Harold Livingston (1923 – 2014)

Harold Livingston (Foto: © Welf Schröter)

Harold Livingston (Foto: © Welf Schröter)

Es war der 22. Juli 2009, als sich in der schwäbischen Kleinstadt Mössingen am Rande der Schwäbischen Alb zwei Männer trafen, die sich zuvor nie begegnet waren und doch indirekt verbunden schienen. Der Philosoph und Naturwissenschaftler Jan Robert Bloch gab dem Unternehmer Harold Livingston die Hand.

Monate später schrieb Jan Robert Bloch in seinem letzten Text vor seinem Tod über das Treffen in Mössingen: „Etwas stieg auf, was entschwunden schien. Etwas kehrte ein, wovon kaum jemand sprach.“ Jan Robert Bloch erinnerte sich an die Freundschaft seiner Eltern Ernst und Karola Bloch mit Adolph Lowe und Beatrice Lowe geb. Löwenstein.

Nur wenige Wochen vor seinem 91. Geburtstag im Oktober starb Harold Livingston in London. Er war der Sohn von Artur Löwenstein, dem Bauhaus-Anhänger und Mitbegründer des Mössinger Textilunternehmens Pausa sowie Bruder von Beatrice Löwenstein. Als 13-jähriger Junge wurde er zusammen mit seinen jüdischen Eltern und weiteren Angehörigen von den Nationalsozialisten vertrieben. Die Firma Pausa wurde in einer geplanten Aktion zwangs„arisiert“. Als 22-jähriger kam Harold Livingston als britischer Soldat zurück. Er gehörte nicht nur zu den Befreiern Deutschlands von der NS-Diktatur sondern auch zu den Befreiern der Inhaftierten im KZ Bergen-Belsen.

Auf Grund der Initiative von Bürgern konnten im Jahr 2009 Mitglieder der Familie Löwenstein 73 Jahre nach ihrer erzwungenen Emigration erstmals wieder Mössingen besuchen. Im Namen der Stadt entschuldigte sich der damalige Oberbürgermeister bei der Familie. Beim seinem dritten Besuch im Sommer 2013 kam Harold Livingston auf Einladung des Theaters Lindenhof und des Löwenstein-Forschungsvereins in die Steinlachstadt. Er nahm als Ehrengast an der Aufführung des Stückes „Ein Dorf im Widerstand“ teil. In einer beeindruckenden Rede entschuldigte sich bei diesem Aufenthalt der örtliche Landrat persönlich bei Harold Livingston für das verbrecherische Verhalten der Behörden und der Bank im Jahr 1936 im Zuge der Enteignung von Artur und Felix Löwenstein.

In hohem Alter konnte Harold Livingston wieder Zugang finden zu den Orten seiner Kindheit, Stuttgart und Mössingen. In Jan Robert Bloch hatte er einen sensiblen Gesprächspartner gefunden. Für den damals 72jährigen Bloch war das Zusammentreffen mit dem damals 85-jährigen Livingston das Symbol für eine andere, glaubwürdige und authentische Erinnerungskultur. Beide standen sie gegen jedwede Ausprägung des Antisemitismus.

 

Das widerständige Leben der Karola Bloch

Im zwanzigsten Todesjahr Karola Blochs kamen in Pfullingen in Sichtweite des früheren Neske-Verlagshauses über fünfzig interessierte Zuhörerinnen und Zuhörer zusammen, um Felicitas Vogel, der Kuratorin der Neske-Bibliothek, bei ihrer Lesung aus Karola Blochs Autobiografie „Aus meinem Leben“ zu lauschen.

Im Garten des ehemaligen Klarissenklosters, das aus einer der frühen religiösen Frauenbewegungen hervorgegangen war, wurde das widerständige Leben der Polin und Jüdin, Architektin und Sozialistin Karola Bloch dem vorwiegend weiblichen Publikum leidenschaftlich und berührend vor Augen geführt. Die frühere Leiterin der Stadtbibliothek und heutige Kuratorin der Neske-Bibliothek, Felicitas Vogel, las aus der Lebensgeschichte der aktiven Hitlergegnerin. Zu dem Nachmittag hatte die Neske-Bibliothek und die Volkshochschule Pfullingen mit Unterstützung des Talheimer Verlages eingeladen.

In seinem Grußwort würdigte Welf Schröter, Mitherausgeber der Schriften Karola Blochs und langjähriger politischer Vertrauter der am 31. Juli 1994 Gestorbenen, den Mut und die Zivilcourage Karola Blochs. Ihr Leben sei gezeichnet gewesen von der unermesslichen Trauer um ihre Eltern und Angehörigen, die ins Warschauer Ghetto verschleppt und im KZ Treblinka ermordet wurden. Bis zu ihrem Tod sei Karola Bloch von diesem Trauma verfolgt worden. Schröter sprach sich dafür aus, der Haltung Karola Blochs nachzukommen und sich heute energisch gegen Antisemitismus zu wenden.

(Foto: © Welf Schröter)

(Foto: © Welf Schröter)

In der Lesung wurde sowohl die junge rebellische Karola Bloch, die aus einem begüterten Elternhaus einer Textilunternehmerfamilie kam, ebenso lebendig wie die spätere Architekturstudentin, die sich in die Bauhaustradition begab. Ihre erste große Liebe war der Schriftsteller und spätere Spanienkämpfer Alfred Kantorowicz. Er war es, der ihr den zwanzig Jahre älteren Ernst Bloch vorstellte. Damit begann eine lebenslange Beziehung zwischen zwei Menschen, die über die Exilstationen Wien, Paris, Prag, New York, Boston, Leipzig nach Tübingen kamen. In der Hoffnung, dass nach 1945 mit der DDR ein besseres Deutschland entstünde, gingen beide nach Leipzig. Schon nach wenigen Jahren geriet Karola Bloch in Widerstreit mit der SED. Die Blochs erhielten Berufs- und Publikationsverbot. Anlässlich des Mauerbaus 1961 blieben sie während eines Aufenthaltes in Westdeutschland. 1981 veröffentlichte Karola Bloch ihre Autobiografie im Pfullinger Neske-Verlag. Seit 1995 ist eine Neuauflage in einem anderen Verlag wieder lieferbar.

„Eine andere Welt ist möglich“

(Foto: © Welf Schröter)

(Foto: © Welf Schröter)

Anlässlich des zwanzigsten Todestages der Architektin und aktiven Hitlergegnerin Karola Bloch (1905-1994) am 31. Juli luden der Ernst-Bloch-Chor und der Talheimer Verlag zu einem kulturellen Erinnern in den Saal des Schlatterhauses in Tübingen. Mehr als achtzig Teilnehmerinnen und Teilnehmer hörten Melodien, Rhythmen und Texte, Gesungenes und Gelesenes. Unter ihnen war auch die aus Zürich angereiste Tochter Ernst Blochs, Mirjam Josephsohn.

Unter der Leitung von Anne Tübinger präsentierte der Ernst-Bloch-Chor fünfzehn Gesänge zu den Leitmotiven Frieden, Solidarität, Utopie und Ermutigung wie etwa „Eine andere Welt ist möglich“. Dem anmutenden Lied „Ich und Du“ kam das Rezitieren unbekannter und bislang unveröffentlichter Briefe Karola Blochs sehr nahe. In einem Brief an den von der StaSi verfolgten DDR-Oppositionellen Jürgen Teller schilderte sie ihre enge Solidarität mit dem Leipziger und erzählte zudem die Geschichte, wie sich Ernst Bloch und Bert Brecht kennenlernten.

Anne Frommann von der Karola-Bloch-Stiftung sprach Passagen aus der Autobiografie der Polin und Jüdin, in denen die Autorin mit der Ermordung ihrer Angehörigen im KZ Treblinka rang. Anne Frommann ließ an anderer Stelle jenen Text wieder lebendig werden, den Karola Bloch 1988 auf dem Tübinger Marktplatz zusammen mit Christa Wolf und Mikis Theodorakis vortrug. Die Kriegsgegnerin mahnte eine Kultur des Friedens als Antwort auf den Zweiten Weltkrieg und die deutschen Verbrechen an.

Nach dem „Song vom besseren Leben“ und dem von Anne Tübinger arrangierten Lied „Was brauchst Du“ verlas Irene Scherer vom Talheimer Verlag „Worte des Widerspruchs“ wie etwa Karola Blochs öffentliches Eingreifen für die „Würde der Frau“ und für die Schaffung eines Tübinger Frauenhauses gegen die Gewalt von Männern. In ihrem energischen Protest gegen das damalige „Asylsammellager“ beschrieb Karola Bloch ihr Leben als Flüchtling und forderte ein würdevolles helfendes Zugehen auf jene Menschen, die zur Rettung ihres Lebens ihr Land verlassen mussten.

Als der Ernst-Bloch-Chor die Melodie Bert Brechts und Hanns Eislers von „Das Lied von der Moldau“ anstimmte, erinnerte er damit auch an die Exilzeit Karola Blochs in Prag in den dreißiger Jahren auf der Flucht vor Hitler und ihre unzweideutige Solidarität mit dem späteren „Prager Frühling“. Nach mehreren Zugaben bedankte sich das Publikum mit langanhaltendem Beifall für neunzig Minuten Berührtheit, Humor und Ermutigung.

Leipzig erinnert sich an Jürgen Teller

V.l.n.r.: Regine Möbius, Welf Schröter, Irene Scherer (Foto: © talheimer)

V.l.n.r.: Regine Möbius, Welf Schröter, Irene Scherer (Foto: © talheimer)

Für einen Abend lang schien es so, als ob Ernst und Karola Bloch, Jürgen und Johanna Teller sich im Leipziger Literaturhaus noch einmal getroffen hätten, um über scheinbar vergessene und doch noch nachwirkende Vergangenheiten zu sprechen. Der Philosoph, die Architektin und Widerstandskämpferin, der Bloch-Schüler und die Galeristin – sie hatten über mehrere Jahrzehnte Briefe von Leipzig nach Tübingen und umgekehrt ausgetauscht. In teilweise literarisch verschlüsselten „Depeschen“ sezierten die Systemgegner-Ost und die Systemgegner-West ihre Wirklichkeiten.

Nun erhielt das Quartett seine Stimmen in der Löwenstadt für Stunden zurück. Die Leipziger Autorin und stellvertretende Vorsitzende des Verbandes deutscher Schriftsteller (VS), Regine Möbius, die Verlegerin Irene Scherer und der Mitherausgeber des Bandes „Briefe durch die Mauer“, Welf Schröter, lasen aus den Korrespondenzen von „Marcion“, „Polonia“, „Major Tellheim“ und „Minna von Barnhelm“. Im zwanzigsten Jahr des Todes von Karola Bloch und im fünfundzwanzigsten Jahr der erfolgreichen Leipziger „Montagsdemonstrationen“ war dieser Abend eine Ehrung des 1999 gestorbenen DDR-Kritikers Jürgen Teller. Dessen Sohn, Hannes Teller, nahm diese Würdigung im Namen der Familie dankend entgegen.

Doch in diesem Augenblick wurden nicht nur bereits veröffentlichte Briefsentenzen zitiert. Überraschend haben sich zahlreiche neue unbekannte Briefe Karola Blochs gefunden, die erstmalig zu Gehör kamen. Jürgen Teller hatte sie – wegen befürchteter Hausdurchsuchungen der Staatssicherheit – so gut versteckt, dass sie nun erst durch Zufall gefunden wurden.

Darin schreibt Karola Bloch über prominente Freunde, politische Ereignisse der achtziger Jahre, ihre Trauer über den Tod „E.B.‘s“, die Präsenz der Shoah. Sie berichtet von den Editionsarbeiten des Bloch‘schen philosophischen Nachlasses.

Melancholisch klingen manche Zeilen, in denen sie 1984 mit ihrem letzten Wohnort fremdelt: „Drum bin ich wieder im kleinen Tübingen, das mir nie Heimat wurde. In Berlin fühle ich mich wohler, liebe halt Großstädte.“

„Hoffnung der Befreiung“

(Foto: © Welf Schröter)

(Foto: © Welf Schröter)

Es war die Fernsehdokumentation von Eric Friedler über Elisabeth Käsemann am 5. Juni 2014 in der ARD, die Erinnerungen an jene aufgewühlten Tage im Mai und Juni des Jahres 1977 in Erinnerung brachten. Die Nachricht vom brutalen Tod der Tübinger Schülerin und Berliner Studentin hatte damals in der Tübinger Studentenschaft wahre Schockwirkungen ausgelöst.

Eines Morgens hatten Studierende aus Respekt vor der Lebensleistung der Soziologin und  Politikwissenschaftlerin, die ein engagiertes Christentum lebte, das Gebäude der Evangelischen Fakultät der Universität Tübingen in „Elisabeth-Käsemann-Institut“ umbenannt. Für viele ihrer Kommilitonen und Freunde schien ihr politisches Leben mit ihrem Wechsel nach Lateinamerika zu beginnen.

Doch Elisabeth Käsemanns Weg war nicht eindimensional, nicht doktrinär, nicht ideologisch. Gemeinsam mit Rudi Dutschke, der sein – rebellisches – Christentum nie verleugnete, reiste Elisabeth Käsemann im Frühjahr 1968 nach Prag. Sie wollten die neue Luft des „Prager Frühlings“ schmecken. Beide sympathisierten mit dem Aufbruch zur Freiheit auf dem Wenzelsplatz. Nach den Schüssen auf Rudi Dutschke in Berlin und dem Einmarsch der Panzer in Prag ging Elisabeth Käsemann im September 1968 nach Lateinamerika. Auch Rudi Dutschke hatte einen Wechsel dorthin ins Auge gefasst. Aber das Attentat änderte alles.

Den Tod ihrer Tochter zeigten die Eltern Elisabeth Käsemanns im Juni 1977 mit einer Traueranzeige an: „Wir haben heute unsere Tochter Elisabeth auf dem Lustnauer Friedhof bestattet. Am 11. Mai 1947 geboren, am 24. Mai 1977 von Organen der Militärdiktatur in Buenos Aires ermordet, gab sie ihr Leben für Freiheit und mehr Gerechtigkeit in einem von ihr geliebten Lande. Ungebrochen im Wollen mit ihr einig, tragen wir unsern Schmerz aus der Kraft Christi und vergessen nicht durch sie empfangene Güte und Freude.“ (zitiert nach der Ausstellung „Ein Leben in Solidarität mit Lateinamerkia – Elisabeth Käsemann“, Mai 2007)

Die Ermordung Elisabeth Käsemanns hat neben Protest und Entrüstung auch einen Wärmestrom der Anteilnahme ausgelöst. Jürgen Moltmann und Karola Bloch sahen sich auf der Seite von Ernst Käsemann und dessen Familie. „Eure Elisabeth hat ihre Liebe und ihre Hoffnung der Befreiung eines erniedrigten Volkes gewidmet, damit der Raum weit werde für den Armen und die Bedrängnis ein Ende finde! Auf diesem Weg zur Freiheit der anderen ist sie den Bedrängern des Volkes zum Opfer gefallen. Sie ist in die Gemeinschaft der ungezählten, der namenlosen Opfer von Gewalttaten eingegangen.“ (Jürgen Moltmann)

Ernst Käsemann, der Bultmann-Schüler, widerstand mit seinem christlichen Glauben dem Nationalsozialismus. Er stand in der Tradition der „Bekennenden Kirche“. Er versuchte, seiner Tochter Kraft zu geben. „Gut, dass es solche Menschen gibt, mit wirklich aufrechtem Gang.“ (Karola Bloch)

„dann erst kann … wahrhaft Freiheit sein“

Inschrift „Tempel des Literaturgottes“ auf der Leipziger Buchgrafik-Ausstellung gegen den nahenden Krieg 1914 (Foto: © Welf Schröter)

Es waren nicht nur Tausende von Menschen auf dem „Platz des himmlischen Friedens“. In zahlreichen Städten Chinas gingen Millionen von Menschen für mehr Demokratie und Freiheitsrechte auf die Straße. Sie forderten keinen Umsturz, sie forderten Verbesserungen für ihr Land. Sie gingen im Geiste ihrer Literatur und Lesekultur, ihrer Bücher und ihres kulturellen Wissens auf den großen Platz der Öffentlichkeit.

Als vor 25 Jahren am 4. Juni 1989 in Peking mit Waffengewalt gegen Studenten, Arbeiter, Professoren, Schriftsteller vorgegangen wurde und am Ende mehrere tausend Tote auf der Straße lagen, ging ein Schock nicht nur durch die Oppositionsbewegungen in Leipzig, Warschau und Prag. Würden die Kommunistischen Parteien auch dort zu den Waffen greifen lassen? Hätte die „Samtene Revolution“ eine Chance?

Im Juni 1989 nahm Karola Bloch die Nachrichten von Tiananmen-Platz mit tiefem Erschrecken zur Kenntnis: „Es ist furchtbar, was in Peking geschieht. Sie erschlagen Menschen und lassen sie hinrichten, obwohl sie gar nicht Feinde des Sozialismus sind, sondern lediglich Demokratie und Reformen verlangen. Ich bin entsetzt, wenn ich erfahre, wie Menschen zum Tode verurteilt werden. Es ist etwas so Unwiederbringliches. Sind wir jetzt nicht zu Ende mit dem Kommunismus?“ (Sehnsucht 2, 94)

Für sich persönlich beantwortete Karola Bloch die gestellte Frage negativ: „Ich sehe, dass der Kommunismus nicht fähig war, die Menschen zu ergreifen und zu erobern.“ Dabei unterschied sich ihr persönliches Verständnis der kommunistischen Idee von denen Stalins, Ulbrichts und andere grundlegend. Für die Polin, Architektin und Sozialistin aus jüdischem Haus waren Freiheit und Demokratie untrennbar mit dem Tagtraum eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ verbunden.

Ähnlich hatte sich ihr späterer Mann Ernst Bloch schon 1918 gegen den Ersten Weltkrieg als sehnlichst Hoffender und enttäuscht Kritiserender der „Russischen Revolution“ geäußert: „Erst muß diese Phase: die bürgerliche, die politische Freiheit, das demokratische Minimum überall, vor allem aber in den Zentralstaaten, zu Ende gebracht werden; dann erst kann die soziale Freiheit, die ökonomisch-soziale Demokratie, das demokratische Maximum wahrhaft Freiheit sein und bleiben.“

Und an anderer Stelle schrieb er: „Weil also Marx allein mit dem Hochkapitalismus zu rechnen gelehrt hatte, gab man der beginnenden proletarischen Fabrikverschmutzung Rußlands als der programmgemäßen Antithesis in kommunistisch-kapitalistisch-sozialistischer Wirtschaftsdialektik den gottlosen Segen; und machte gerne, mit der Minderheit an Soldatenpöbel und Fabrikarbeitern, preußisch-zaristische ,Diktatur des Proletariats‘.“

Es gibt Dinge, über die heute ein anständiger Mensch nicht zweierlei Meinung sein kann. So eines der gängigen Bloch-Zitate. Wer heute also die Unabgegoltenheit Blochschen Denkens artikuliert oder artikulieren will, wird dies vom Standpunkt der Überlebenden des Tiananmen vom Juni 1989 aus leisten müssen, wenn Glaubwürdigkeit die eigene Rede prägen soll.

 

Anne Frommann, Welf Schröter (Hg.): Karola Bloch – Die Sehnsucht des Menschen, ein wirklicher Mensch zu werden, Reden und Schriften. Zwei Bände, Mössingen 1989.

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Janina Kowalewska

Denkmal in Warschau für den jüdischen Ghetto-Aufstand 1943 (Foto: © Welf Schröter)

Am 15. Mai 2014  ist in Warschau im Alter von 90 Jahren Janina Kowalewska gestorben. Sie war die einzige Verwandte Karola Blochs, die den Ghettoterror in Warschau űberlebte.

Nach dem Überfall Nazi-Deutschlands auf Polen begann das Regime mit dem Aufbau des „Ghetto Litzmannstadt“ in Lodz. Die Eltern Karola Blochs, Helena Piotrkowska und Maurycy Piotrkowski, sowie ihr Bruder Izio Piotrkowski und dessen Frau Andziula Piotrkowska geb. Tagelicht wie auch deren Sohn Jercy wurden dorthin verschleppt. Das NS-Regime transportierte die beiden Familien danach unter Zwang ins Ghetto Warschau. Von dort wurden sie 1942 und 1943 in das Konzentrationslager Treblinka verbracht und ermordet.

Zu den Inhaftierten im Warschauer Ghetto gehörte auch Janina Kowalewska geb. Lucyna Engelmann. Sie war die Tochter des jüngeren Bruders von Karola Blochs Mutter Helena. „Janka“ überlebte das Ghetto, weil ihr Dienstmädchen sie mutig als ihre eigene „arische“ Tochter ausgab. Janina Kowalewska heiratete den polnischen Architekten Andrzej Kowalewski, der große Verdienste beim Wiederaufbau von Warschau hatte.

Die gewaltsame Internierung ihrer Familie im Ghetto „Litzmannstadt“ und im Ghetto Warschau sowie die Ermordung ihrer Angehörigen im KZ Treblinka war für Karola Bloch bis zu ihrem Lebensende eine traumatische Erfahrung. In eindrücklicher Weise hat Karola Bloch dies in ihrer Autobiografie „Aus meinem Leben“ geschildert. 1978 besuchte Karola Bloch ihre Kusine in Warschau: „Als ich Janina fragte, wie es im Ghetto war, wollte sie mir nichts erzählen. Es sei zu schrecklich gewesen.“ Für Karola Bloch war der aussichtslose, aber notwendige jüdische Aufstand im Warschauer Ghetto am 19. April 1943 ein Symbol für den Kampf um „die Würde des Menschen“. Als Karola Bloch vor zwanzig Jahren am 31. Juli 1994 in Tübingen starb, nahm Janina Kowalewska mit ihrem Sohn an der Beisetzung teil.

Im Nachlass Karola Blochs befanden sich Briefe ihres Bruders Izio und ihrer Schwägerin Andziula. Sie wurden 2010 im Band „Karola Bloch – Architektin, Sozialistin, Freundin“ unter dem Titel „Karola Bloch und das Trauma der Ermordung ihrer Familie – Briefe aus dem Warschauer Ghetto“ auszugsweise veröffentlicht. Ernst und Karola Bloch hatten Andziula, die Tänzerin und Schülerin Mary Wigmans, sehr geschätzt.

Janina Kowalewska hatte erzählt, dass Andziula Piotrkowska im Ghetto Warschau zur Ermutigung der Kinder und Erwachsenen Ravels Bolero tanzte.

Der Tod Janina Kowalewskas erinnert daran, im Widerstand gegen Antisemitismus und Rassismus nicht nachzulassen. Wir erleben heute die wachsende Ausbreitung antisemitischer Äußerungen, Haltungen und Handlungen. Wir müssen mit Bedauern erkennen, dass auch akademisch gut ausgebildete Menschen davor zurückweichen. Janina Kowalewska war mutig und wurde aktiv. Die Erinnerung an sie sollte uns Ermutigung sein und Zivilcourage stärken.

Identität in der „virtuellen Lebenslage“

(Foto: © Welf Schröter)

Der Blick auf die Arbeitswelt zeigt neue Brüche. Im letzten Jahrhundert war der industrielle Arbeitsplatz vor allem von drei Faktoren geprägt: Arbeit hatte ihren Ort, Arbeit hatte ihre Zeit, Arbeit hatte ihre Verfasstheit. Die Einführung der Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) führte zu einer zunehmenden Flexibilisierung von Ort, Zeit und Verfasstheit von Arbeit. Rund zwei Jahrzehnte danach haben sich die sozialen und organisatorischen „neuen Infrastrukturen von Arbeit“ deutlich verändert: Arbeit und Arbeitsmengen sind nicht mehr an den Ort Betrieb gebunden, mehr und mehr Arbeitsvolumina wandern aus dem Ort Betrieb aus, das „Prinzip Betrieb“ bröckelt. Die materiellen und sozialen Interessen von Kernbelegschaften und „Freien“ driften auseinander.

Die Verfasstheit der betrieblichen Organisation und Mitbestimmung passen immer weniger zu den laufenden Veränderungen: Aus der Elektronisierung des Arbeitsplatzes und der Arbeitsabläufe im Betrieb wurde die Virtualisierung der Arbeitswelten.

Was passiert mit dem menschlichen Subjekt? Im Lebensgefühl, im persönlichen Befinden, in der sozialen Eingebundenheit , in der technischen Anwendungsumgebung und in den materiellen Interessen entsteht bei immer mehr Menschen eine veränderte Lebenslage, die nicht mehr identisch ist mit der abgegrenzten Rolle einer abhängig beschäftigten Person innerhalb eines Betriebes. Es kommt zum Wandel der Lebenslage: Entgrenzung der alten Arbeitswelt, Neuverortung in der digitalen Arbeitsgesellschaft, persönliche Neuorientierung und Notwendigkeit einer neuen Selbstvergewisserung. Die „Virtuelle Lebenslage“ wird zu einer bestimmenden Bedingung.

Was heißt bisher „Virtuelle Lebenslage“? Es ist zum einen der persönliche Datenschatten (Datenspur) im Netz, die personenbezogene Profilbildung durch Zusammenführen der Spuren, fremdgesteuerte „Identitäts“schaffungen durch Integration der Personen zugeordneten Social Media-Spuren, die Verknüpfung privater mit beruflichen Datenspuren, die Globalisierung und Entterritorialisierung der Datenspuren. „Das Netz vergisst nichts.“

Der Begriff „Identität“ läßt sich aber auf verschiedene Weise verstehen: als pädagogisch-didaktisch-erzieherisch-psychologisches Entwicklungsziel, als beruflich-inhaltliche Corporate Identity, als soziokulturelles Ergebnis, als technisch verstandenes Konstrukt von Rollen und Berechtigungen im Netz, als juristische Festlegung, als Mensch-Maschine-Interaktion, als personenbezogener Datensatz, als Datenbestandteil des Cyber-Physical-System.

Für die Diskussion sollte gelten, dass der Begriff „Identität“ nicht nur die technischen Rollen und Profile im Netz meint, sondern vor allem die ganzheitliche soziale und persönliche Lebenslage, die vollständige Subjektivität des Menschen. Es geht um die Rückeroberung eines ganzheitlichen Menschenbildes. Die Begriffe „Identität in der Virtualität“ und „Virtuelle Lebenslage“ ordnen sich sodann dem unter. Es geht um die Erlangung einer selbstbestimmten Lebenslage entgegen einer virtuell zu oft fremdbestimmten.

Die neue „Virtuelle Lebenslage“ mit ihrer Schein-Autonomie aber trägt Vergangenheit, das alte Leben, in sich und mit sich. Bedürfnisse und Hoffnungen, die im bisherigen Leben unerfüllt und unabgegolten blieben, suchen sich den Weg in die neue Umgebung. Alte Zeiten mischen sich in neue Zeitläufte. Die „Virtuelle Lebenslage“ ist in sich ungleichzeitig. Sie lässt noch immer die Sehnsucht nach einem humanen Menschen in sich keimen. Es ist die „Sehnsucht des Menschen, ein wirklicher Mensch zu werden“ (Karola Bloch).

Kanto und Karola

„Wir waren verlobt und wollten heiraten. Eigentlich war Kanto meine erste ganz große Liebe. Na und dann kam der Ernst“ (Sehnsucht 2, 92). Mit diesen kurzen klaren Worten beschrieb Karola Bloch im Jahr 1988 im Gespräch mit Welf Schröter ihre beiden Jugendlieben. Wäre Ernst Bloch nicht in ihr Leben getreten, wäre sie sicher mit Alfred Kantorowicz zusammen geblieben und wäre mit ihm in den „Spanischen Bürgerkrieg“ gegen Franco gezogen.

Kanto und Karola waren Anfang der dreißiger Jahre trotz vieler Vorbehalte Mitglied der KPD geworden. Aber beide sahen in der kommunistischen Bewegung die einzig starke Kraft, die vielleicht den Nationalsozialismus aufhalten könnte. Von den Nationalsozialisten verfolgt verließen sie frühzeitig das „Reich“, um im Ausland ihre Widerstandsarbeit gegen Hitler fortzuführen. Beide gingen nach der Befreiung hoffnungsvoll in die DDR. Kanto flüchtete 1957 in den Westen. Karola Bloch und ihr Mann wechselten 1961 von Leipzig nach Tübingen.

Am 10. Mai 1983 hielt Karola Bloch auf dem Tübinger Marktplatz vor mehr als eintausend Menschen ihre Rede zu Ehren von „Kanto“. Sie erinnerte an dessen besondere Leistung, als er am 10. Mai 1934 in Paris die „Bibliothek der verbrannten Bücher“ mit Unterstützung von Heinrich Mann, Alfred Kerr, Romain Rolland und Egon Erwin Kisch gründete. Alfred Kantorowicz wollte mit dieser Initiative gegen die Bücherverbrennungen des NS-Staates protestieren.

Karola Bloch 1983: „Denn die Bücherverbrennung war ein Symbol für die Vernichtung des Geistes, auf den die Deutschen mit Recht so stolz waren“ (Sehnsucht 1, 84).

Alfred Kantorowicz 1934: „Hier sei nur kurz gesagt, dass die Bibliothek einen wesentlichen Teil aller im Machtbereich Hitlers verbotenen, verbrannten und unterdrückten und zensurierten Bücher und Schriften sammelte und darüber hinaus auch Hauptwerke aller Zeiten der deutschen Literatur zur Verfügung stellen konnte.“

Am 10. Mai 2013 erinnerten in Tübingen Theater, Literaten, Verleger, Hochschullehrer/innen in einer zwölfstündigen Dauerlesung an die Bücherverbrennung achtzig Jahre zuvor. Zu den Lesenden gehörte auch der Mitherausgeber der Schriften Karola Blochs. Er trug dreißig Jahre nach der Marktplatzrede von 1983 Karola Blochs Rede zu Kantorowicz noch einmal vor.

Am 10. Mai 2014 – dem achtzigsten Jahrestag der „Bibliothek der verbrannten Bücher“ gilt es innezuhalten und sich an zwei Menschen zu erinnern, die sich auf ihre Art Hitler entgegenstellten. Ihre Motive und ihre Haltungen, ihr energisches Wirken gegen Antisemitismus, ihr Eintreten für die Würde des Menschen, für Menschenrechte und Demokratie haben sich bis heute nicht überlebt. Im Gegenteil. Die unabgegoltene Erbschaft von Kanto und Karola wird immer aktueller. Das zusammenwachsende Europa braucht diese Erinnerungen.

 Anne Frommann, Welf Schröter (Hg.): Karola Bloch – Die Sehnsucht des Menschen, ein wirklicher Mensch zu werden, Reden und Schriften. Zwei Bände, Mössingen 1989. http://www.talheimer.de/gesamtverzeichnis.html?page=shop.product_details&flypage=flypage-ask.tpl&product_id=93&category_id=17

Ein Querdenker

(Foto: © Welf Schröter)

Am 29. April 2014 jährte sich zum einhundertsten Mal der Geburtstag eines revoltierenden Querdenkers und Verlegers, eines Spanienkämpfers, der 1947 aus dem mexikanischen Exil voller Hoffnung in die DDR kam. Vom NS-Regime wegen seines Widerstandes gegen das „Dritte Reich“ verfolgt und verhaftet, saß er in der Haftanstalt Bautzen ein. Jahre später wurde er vom SED-Regime verfolgt, angeklagt und verurteilt. Er musste wieder lange hinter Gitter – erneut in der Haftanstalt Bautzen.

In seinen frühen DDR-Zeiten leitete er den Aufbau-Verlag und brachte Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“ heraus. Wegen seiner Sympathien für die polnische Opposition 1956 und für die ungarische Revolution desselben Jahres machte ihn Ulbricht zum Staatsfeind. Im gleichen Jahr wurde Karola Bloch aus der SED wegen angeblichem „polnischen Chauvinismus“ ausgeschlossen, sie erhielt Publikationsverbot. Ernst Bloch verlor seine Professur. In ihrer Autobiografie „Aus meinem Leben“ würdigt Karola Bloch den Freund Walter Janka. Blochs und Jankas wollten demokratische Reformen in der DDR.

Heute – 25 Jahre nach dem Ende der DDR – erinnert sich Leipzig an Walter Janka, der am 17. März 1994 starb. Ulf Heise schrieb in der „Leipziger Volkszeitung“ vom 29.4.2014: „Der ebenso charismatische wie tolerante Mann erregte Ärger bei den Sektierern und Fanatikern im SED-Politbüro.“ Walter Jankas Verständnis von Kommunismus war offen, liberal und ging dem voraus, was später in Prag „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ genannt wurde.

An seinem Grab würdigte ihn der Schriftsteller Günter Kunert mit den Worten: „Walter Janka kommt mir heute vor wie einer der letzten Gerechten, von denen das Judentum spricht; einer jener, die insgeheim die Last der Welt tragen.“

Jankas Lebensleistung, seine Veröffentlichungen und die Verletzungen in seiner Biografie wirken weiter. Gerade ein Vierteljahrhundert nach den Rufen „Wir sind das Volk“ ist Jankas Denken noch nicht abgegolten.