„Widerstand ist nichts als Hoffnung“ (I) – Ein Konzept

30 Tage im November – Vom Wert der MenschenRechte – Öffentliche Veranstaltungsreihe vom 27. Oktober bis 04. Dezember 2022

Siehe: https://30tageimnovember.de/

Der Blick auf die deutsche Geschichte zeigt, wohin Intoleranz, Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit führen können. Heute gilt es mehr denn je, Wissen und Werte zu vermitteln, die uns befähigen, Frieden, Demokratie und Freiheit immer wieder neu zu fordern, zu bewahren und die Allgemeinen Menschenrechte zu verteidigen!

Erinnerungskultur stärkt die Demokratie: Unsere Initiative versteht sich als ein Lernort der Geschichte. Das Neue darf das Alte nicht verdecken, wenn es gilt, die Geschichte zu verstehen und unsere Gegenwart zu gestalten: An Morgen erinnern.

Die AnStifter laden Kulturinitiativen, KünstlerInnen, Kinos und Theater, Büchereien, Schulen und Unis, Kirchen und Gewerkschaften, Verbände sowie die Stadtgesellschaft zum Mitmachen ein: als VeranstalterIn, AkteurIn, als Publikum, VorleserIn, AnStifterIn, als Verantwortliche für Frieden, Demokratie und Menschenrechte. Die Reihe will mit Ihnen und Euch, den Kulturschaffenden aus Stadt und Region, auf die Suche gehen, mit Bild, Text und Ton, Theater, Musik und Film, mit Freude an Experimenten, Dialog, öffentlichem Denken und Machen.

Unser Konzept basiert auf Eigenwilligkeit und Eigeninitiative, Vielfalt und Solidarität der Mitwirkenden. Sie unterstützen uns, auch wenn Sie die „30 Tage im November“ nur nominell mittragen wollen. Sie können eigene Veranstaltungen für die Reihe entwickeln, passende Vorschläge aus Ihrem November-Programm einreichen, Kooperationen anbieten oder in ganz anderer Form eingreifen. Wir bitten, im Rahmen der „30 Tage“ auf Ihren Bühnen, vor oder nach Ihren Veranstaltungen in geeigneter Form Ihnen wichtig erscheinende Artikel der Menschenrechte zu präsentieren oder Ihre Veranstaltung der Menschenrechtspräambel zu widmen.

Die Reihe „Vom Wert der Menschenrechte“ mit mehr als 100 Veranstaltungen wird von mehr als 200 Initiativen, Theatern und anderen Einrichtungen mitgetragen. Zu der Reihe erscheint im Herbst eine 20-seitige Programmzeitung, es gibt Plakate und Flyer, Hinweise über die sozialen Medien, eine Website und Ihre eigenen Hausprogramme.

(Aus der Ankündigung von Peter Grohmann und dem Team „Die AnStifter“)

 

»Werft eure Hoffnung über neue Grenzen« (Walter Mehring)

Theaterleute antworten. - Foto: © Welf Schröter

Theaterleute antworten. – Foto: © Welf Schröter

Wenn viele Menschen keinen anderen Ausweg finden, als ihr bisheriges Leben aufzugeben, ihr Wohnumfeld zu verlassen, mit wenigen Habseligkeiten zu fliehen, um als Schutzsuchende Richtung Europa aufzubrechen, dann und spätestens dann gilt es uns, neu nachzudenken. Wo liegen die Gründe? Wie können die Anlässe für Flucht und Vertreibung beseitigt werden? – Zahlreiche Organisationen und Partner laden zum Diskurs ein. Beispielhaft wandert dabei der Blick auf Fluchtgründe und Fluchtverläufe von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, Autorinnen und Autoren: Peter Weiss, Bert Brecht, Antonio Skarmeta, Gabriel Garcia Márquez …

Der Verband deutscher Schriftsteller (VS) ruft zum literarisch-politischen Einmischungsdiskurs. Unterstützt von mehreren Partnern wie etwa Gewerkschaft ver.di, PEN, Germanistisches Institut an der Schlesischen Universität Katowice, Talheimer Verlag und anderen kommen Schreibende und Lesende aus verschiedenen europäischen Ländern zusammen:

„Vor diesem Hintergrund setzen sich Kulturschaffende mit Flucht, Exil und Migration auseinander. Was treibt Menschen in die Flucht? Was bedeutet Exil persönlich und gesellschaftlich? Welche Interessen stecken hinter einer menschenfeindlichen Flüchtlingspolitik? Diese und andere Fragen wollen wir diskutieren und Mut machen, sich für Frieden, Gerechtigkeit, Solidarität, Menschlichkeit und Toleranz einzusetzen.“

Ein Blick in das Programm motiviert zur Teilnahme (VS_Literaturtagung_2016).

 

Dialektik der Ungleichzeitigkeit

Altes Industriegesellschaftliches vermischt sich mit neuem „Informationsgesellschaftlichem“. Der Druck am Arbeitsplatz wächst nun drastisch an. Der Inhalt der Worte Markt, Wettbewerb, Globalisierung nimmt den Atem. Der Druck spitzt sich weiter zu und unterwirft Arbeit und Leben dem Diktat der Ökonomisierung der Zeit. Die Versuche, auf dieses Diktat der Ökonomisierung der Zeit zu reagieren, einander wieder etwas Luft zu verschaffen, auf die Herausforderungen zu antworten, vollziehen sich selbst immer mehr unter den Spielregeln und mit den Schlagworten der Ökonomisierung der Zeit.

(Foto: © Welf Schröter)

(Foto: © Welf Schröter)

Diese erinnern daran, dass zwischen den Schichtungen unseres Bewusstseins, zwischen den Teppichen der erlebten Zeit alte Tagträume lagern, die noch nicht erfüllt, nicht eingelöst sind. Zu dem Wunsch nach dem Wiederentdecken des menschlichen „Arbeitsvermögens“  gesellten sich qualitative Fragen nach dem Unabgegoltenen früherer Auseinandersetzungen. Wo sind die enttäuschten Hoffnungen früherer Jahre? Wo sind die alten und älteren Tagträume des öffentlichen Raumes abgeblieben? Unter welchen Bewusstseinschichtungen und unter welchen Erfahrungsteppichen liegen sind verborgen, nicht verloren, aber noch nicht wieder gefunden? Wie lassen sich diese alten Schätze finden und heben?

Diese Schätze stehen nicht in den Bibliotheken, in den Datenbanken, in den Social Medias. Sie sind aufbewahrt in den Gedächtnissen der handelnden Menschen, in den Gedächtnissen gesellschaftlich-öffentlicher Diskussionen, in den Gedächtnissen von öffentlichen Tagträumen, der erfüllten und nicht-erfüllten, der enttäuschten und unabgegoltenen. Sie sind – blochianisch ausgedrückt – als Ungleichzeitige mit uns gleichzeitig vorhanden, aber für uns nicht immer erkannt. Sie sind latent da. Mit dem Begriff „Ungleichzeitigkeit“ lassen sich wie Teppiche überlagerte Bewusstseinsschichten Schritt für Schritt, bildlich gesprochen Teppich für Teppich, wieder zugänglich und auffindbar machen.

Bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts gab es eine relativ einheitliche Arbeitswelt und eine relativ einheitliche Vorstellung davon, was Arbeit ist und wie man sie regelt. Diese relative Einheitlichkeit ergab für die Menschen die Chance der persönlichen Lebensplanung. Der eingetretene Entmischungsprozess wird durch den Einsatz neuer Technologien, durch Informations- und Kommunikationstechnik enorm beschleunigt.

Der Entmischungsprozess bedeutet in der Umkehrung, dass die alte Einheitlichkeit nicht wieder rückholbar ist. Es gilt zu überlegen, wie eine neue gemeinsame Grundlage unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens, unseres solidarischen Miteinanders aussehen kann. Die Erbschaft des alten Solidaritätsgedankens verfügt über viele Schichtungen, über Unerfülltes, Uneingelöstes, Unabgegoltenes. Die ungleichzeitigen Schätze der Solidarität liegen noch zwischen den besagten Teppichen. Es sind Splitter aus Ethik, Moral, Erfahrungen, Enttäuschungen, die wir benötigen, um ein neues Leitbild einer solidarischen Gesellschaft hervorzubringen.

Ein solches neues solidarisches Bild einer Gesellschaft wird nicht mehr allein über den Begriff Arbeit definiert und bestimmt werden. Dies ergibt sich aus dem Erosions- und Entmischungsprozess der Arbeitswelt selbst. Arbeitsvermögen, Tätigkeiten, „tätige Muße“ (Bloch), kreatives Arbeiten, gesellschaftliches Mindesteinkommen, Teilhabe an der Gesellschaft werden neu miteinander verknüpft werden müssen.

Mit neuen Fragen können wir in neuer Weise auf die Erfahrungs- und Bewusstseinsschichtungen, auf und unter die Teppiche blicken. Wir finden dadurch Neues, indem wir neu fragen. Die Antworten auf unsere neuen Fragen können wir zum Teil aus unserem ungleichzeitigen gesellschaftlich-geschichtlichen Gedächtnis gewinnen. Denken wir an das Thema Zeit, dass sich durch die Jahrhunderte und Jahrtausende menschlich erlebter Geschichte zieht. Es gab schon gute Antworten, aber sie sind verschüttet. Es gilt, sich zu erinnern.

Für Ernst Bloch lag die Genesis in der Zukunft. Heimat entsteht für ihn in der Zukunft als Ergebnis gesellschaftlichen Handelns.

 

Warum Mandela nicht nach Tübingen kam

Textauszug Karola Bloch (Sehnsucht I, 142)

Wie Martin Luther King hatte auch Nelson Mandela einen Traum, einen Tagtraum. Mandela sah eine afrikanische Gesellschaft entstehen, die er hoffend als „Regenbogen-Nation“ bezeichnete. Ähnlich wie Kings Traum von der gemeinsam-wechselseitigen Emanzipation von Schwarz und Weiß in den USA.

Mandela war Jurist. Er war in seiner Wahrnehmung den gesellschaftlichen Prozessen weit voraus. Er wollte Selbstbefreiung hin zu einer gleichberechtigten Versammlung der Citoyennes und Citoyens in einem Staat der gesicherten demokratischen Rechte aller. Sein Tod im Alter von 95 Jahren am 5. Dezember 2013 hinterlässt zwar eine errungene politisch verankerte Richtung der Entwicklung, aber dennoch mit großem unabgegoltenem „Noch-Nicht“:  „Ein Mensch, der einem anderen die Freiheit raubt, ist ein Gefangener des Hasses. […] Der Unterdrückte und der Unterdrücker sind gleichermaßen ihrer Menschlichkeit beraubt.“ (Aus seiner Autobiografie)

Jahre und Jahrzehnte gab es ein weltweites Ringen um die Freilassung des Bürgerrechtlers und bekanntesten Mitglieds des African National Congress. Auch in Tübingen sprachen sich viele Personen für seine Befreiung aus. Zu ihnen zählte unter anderem die Architektin Karola Bloch: „Die verbrecherische Regierung dieses Landes, den Schöpfern der Apartheid, muss von allen rechtschaffenen Menschen geächtet werden.“

Im Juni 1985 – anlässlich des 25. Jahrestages der blutigen Niederschlagung des schwarzen Aufstandes von Sharpeville 1960 – brachte ein Doktorand der Geschichtswissenschaft den Antrag in den Senat der von Studierenden in „Ernst-Bloch-Universität“ umbenannten Alma Mater ein, den bekanntesten Juristen Südafrikas, den jahrzehntelang mit der Häftlingsnummer 46664 gefangen gehaltenen Rechtswissenschaftler Nelson Mandela, an die Universität Tübingen einzuladen, ihn mit einer Ehrung der juristischen Fakultät zu begrüßen und ihm den Campus als Ort der öffentliche Rede anzubieten. Diese symbolische Einladung an einen Inhaftierten sollte – im 100. Geburtsjahr Ernst Blochs – ein Zeichen zivilgesellschaftlicher Verbundenheit und Solidarität setzen. 

Der damalige Präsident der Hochschule, Adolf Theis, zugleich Vorsitzender des Senats, schloss sich diesem Anliegen grundsätzlich an. Das Gremium beschloss mit Mehrheit, die öffentliche Einladung an Nelson Mandela auszusprechen und Vertreter der Professorenschaft zu beauftragen, die Einladung zu überbringen.

Doch die Vertreter der damaligen Professorenschaft stießen auf so viele eigene Hemmnisse, dass es nie zur Einladung an Nelson Mandela kam. So mancher wollte damals in ihm noch immer einen Gewalttäter und Terroristen sehen. Die 508-jährige Universität Tübingen hatte eine große Chance der Selbstkorrektur verpasst.

Nelson Mandelas Tagtraum ist derweil von einem afrikanischen zu einem globalen Tagtraum geworden. Dessen Realisierung erfordert Zivilcourage und solidarisches Agieren. Noch heute.

Neue Solidarität und „Change with Honour“

Michael Gormann-Thelen (Foto: © Welf Schröter)

Eugen Rosenstock-Huessy „verdient wieder hervor- und herausgerufen und dem Vergessen entrissen zu werden“. Mit dieser Kernaussage führt Michael Gormann-Thelen den Gesellschaftsreformer, Juristen, Reformpädagogen und Erwachsenenbildner „ERH“ in die Debatte um die gegenwärtige Gestaltung von „Arbeit“ und „Zeit“ ein. In der Evangelischen Akademie Bad Boll umreißt er im Februar 2013 Rosenstock-Huessys Denken, in dem er auf dessen Revolutionsverständnis eingeht. Nach ERH gelte es, die großen Weltrevolutionen zu würdigen wie etwa die Papstrevolution des 11. bis 14. Jahrhunderts, die Reformation, die Englische Revolution, die Französische Revolution und die Russische Revolution: „Jede Welt-Revolution zeichnet sich dadurch aus, dass sie einen »totalen«, universell gültigen Anspruch »an alle« in die Welt brachte, jeder ebenso unerhört wie alles verwandelnd“ (Gormann-Thelen).

„Da ist Rosenstock-Huessys Soziologie »Im Kreuz der Wirklichkeit«, die zunächst von den »Übermächten« der Räume und des Raumdenkens handelt und diese beiden letzteren als Verfallsformen von »Ernst« und »Spiel« und von »Krieg« und »Frieden« vorführt. Danach kommt die Zeitenlehre unter dem ersten Titel »Die Gewalt der Zeiten«, später unter dem Titel »Die Vollzahl der Zeiten«. Nicht heißt es »Zurück zu den Sachen!«, sondern »Zurück zu uns selbst!«“ (Gormann-Thelen)

Im Jahr 1947 sprach Eugen Rosenstock-Huessy in der Paulskirche zu »Friedensbedingungen einer Weltwirtschaft«. Michael Gormann-Thelen zitiert: „Die künftige Solidarität, deren Fehlen uns heute noch plagt, weil der Geist nicht wehen will, ist die Solidarität all derer, die sich unter dem Zwang des technischen Fortschritts ändern müssen. Wandlungsfähig muß jedes Mitglied der Gesellschaft bleiben. (…) Den seelischen Zutritt zu dem Rohstoff Mensch zu pflegen, ist die Friedensbedingung einer Weltwirtschaft.“ (Rosenstock-Huessy)

„Wo wir alle eigentlich nur kleine Teile des Ganzen sind und es wahrscheinlich auch nicht anders können, müssen wir Ordnungen finden und darauf habe ich nun seit 1912 meine Sach’ gestellt, wir müssen Formen finden, in denen statt des Kriegsheeres die Urbedürfnisse der menschlichen Seele in der Gemeinschaft sich verleiblichen können.“ (Rosenstock-Huessy in einem früheren Beitrag)

Als zentralen Imperativ formuliert Rosenstock-Huessy: »Wir müssen in eine Gesellschaftsordnung eintreten, in der die Wandelbarkeit – to change with honour – das Selbsterhaltungsprinzip der Menschheit wird.«

Eugen Rosenstock-Huessy wurde in der DDR nach 1956 genauso unterdrückt wie Ernst Bloch. Die Bürgerrechtsbewegung gegen die SED und mit ihr Wolfgang Ullmann beriefen sich sowohl auf Rosenstock-Huessy wie auf Bloch.