Widerspruch gegen vermeidbare Dummheiten

Zugegeben, den demokratischen Bewegungen in Europa weht an vielen Orten der Wind rückwärtsgewandter Nationalismen entgegen. Zugegeben, die Kräfteverhältnisse zur weiteren Humanisierung der sozialen Lebensbedingungen in den europäischen Staaten sind nicht ermutigend. Aber reicht dieses aus, um vorsätzlich vermeidbare Dummheiten zu begehen?

Spätesten seit dem Ersten Weltkrieg wissen wir, dass die Ideologisierung des nationalstaatlich bornierten Denkens eine der wesentlichen Gegnerinnen der Demokratie war. Wenn in Frankreich, Holland und Österreich heute mit der Wiederzurschaustellung schon mehrfach gescheiterter völkischer Parolen versucht wird, Enttäuschte hinter falscher Flagge zu versammeln, muss dann aus den Mündern von jenen, die sich links nennen, eine zwar andere – in der Wirkung aber vergleichbare – Parole kommen? Glauben die Lafontaines, Wagenknechts, Mélenchons und die Anhänger der Fünf-Sterne-Bewegung tatsächlich, dass für ihren Neo-Links-Nationalismus die Lehren des Ersten Weltkrieges nicht gelten?

Foto: © Welf Schröter

Wenn unter den gegebenen Rahmenbedingungen für jene, die sich als demokratische Linke verstehen, heute etwas gilt, dann ist es folgende unabgegoltene und ungleichzeitige Last europäischer Geschichte: Wer heute sich für den zivilgesellschaftlichen Fortschritt einsetzen will, der kann nicht anders, als zuförderst die Werte der Trikolore Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – ergänzt um soziale Gerechtigkeit – als zentrale Gemeinsamkeiten einer dezentralen, emanzipatorischen und antitotalitären Demokratiebewegung in Europa zu verteidigen. Es gilt, die Erbschaften einer Hannah Arendt und eines Ernst Bloch mit dem Denken eines Jürgen Habermas und einer Ágnes Heller in ihrem Identisch-Nicht-Identischen zu verknüpfen.

Nicht die Erbschaft leninistischer Sackgassen eröffnet neue Perspektiven, sondern die herausfordernde Negation der Negation der Droits de l’homme zeigt den Weg.
Der Linksnationalismus ist keine Perspektive. Er ist eine Dummheit. Dies gilt es, auch einem Slavoj Žižek deutlich zu sagen, der – in einer schlechten Kopie der schon damals verheerend falschen „Sozialfaschismusthese“ eines Dimitrow – in Hillary Clinton den Hauptfeind der amerikanischen Demokratie witterte.

Arno Münster hat völlig Recht, wenn er in seinem Aufsatz in der Buchzeitschrift „Latenz“ über die französische Linke kritisch schreibt, nicht Spaltung und Ausgrenzung sondern Zusammenstehen für die gemeinsamen solidarischen Werte ist angesagt.

 

Die Rückkehr des letzten Jahrhunderts

Letzte Überlebende des französischen Widerstandes gegen Hitler erinnern in einer elsässischen Stadt 2015 an das Kriegsende 1945. (Foto: © Welf Schröter)

Letzte Überlebende des französischen Widerstandes gegen Hitler erinnern in einer elsässischen Stadt 2015 an das Kriegsende 1945. (Foto: © Welf Schröter)

Ein Vierteljahrhundert nachdem die deutsch-deutsche Mauer durch demokratische Basisbewegungen von der Ostseite her endlich zum Einsturz gebracht wurde, regt sich in der bundesdeutschen Politik der rückwärtsgewandte Geist des Nationalen. Nicht marginale Gruppierungen am rechten Rand der Gesellschaft, nicht antieuropäische Tendenzen in politisch links stehenden Einzelströmungen geben Anlass zu prioritärer Sorge, sondern die Rückkehr des Nationalen in den Köpfen christdemokratischer Spitzenpolitiker inmitten der Bundesregierung provozieren das Gespenst des „hässlichen Deutschen“. Es offenbart sich ein Nationalismus des bürgerlichen Zentrums.

Die antieuropäischen Ausfälle reißen jene Vertrauensarbeiten ein, die zivilgesellschaftliche Akteure aus Deutschland gegenüber den Partnern in Frankreich, Polen, Rußland und Italien – um nur eine Auswahl zu nennen – in den letzten Jahrzehnten mühsam geschaffen haben.

Man muss dem früheren Außenminister Joschka Fischer Recht geben, der in einem scharfen Essay in der Süddeutschen Zeitung die katastrophalen Verfehlungen des Berliner Finanzministeriums angreift, das sich anheischig macht, Außenpolitik monokausal aus der Finanzpolitik abzuleiten. Mit spitzer Feder seziert Fischer:

„Die Frage, welchen Weg das wiedervereinigte Deutschland im 21. Jahrhundert einschlagen wird – hin zu einem europäischen Deutschland oder zu einem deutschen Europa –, ist mitnichten eine Frage von Pathos oder gar der politischen Romantik, sondern die sehr harte, realpolitische, ja historische Grundsatzfrage für alle deutsche Außenpolitik schlechthin.“

Der Grund hierfür liegt für Fischer in einer nüchternen Erkenntnis aus deutscher Geschichte:

„Die ,Macht der Mitte‘ sollte nie wieder zur Gefahr für den Kontinent und für sich selbst werden. (…) Mehr noch: Die wirtschaftliche Stärke der europäischen Zentralmacht sollte, in Verbindung mit der Aussöhnung mit dem alten ,Erbfeind‘ Frankreich, diese in einen gemeinsamen europäischen Markt mit der Perspektive einer dereinst stattfindenden politischen Einigung Europas bringen.“

Bitter fügte Fischer seiner Schrift gegen den Bundesfinanzminister und auf dessen politischen Verhalten am 13. Juli 2015 anspielend hinzu:

„Zum ersten Mal wollte Deutschland nicht mehr Europa, sondern weniger, und das heißt im Klartext: die Verwandlung der Euro-Zone von einem europäischen Projekt quasi in eine deutsche Einflusszone. Man könnte sagen, dies ist die spezifische Form von ,Renationalisierung im europäischen Gewande‘.“

Mehr als ein Vierteljahrhundert nach der Aufhebung der Blockgrenzen in Zentraleuropa, der Integration der früheren „Warschauer-Pakt-Staaten“ in die Europäische Union und mehr als ein Jahrzehnt nach Einführung des Euro als eine möglichst alle und alles verbindende gemeinsame Währung versucht ein Christdemokrat den Weg der Europäisierung Europas und der Europäisierung Deutschlands zurückzudrehen. Hätte dieser Mann doch vor 1989 in Leipzig, Prag oder Warschau gelebt, er würde heute das kostbare Leitbild Europa mit größter Vorsicht ansprechen. Doch der Mann ohne historisches Gedächtnis will wieder eine tonangebende deutsche Rolle in einem deutschen Europa.

Ein solches Ansinnen ist gefährlich, gefährlich für die europäischen Partnerinnen und Partner sowie auch gefährlich für die hiesige Zivilgesellschaft. Wer hätte gedacht, dass man im Jahr 2015 die Europapolitik des Christdemokraten Helmut Kohl gegen die Anti-Europapolitik des Christdemokraten Wolfgang Schäuble verteidigen muss. Würde sich Schäuble doch an die Mahnungen von Vaclav Havel, Richard von Weizsäcker, Władysław Bartoszewski und Jacques Delors erinnern. Sie erkannten den hohen Wert der politischen Idee von Europa und deren uneingeschränkter Dominanz über Markt und Finanzen.

Der „historische Bruch“ (Fischer) in der deutschen Europapolitik erfolgt im siebzigsten Jahr der von den Alliierten ermöglichten Befreiung vom Nationalsozialismus. Dieser „Bruch“ wäre leichter korrigierbar, wenn er nicht jene Latenz des Nationalen, jene Latenz deutscher Selbstüberhöhung und jene Latenz unabgegoltener Erbschaften berührte und in erneute Bewegtheit versetzte. Es ist den Zivilgesellschaften in Frankeich und in Italien zu danken, dass sie sich dem erneuten Streben nach deutscher Dominanz entgegenstellen.

Schon vor beinahe einhundert Jahren hatte sich Ernst Bloch in seinem Werk „Geist der Utopie“ (1919) der Idee Europas zugewandt. Er warnte vor „den Golems des europäischen Militarismus“ und in einer weitsichtigen Äußerung erkannte er die Gefahr, die dann zum Zweiten Weltkrieg führte. Er schrieb:

„Welches ist denn das Vaterland des wahrhaft ausgebildeten christlichen Europäers? Im Allgemeinen ist es Europa, insbesondere ist es in jedem Zeitalter derjenige Staat in Europa, der auf der Höhe der Kultur steht. Jener Staat, der gefährlich fehlgreift, wird mit der Zeit freilich untergehen, demnach aufhören, auf der Höhe der Kultur zu stehen.“

Die Gedanken der Re-Nationalen heute verhalten sich zur Gegenwart ungleichzeitig. Sie stehen mit dem Rücken zur europäischen Zukunft. Sie verweigern sich dem Noch-Nicht Europas und wenden sich ab vom gemeinsamen zivilgesellschaftlichen, solidarischen und vielfältigen Tagtraum eines ganzen Kontinents.

Maidan

Es waren öffentliche Plätze, auf denen gesellschaftliche Akteure den Tagtraum einer besseren Gesellschaft aufleben ließen. Es waren Orte, wo aus dem „Ich“ ein „Wir“ zu werden begann.

Der Orte gab es mehrere. Sie standen für Aufbruch wie auch für Niederlagen. Sie zeigten aber die Kraft des Unabgegoltenen und Uneingelösten des zivilgesellschaftlichen Emanzipationsbestrebens.

Zu den Namen „Wenzelsplatz“ in Prag, „Augustusplatz“ in Leipzig, „Platz des Himmlischen Friedens“ in Peking, „Azadi-Platz“ in Teheran und „Tahrir-Platz“ in Kairo kam jetzt der „Maidan“ im ukrainischen Kiew. Auf letzterem verschmolzen die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Würde mit dem Wunsch nach Demokratie, nach Verschränkungen von direkter und repräsentativer Demokratie.

Hans-Jürgen Krahl war es, der zutreffend bezüglich der Handelnden im „Prager Frühling“ feststellen musste, dass die Revolutionäre doch immer auch mit den Muttermalen desjenigen Systems versehen sind, gegen das sie ankämpfen. Im „Prager Frühling“ wollten sich die Akteure auf dem „Wenzelsplatz“ zu spät von der faktischen Dominanz der Rolle einer Partei lösen. Die Revolte auf dem „Tahrir-Platz“ suchte, alte Eliten zu beseitigen, hatte aber das Denken in autoritären Lösungsschritten geerbt. Nun der „Maidan“.

Er unterscheidet sich, da die Menschen sich an einem Traum orientierten, der von außen in Attraktivität zu leuchten begann. Es war das Bild von Europa, das ihnen vermittelt war. Dieses Bild von Demokratie, Rechtsstaat und Lebensqualität setzte ungeahnte Durchhaltekräfte von Tausenden von Menschen frei. Sie wussten, wogegen sie waren. Sie wussten, wo sie hinwollten. Verschwommen blieb eine scheinbare aber wesentliche Rahmenbedingung. Doch dieses Bild stand in gegensätzlicher Spannung zur Erbschaft des Charakters des Nationalstaats aus dem 19. Jahrhundert als einem von mehreren Altlasten.

Während die 28 Staaten der Europäischen Union im Inneren damit ringen, tendenziell die Grenzen des Nationalen zu überwinden, um Europa im globalisierten Wirtschafts- und Finanzmarkt zu stärken, betrachtet der „Maidan“ seinen Weg nach Europa vorwiegend als nationalstaatlichen Denkschritt. Es ist der Wunsch nach nationaler Identität, nach Kompensation des Fehlens eines historischen ukrainischen Nationalstaates. Hier zeigt sich das Muttermal der früheren Herrschaft.

Nun sind es die Gegner des „Maidan“, die mit der nationalen Karte den Weg des „Maidan“ nach Europa blockieren wollen. Und es wirkt wie eine Farce, dass sich ausgerechnet einer von den wichtigen Orten der Beratungen der Anti-Hitler-Koalition auf der ehemals sowjetischen Krim befindet. Mit der neuen nationalen „Ordnung“ von Jalta des Jahres 1945 hatten die Alliierten die Einflusssphären in Europa aufgeteilt. Diese brachen erst 1989/1990 ein. Der „Geist“ von Jalta scheint dem „Maidan“ Steine in den Weg zu legen.

Entscheidend wird sein, wie sich die europäischen Gesellschaften öffnen, um bei der Europäisierung Europas voranzukommen. Der beschleunigte Abschied vom Nationalen fehlt auf dem „Maidan“. Und dennoch gibt dieses Manko fremden Militärs kein Recht, in verdrehter Verlängerung der Okkupations-Jahre 1956 (Budapest), 1968 (Prag) und 1979 (Kabul) im Land des „Maidan“ einzumarschieren.

Seit vielen Jahren verbreitet sich – ausgehend vom Krim-Konflikt – zum ersten Mal wieder Sorge um den Frieden in Europa. Mag auch ein militärisch-kriegerisches Szenario überzogen sein, so wird doch wenige Wochen vor den Europa-Wahlen die Bedeutung der Europäischen Union für den Erhalt einer nichtkriegerischen Interessensaushandlungskultur überdeutlich. Europa entfaltet grundsätzlich die Möglichkeit zur nichtmilitärischen Überwindung des Nationalstaatsdenkens. Jüngst erst hatte auch der Philosoph Jürgen Habermas eine Beschleunigung der Europäisierung und Demokratisierung des Kontinents gefordert.

Ernst Bloch hatte 1918 in seinem „Vademecum für heutige Demokraten“ gegen Ende des Ersten Weltkrieges warnend geschrieben: „Der Krieg selber kann gewiss nicht alles leisten. Durchaus nicht, er kann nur brechen, nicht bilden.“