Konstruktion und De-Konstruktion von Identität

(Foto: © Welf Schröter) Konfrontationen der Identität - Konfrontationen der Architektur

(Foto: © Welf Schröter) Konfrontationen der Identität – Konfrontationen der Architektur

Ist die Herausbildung von Identität „ein lebenslanger Prozess der Konstruktion und Revision von Selbstbildern“? Erreicht der Mensch „Identität“ oder bestenfalls „Identitäten“? – In einer modernen Welt soll und muss Identität widersprüchlich sein, soll und muss Identitätswechsel erlaubt sein. Identität ist somit formbar und veränderbar. Parallel zum arbeitsweltlich-philosophischen Diskurs über „Identität in der Virtualität“, bei dem Identitätsbildung aus der Digitalisierung und Virtualisierung von Industrie- und Dienstleistungsarbeit abgeleitet werden soll, gab die Staatliche Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart Impulse zur Identitätsdebatte aus künstlerischer und musikalischer Arbeitsperspektive. In ihrer Zeitschrift „Spektrum #23“ durchstreiften Schaffende unterschiedlichster Fachumgebungen ihren Alltag, um Identitätsstiftendes zu finden. Deren Lektüre regt zur konstruktiven Aufhebung an.

„Du wirst, was Du tust“, ruft es aus der tanzenden Musik. Identität ist nicht zwangsläufig vorhanden. Identität ist Werden, ist Prozess. Von Identität lässt sich nicht im Singular sprechen. Identität ist Vielheit, besser noch Vielfalt. Identität entsteht durch Offenheit, mehr noch durch Protest, durch Handeln.

Die Humanisierung der Identität wäre die Forderung nach komplexer Identität. Identität entsteht und wächst durch Differenz. Identität folgt der Konstruktion und De-Konstruktion.

Der Komponist Mauricio Kagel brachte einst das Wort von der „fragmentarischen Identität“ ein. Für Bloch steht hinter dem „Ich“ das Werden zum Wir. Die virtuelle Identität ist nur vordergründig ein „Ich“. Tatsächlich fügt sich das „Ich“ vom Vorgestern zum „Ich“ vom Gestern hinein in das „Ich“ vom Morgen als ungleichzeitiges „Wir“ des Jetzt. „Identität in der Virtualität“ heißt vordergründige Gleichzeitigkeit bei tatsächlicher Ungleichzeitigkeit.

Nicht umsonst rief der biblische Daniel den Engel Gabriel zu interpretierender Assistenz herbei, um zurückliegend Unabgegoltenes im Gesicht des Gegenwärtigen für den hörend Sehenden erkennbar zu machen: „Lege diesem das Gesicht aus, damit er’s versteht.“

 

Bloch-Wörterbuch

Das Werk mit seinen 744 Seiten hat Gewicht, nicht nur, wenn es dem Leser in die Hand fällt. Das neue „Bloch-Wörterbuch“ stellt einen wichtigen Meilenstein der aktuellen fachlichen Bearbeitung des philosophischen Denkens von Ernst Bloch (1885–1977) dar.

Den Herausgebern Beat Dietschy, Doris Zeilinger und Rainer Zimmermann ist eine außergewöhnliche Leistung gelungen, die zurecht als Zwischenbilanz derzeitiger Bloch-Forschung, als „wissenschaftliches Handbuch, das den Stand der Forschung dokumentiert“ (Vorwort der Herausgeber), bezeichnet werden darf.

Das im Hardcover gebundene Teamergebnis eines von 22 Autorinnen und Autoren geschaffenen Arbeitsprozesses wendet sich primär an Interessierte aus Fachwissenschaften (Philosophie, Gesellschaftswissenschaften, Natur- und Technikwissenschaften), in zweiter Linie an „nichtprofessionelle LeserInnen“. Die Verfasser gehören den beiden Organisationen Ernst-Bloch-Assoziation und Ernst-Bloch-Gesellschaft an. In Abgrenzung zu in Universitäten immer wieder auftretenden Versuchen, Ernst Bloch auf die Rolle eines Literaten zu reduzieren, beansprucht das „Bloch-Wörterbuch“ bewusst die Perspektive, Bloch in seiner „explizit marxistische[n] Ausrichtung“ zu begreifen und die Ganzheitlichkeit seines Ansatzes zu betonen.

Das Wörterbuch besteht aus 46 Einzelarbeiten, die sich auf mehr als 46 zentrale Begriffe Blochs konzentrieren. Die Leitwörter reichen von „Antizipation“ bis „Zeit“ und umfassen nicht nur bekannte Themen wie etwa „Spuren“, „Naturallianz“, „Tendenz“ oder „Ungleichzeitigkeit“, sie umgreifen dankenswerter Weise auch weniger häufig verwendete Bloch-Motive wie „Fortschritt“, „Freiheit“, „Multiversum“ oder „Ultimum“. In der Regel werden die Fachbegriffe zunächst philosophiegeschichtlich und disziplinär eingeordnet, bevor ihre jeweilige Bedeutung in der Blochschen Konditionierung und im Blochschen Kontext dargelegt wird. Zu den besonderen und hervorzuhebenden Beiträgen in dem Band gehören neben den Texten von Doris Zeilinger zu „Latenz“ und „Natur“ vor allem auch die Arbeiten von Rainer Zimmermann zu „Naturallianz/Allianztechnik“, zu „Natursubjekt“ und „Naturrecht“ sowie die 44-seitige Aufarbeitung des von Bloch verwendeten Begriffes der „Ungleichzeitigkeit“ durch Beat Dietschy.

Letzterer erhebt die Wissenschaft zugleich zum Lesevergnügen, wenn er den Begriff „Ungleichzeitigkeit“ werkgeschichtlich durch die verschiedenen zentralen Werke Blochs verfolgt. Nicht vergessen werden darf die lesenswerte Abhandlung des verstorbenen Hans-Heinz Holz zu „Metaphysik“. Hinzuweisen gilt es auf den Abschnitt zu „Marxismus“ von Wolfgang Fritz Haug, der seinen Beitrag mit dem Hinweis Blochs auf die Notwendigkeit einer „Wärmestromwissenschaft“ krönt, die dem Marxismus hinzugefügt werden müsse. Ungemein anregend ist Heiko Hartmanns Beitrag zu „Atheismus“, den er konsequent als Teil eines Humanisierungsprozesses offenbart. Heiko Hartmann ist es zu verdanken, dass das „Bloch-Wörterbuch“ überhaupt verlegt werden konnte. Eine gute Gesamtleistung wie das „Bloch-Wörterbuch“ verdient neben der positiven Würdigung zugleich ein paar kritische Anmerkungen.

Es ist schade, dass das Redaktionsteam darauf verzichtet hat, zwei zusätzliche Stichworte in die alphabetische Gestaltung des Bandes aufzunehmen: Es fehlen die eigenständigen Leitworte „Musik“ und „Arbeit“. Bloch schrieb zwar kein eigenes Manuskript zum Arbeitsbegriff, dennoch durchzieht sein an Marx angelehntes Verständnis der Emanzipation und seine Entfremdungskritik das Noch-Nicht. Die Worte „Musik“ und „Arbeit“ finden im Wörterbuch immer wieder in einzelnen Texten Erwähnung, doch sind beide Stichworte für das Blochsche Gesamtwerk von nicht unerheblicher Bedeutung. Das Fehlen hinterlässt  noch zu schließende Lücken.

(Beat Dietschy, Doris Zeilinger, Rainer Zimmermann (Hg.): Bloch-Wörterbuch. Leitbegriffe der Philosophie Ernst Blochs. De Gruyter, Berlin 2012, 744 S.)