Vergesellschaftung statt Vermassung

„Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“ Diesem Kernsatz Ernst Blochs folgte der Journalist und Autor Peter Zudeick bei seinem äußerst anregenden Vortrag „Individuum und Veränderung“ bei der Tagung „Vom Ich zum Wir“ in Rottweil, der ältesten Stadt Baden-Württembergs. In seinem Streifzug durch die Philosophiegeschichte von Aristoteles über Nietzsche bis hin zu Bloch unterstrich der Bloch-Schüler, dass die Sozialität des Menschen Grundlage seiner Besonderheit sei, nicht das Resultat.

(Foto: © Welf Schröter)

Peter Zudeick (Foto: © Welf Schröter)

Das menschliche Selbstbewusstsein bilde demnach das Produkt seiner Sozialität, das Produkt seiner Interaktion mit anderen. Die Perspektive liege hierbei auf Vergesellschaftung nicht auf Vermassung, wenn aus dem „Ich“ ein „Wir“ werden solle. Das „Ich“ sei vom „Wir“ nicht zu trennen. Zwischen beiden bestünde ein unauflöslicher Zusammenhang. Selbstverwirklichung könne ohne die soziale Dimension des „Wir“ nicht erreicht werden. Die Fähigkeit, über sich hinaus zu denken, schaffe die Potenziale zur Veränderung.

Nach Bloch heiße Mensch-Sein, konkrete Utopien zu entwickeln. Jeder folge seinen Bedürfnissen so, dass das gesellschaftlich Gemeinsame Zukunft habe. Dabei erinnerte Zudeick an Karl Marx: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen.

Dem stehe die ideologische Reduzierung des Menschen als „homo oeconomicus“ entgegen, die Rationalität nur als Rationalität des wirtschaftlichen Systems, des Marktes begreifen wolle, gleichsam als Wirken einer „unsichtbaren Hand“.

Der Fortschritt der menschlichen Gesellschaft basiere nicht primär auf dem Individuum, auf dem Ego oder dem Egoismus, sondern vor allem auf der Fähigkeit zur sozialen Kooperation. Der Thatcherismus habe dagegen die Existenz der Gesellschaftlichkeit verneint und das Individuum emporgehoben.

Es gehe aber – so Zudeick – um das Erkennen des Vorhandenen und um dessen Veränderung: „Denken heißt Überschreiten“ (Bloch). Es gehe um Alternativen, um Bewegungen von unten, um Vernetzung der Basisbewegungen. Die Gesellschaft müsse sich zurückholen, was der Staat ihr abgenommen habe.

Vor diesem Hintergrund sei es Aufgabe der Bürgerinnen und Bürger selbst, Neues zu denken und auf den Weg zu bringen. Dies könne man von der etablierten Politik nicht erwarten. „Wichtige Entscheidungen gehören nach unten“ (Zudeick).

 

Projekt 1914 – 2014

Im Jahr 2014 jährt sich zum einhundertsten Mal der Beginn des I. Weltkrieges. Es wird Rückblicke, Geschichtsdarstellungen und politische Bewertungen aus unterschiedlichen Richtungen geben. Was aber haben die Literaten, Intellektuellen, Künstler und Kulturschaffende jener Zeit mit diesem Kriegs“ausbruch“ verbunden? Zu viele ließen sich von nationalistischen Worten betören und griffen nach der Uniform und der Waffe. Ernst Bloch und Hugo Ball aber wetterten gegen den Militarismus. Die Erschütterungen des Krieges ließen künstlerische Reaktionen erwachsen. Nicht nur das Bauhaus und der Expressionismus, Dada und neue Musik entstanden. Ernst Bloch veröffentlichte die erste Version seines Buches „Geist der Utopie“. Der Archäologe der enttäuschten Hoffnungen rang mit Mythos, Religion, Nietzsche und Simmel. – Heute im Vorfeld der Wiederkehr des Jahrestages zeichnet sich eine Lektüre-Renaissance von „Geist der Utopie“ ab. Dazu gehört auch der „Aufschrei“: Auf Vorschlag von Werner Wild bereitet die Ernst-Bloch-Gesellschaft ein besonderes Projekt 1914 -2014 vor unter dem Titel „Der Aufschrei für eine andere, bessere Welt. Sichtweisen auf den neuen Menschen und neue Gemeinschaften als Reaktion auf die Schrecken des I. Weltkrieges“.

„Bloch ist aber da nicht alleine in dem Wieder-Aufgreifen von religiösem und mythologischem Denken, um zu neuen Formen und Inhalten zu kommen, angesichts der geistigen Bankrotterklärungen. Während der Schrecken des I. Weltkrieges, auch schon in seinem Vorfeld gibt es eine intellektuelle, literarische und künstlerische und kunsthandwerkliche Bewegung in diese Richtung, wie etwa Simmel, Rosenstock-Huessy, Mann, Ball, Hausmann, Hesse, Kirchner, Höch, Dix, Werbern, Schönberg, Landauer, um nur einige zu nennen. Expressivität, Mythen und Religion, meistens mit Adaptionen auch aus anderen als der christlichen Weltreligionen. Dies geschieht sowohl inhaltlich als auch formal. So finden wir die völlige Formveränderung der Sprache im zeitweiligen Dadaismus von Hugo Ball, der danach sehr schnell zum eher traditionellen Katholizismus zurückkehrt. Der Maler und Dadaist Raoul Hausmann erklärt aus seiner Sicht – in einer Sprache, die der Bloch’schen nicht unverwandt ist –, um was es geht, bei den neuen Formen: „ […] Gemeinschaft, die Auflösung des Ich, des Einzelnen, in der Wucht der Wahrheit des Wir.“ (Wild)

Projektskizze http://www.ernst-bloch-gesellschaft.de/images/vorschlag%20projekt%201914-2014%20webversion.pdf

(Das Bild zeigt die Skulptur „Endlose Treppe“ von Max Bill, der damit Blochs Werk „Das Prinzip Hoffnung“ interpretierte.)