich selbst immer mehr unter den Spielregeln und mit den Schlagworten der Ökonomisierung der Zeit.

(Foto: © Welf Schröter)

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Diese erinnern daran, dass zwischen den Schichtungen unseres Bewusstseins, zwischen den Teppichen der erlebten Zeit alte Tagträume lagern, die noch nicht erfüllt, nicht eingelöst sind. Zu dem Wunsch nach dem Wiederentdecken des menschlichen „Arbeitsvermögens“  gesellten sich qualitative Fragen nach dem Unabgegoltenen früherer Auseinandersetzungen. Wo sind die enttäuschten Hoffnungen früherer Jahre? Wo sind die alten und älteren Tagträume des öffentlichen Raumes abgeblieben? Unter welchen Bewusstseinschichtungen und unter welchen Erfahrungsteppichen liegen sind verborgen, nicht verloren, aber noch nicht wieder gefunden? Wie lassen sich diese alten Schätze finden und heben?

Diese Schätze stehen nicht in den Bibliotheken, in den Datenbanken, in den Social Medias. Sie sind aufbewahrt in den Gedächtnissen der handelnden Menschen, in den Gedächtnissen gesellschaftlich-öffentlicher Diskussionen, in den Gedächtnissen von öffentlichen Tagträumen, der erfüllten und nicht-erfüllten, der enttäuschten und unabgegoltenen. Sie sind – blochianisch ausgedrückt – als Ungleichzeitige mit uns gleichzeitig vorhanden, aber für uns nicht immer erkannt. Sie sind latent da. Mit dem Begriff „Ungleichzeitigkeit“ lassen sich wie Teppiche überlagerte Bewusstseinsschichten Schritt für Schritt, bildlich gesprochen Teppich für Teppich, wieder zugänglich und auffindbar machen.

Bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts gab es eine relativ einheitliche Arbeitswelt und eine relativ einheitliche Vorstellung davon, was Arbeit ist und wie man sie regelt. Diese relative Einheitlichkeit ergab für die Menschen die Chance der persönlichen Lebensplanung. Der eingetretene Entmischungsprozess wird durch den Einsatz neuer Technologien, durch Informations- und Kommunikationstechnik enorm beschleunigt.

Der Entmischungsprozess bedeutet in der Umkehrung, dass die alte Einheitlichkeit nicht wieder rückholbar ist. Es gilt zu überlegen, wie eine neue gemeinsame Grundlage unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens, unseres solidarischen Miteinanders aussehen kann. Die Erbschaft des alten Solidaritätsgedankens verfügt über viele Schichtungen, über Unerfülltes, Uneingelöstes, Unabgegoltenes. Die ungleichzeitigen Schätze der Solidarität liegen noch zwischen den besagten Teppichen. Es sind Splitter aus Ethik, Moral, Erfahrungen, Enttäuschungen, die wir benötigen, um ein neues Leitbild einer solidarischen Gesellschaft hervorzubringen.

Ein solches neues solidarisches Bild einer Gesellschaft wird nicht mehr allein über den Begriff Arbeit definiert und bestimmt werden. Dies ergibt sich aus dem Erosions- und Entmischungsprozess der Arbeitswelt selbst. Arbeitsvermögen, Tätigkeiten, „tätige Muße“ (Bloch), kreatives Arbeiten, gesellschaftliches Mindesteinkommen, Teilhabe an der Gesellschaft werden neu miteinander verknüpft werden müssen.

Mit neuen Fragen können wir in neuer Weise auf die Erfahrungs- und Bewusstseinsschichtungen, auf und unter die Teppiche blicken. Wir finden dadurch Neues, indem wir neu fragen. Die Antworten auf unsere neuen Fragen können wir zum Teil aus unserem ungleichzeitigen gesellschaftlich-geschichtlichen Gedächtnis gewinnen. Denken wir an das Thema Zeit, dass sich durch die Jahrhunderte und Jahrtausende menschlich erlebter Geschichte zieht. Es gab schon gute Antworten, aber sie sind verschüttet. Es gilt, sich zu erinnern.

Für Ernst Bloch lag die Genesis in der Zukunft. Heimat entsteht für ihn in der Zukunft als Ergebnis gesellschaftlichen Handelns.

 

Vollzahl der Zeiten

(Foto: Welf Schröter)

Lange vor der Herrschaft der Inkas in Lateinamerika entfaltete sich im Gebiet des heutigen Peru die indianische Hochkultur der Chachapoya. Ihr Totenkult zeichnete sich dadurch aus, dass sie den Schädel ihrer verstorbenen Angehörigen im eigenen komplex in Felswände erbauten steinernen Wohnhaus begruben. Sie waren davon überzeugt, dass die Toten somit weiterhin unter den Lebenden verblieben. Vergangene Zeit sollte gleichzeitig sein und gegenwärtig bleiben.

Der vom Protestantismus geleitete Denker, Kenner vorchristlicher Kulturen und Hitlergegner Eugen Rosenstock-Huessy sah die kommende Gleichzeitigkeit vergangener Menschenzeiten in der Zukunft des diesseitigen und jenseitigen Humanum. Die religiöse Erfüllung des Menschentraumes identifizierte er in einem neuen Zusammenleben, in der Anerkennung des „Du“ des Anderen als Anerkennung des eigenen „Ich“, und in der Hoffnung auf Heimat im christlichen Erlösungsprozess. Wenn die gelebten Leben von Vergangenheit und Gegenwart in der Zukunft zur „Vollzahl der Zeiten“ gelangen, wird Ungleichzeitigkeit gleichzeitig.

„Der Zeiten sind mehrere. Jeder zeitlichen Menschenart kommen ihre Bahnen, Räume, Alter zu. Je vollzähliger wir sie anerkennen, desto weiter greift der Frieden. Friedfertig werden wir, stille in unserem Land und voll der Klänge unserer Stunde, wenn wir das Erbe bewähren, das wir empfangen haben: die Vollzahl der Zeiten.“ So schrieb Rosenstock-Huessy in seinem Hauptwerk „Im Kreuz der Wirklichkeit – Eine nach-goethische Soziologie“ in Band drei mit dem Titel „Die Vollzahl der Zeiten“. „Der vollständige Mensch“ komme „sicher nicht aus den vereinzelten Zeiten, sondern nur aus ihrer Vollzahl.“

Ernst Bloch, der Denker des „Noch-Nicht“ und der Antizipation konkret-utopischer – nicht utopistischer – „Heimat“, war in seinem ersten Hauptwerk „Geist der Utopie“, das 1918 erschien, von tiefer christlicher Religiosität und beginnendem marxistischen Rebellentum geprägt. Er schrieb: „Alles könnte vergehen, aber das Haus der Menschheit muss vollzählig erhalten bleiben und erleuchtet stehen, damit dereinst, wenn draußen der Untergang rast, Gott darin wohnen und uns helfen kann – und solches führt aus der Seelenwanderung heraus auf den Sinn der echten sozialen, historischen und kulturellen Ideologie.“

Fünf Jahre später veröffentlichte Bloch eine überarbeitete Fassung von „Geist der Utopie“. In der Version von 1923 greift er die Idee der „Vollzahl“ erneut auf: „Und vor allem eben, über der uns immer wieder repetierbaren, sinnhafter umspielbaren Geschichte, läßt die Seelenwanderung zugleich alle Subjekte am Ende der Geschichte präsent, bewährt präsent sein, garantiert sie den Begriff der ,Menschheit‘ in seiner dereinst höchst konkret vollzähligen, absoluten Entität.“

Im Begriff der „Vollzahl der Zeiten“ suchten Rosenstock-Huessy wie auch Bloch nach der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Für Bloch liegt dort die „Heimat“. In der Zukunft. Als kommende Genesis.

Beide Denker begannen ihre Werke als Reaktion auf die Schrecken des Ersten Weltkrieges, der vor einhundert Jahren seinen Anfang nahm.

 

Eugen Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit. Eine nach-goethische Soziologie. Talheimer Ausgabe. Band 1: Übermacht der Räume; Band 2: Vollzahl der Zeiten 1; Band 3: Vollzahl der Zeiten 2. Verbesserte, vollständige und korrigierte Neuausgabe mit Namen- und Sachregister. Herausgegeben von Michael Gormann-Thelen, Ruth Mautner, Lise van der Molen. Mit einem Vorwort von Irene Scherer und einem Nachwort von Michael Gormann-Thelen. 2008/2009, 1.964 Seiten, Ausgabe in drei Bänden.

Farben der Veränderung

Margarete Hecklinger (Foto: © Welf Schröter)

Margarete Hecklinger (Foto: © Welf Schröter)

Es ist die expressive Kraft ihrer Farben und die Bewegung ihrer Pinselführung, die den Betrachter in den Bann zieht. Es mischt sich eine phasenweise Beerbung des aufrührerischen Expressionismus mit der späten Sehnsucht nach Heimat und der Einlösung von deren Unabgegoltenheit. Ihre Aufmerksamkeit gilt Mensch, Natur und Tier.

Die 1936 geborene Künstlerin Margarete Hecklinger zieht in ihren zum Teil explosiven Werken verschiedene Zeiten, alte Zeiten und gegenwärtige zusammen. Sie kontrastiert und verknüpft Europäisches und Indisches. Sie zeigt Verwandtes und holt Vergangenes zurück, bewahrt es in ihren Bildern.

Die Schülerin von Rudolf Yelin und Erich Mönch ringt mit der Natur und dem Umgang des Menschen mit der Natur. Es ist ein Tanz der Farben und zugleich der Blick in die Geschichtsbeladenheit von Gesichtern.

Im Jahr 1969 ging sie erstmals zu einem Aufenthalt nach Indien. Sie zeichnete, porträtierte, skizzierte, strich mit wenigen Linien die Hoffnungen der Einwohner zu Papier wie auch ihre Enttäuschungen. Nicht verklärend esoterisch sondern auffindend suchend neugierig.

Die in Stuttgart, Reutlingen und Indien lebende Margarete Hecklinger eröffnete am 1. November ihre Ausstellung in Stuttgart. Ein wiederkehrendes Motiv bildet die Bewegung des Menschen, die Figur des tanzenden Menschen, der damit mit anderen in Kommunikation tritt, sich ausdrückt und zugleich die Kraft des Beharrenden abstreift.

Der Gang durch die Ausstellung zeigt zahlreiche farbenstrahlende Werkschöpfungen einer 77-jährigen. Bei längerer Betrachtung aber dringt aus den Bildern der jung gebliebene und nicht altern wollende Traum des Humanum, europäisch wie indisch.

Vor 25 Jahren: „Major Tellheim“ besucht sein „Hauptquartier“

Das Grab Jürgen Tellers auf dem Leipziger Südfriedhof. Foto: © Welf Schröter

Nach Jahren der Erniedrigung, Unterdrückung und Verfolgung durch die StaSi konnte der Philosoph Jürgen Teller 1988 zum ersten Mal die DDR für einen Besuch verlassen. Er überschritt das Rentenalter und Freunde verhalfen ihm zur Mitgliedschaft im Schriftstellerverband. Die Tür durch die Mauer öffnete sich.

Unter dem Decknamen „Major Tellheim“ hatte er jahrelang seinem Doktorvater und späteren Freund Ernst Bloch – selbstgewählter Deckname „Marcion“ – in zahlreichen Briefen literarisch verschlüsselt geschrieben. Jürgen Teller war und blieb Bloch-Schüler. Für ihn war der Ort, wo sich Ernst und Karola Bloch aufhielten, das „Hauptquartier“ der gemeinsamen Sache, der Umwälzung und Demokratisierung der Gesellschaft.

In Tübingen traf er „Polonia“ – alias Karola Bloch –, die er von seiner „Minna von Barnhelm“ – alias Johanna Teller, der Galeristin und Bauhausanhängerin – grüßte. Doch wirklich angekommen war er erst, als er am Grab seines philosophischen Lehrmeisters stand. Da sprach er davon, dass noch so viel unabgegolten war, noch so viel zu leisten sei. Die „Heimat“ sei noch nicht erreicht.

In dem Band „Briefe durch die Mauer“ wird der innige und rebellische Dialog zwischen der Opposition Ost in Leipzig und der Opposition West in Tübingen lebendig. Jürgen Teller ging aus der deutsch-deutschen Wende nicht als „Gewinner“ hervor. Sein undogmatisch-philosophisches Denken um Marx, Giordano Bruno, Goethe und vor allem Bloch war an der Leipziger Universität vor dem Mauerfall so unbeliebt wie danach. Wenn auch nach 1989 aus anderen Gründen.

Es ist an der Zeit, an Jürgen Teller zu erinnern. Am 12. September 2013 wäre er 87 Jahre alt geworden. Er starb am 10. Juni 1999.

 

Heimat statt Heimat

Avishai Margalit (Foto: © Welf Schröter)

Eine Gesellschaft, in der keine Erniedrigung geduldet wird und die zwischen ihren Bürgerinnen und Bürgern einen anständigen Umgang sichert, nennt der israelische philosophierende Denker eine „decent society“. Die Eckpunkte derselben trug der 1939 geborene Avishai Margalit in Beispielen in seiner Dankesrede beim Empfang des „Ernst-Bloch-Preises 2012“ im Ernst-Bloch-Zentrum vor. Das Mitglied der israelischen Peace Now-Bewegung und der Israel Academy for Science and Humanities wurde von der Stadt Ludwigshafen am Rhein und dem Ernst-Bloch-Zentrum zum zehnten Preisträger erkoren. Margalit ist Verteidiger seines Landes und zugleich einer seiner großen Kritiker. Er wendet sich gegen den traditionellen Zionismus und sucht nach einem neuen Politikkonzept. Seine Kritik an der israelischen Gesellschaft ist ähnlich wie die an der palästinensischen Gesellschaft. Beide tragen Variationen der Nostalgie-Sehnsucht vor sich her, um reine Momente der Vergangenheit in die Zukunft zu transponieren. Dies könne keine tragfähige Lösungen hervorbringen. Beide Gesellschaften verharrten in ihrer jeweiligen Rückwendung und suchten unschuldige Heimaten „in the past“. Dieser Typ von Nostalgie führe zu Brutalität. Margalit spricht von Heimat im Sinne von Herkunft als Teil der Vergangenheit. Er wendet alte Zeiten gegen Gegenwart. Avishai Margalit erhielt den Ernst-Bloch-Preis. Was hat Margalits Denkansatz mit Bloch zu tun? Er sagt: „Man muss etwas über seine Bewunderung des Marxismus hinwegsehen, die mir problematisch erscheint.“ Der Vortrag des Preisträgers benannte Bloch als Utopisten, der Gefahr läuft zum Kitsch zu werden. Darüber ließe sich trefflich streiten. Schade nur, dass Margalit seinen Heimat-Begriff nicht mit dem nach vorne gewandten Heimat-Begriff Blochs konfrontierte. Auch seine Zeitanalyse der Nostalgie wäre mit Blochs Wort von der „Ungleichzeitigkeit“ reichhaltiger geworden. Der Bloch-Preisträger Margalit kennt das Blochsche Werk nur bruchstückhaft. Vielleicht lädt ihn der Preis zu tieferer Lektüre ein. Es brächte für alle attraktive Kontroversen. Susan Neiman, Schülerin von John Rawls und derzeit Direktorin des Einstein Forums Potsdam, hatte bei ihrer Laudatio schon begonnen, Margalit mit ihrer Rolle als „jewish socialist“ herauszufordern.

Gauck und Heimat

Unter dem Motto „Unsere Heimat kommt nicht in braune Hände“ hielt Bundespräsident Joachim Gauck am 20. Jahrestag des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen am 26. August 2012 eine bemerkenswerte Rede. Darin sprach er von den „größten ausländerfeindlichen Ausschreitungen in der Geschichte der Bundesrepublik“. Rostock habe ein „Brandmal“. Einen wesentlichen Teil seiner Ansprache befasste sich Gauck mit dem mitgetragenen Früheren, das sich einmischt: „Ich weiß, dass in Lichtenhagen, in Rostock, wie überall in der DDR viele Menschen nach der Wiedervereinigung arbeitslos wurden, dass sie sich als Verlierer sahen, enttäuscht waren über die Zustände im neuen Deutschland, in dem sie – anstatt zu Wohlstand zu gelangen – häufig sozial abrutschten. Ich weiß, dass sich viele tief verunsichert fühlten, orientierungslos in der neuen Freiheit, überfordert mit den unzähligen und einschneidenden Veränderungen, ungeübt in der Übernahme von Verantwortung. Ich weiß, dass bei manchen Menschen die Furcht vor der Freiheit umschlug in Wut und Aggression. Die Entstehung solcher Gefühle kann man erklären. Aber unsere Erfahrung lehrt: Wenn Hass entsteht, wird nichts besser, aber alles schlimmer. Hass darf als Mittel der Konfliktlösung niemals geduldet sein!“ An anderer Stelle analysiert er: „Auch Erfahrungen von materieller Sicherheit, Frieden und einer gesicherten Ordnung führten und führen dazu, dass der Einzelne wie die Gesellschaft die Angstimpulse besser beherrschen können. In Zeiten der Krise jedoch, Zeiten des Umbruchs oder der Identitätssuche wächst die Angst rapide.“ Hier sprach Gauck auf den Spuren Blochs „Ungleichzeitigkeit“ und folgerte immanent: „Es liegt nicht am schlechteren Charakter der Ostdeutschen, dass es Unterschiede zu den Westdeutschen gibt, sondern an unseren unterschiedlichen Prägungen und Erfahrungen: Hier im Osten konnten wir nicht teilhaben an einer Zivilgesellschaft von aktiven und eigenverantwortlichen Bürgern.“ Doch zugleich verlässt er Blochs Denken, wenn er den Heimat-Begriff als Ort bezeichnet, von dem man herkommt bzw. in dem man lebt. Blochs Heimat-Definition setzt die Genesis an das Ende der Geschichte der Menschwerdung und sieht Heimat als die zu gestaltende konkrete Utopie in naher Zukunft.