Empfänger unbekannt

Gelungene Premiere am 12. September 2012 in der Pausa in Mössingen für das Vier-Personen-Theaterstück "Empfänger unbekannt" des Theaters Lindenhof Melchingen.

Der Ort war gut gewählt: In der ehemaligen Fabrikhalle des früheren Textildruckunternehmens Pausa kam in der schwäbischen Stadt Mössingen ein Stück zur theatralischen Aufführung, das 1938 in den USA unter dem Titel „Adress unknown“ als Anklage gegen den Nationalsozialismus von Kressmann Taylor geschrieben und veröffentlicht wurde. Die US-Autorin hatte die Form eines romanähnlichen Briefdialoges gewählt, um das Auseinanderbrechen des Zusammenhalts zweier Männer aufzublättern. 1932 wechselt der eine nach Berlin, der andere bleibt in den USA. Der eine wird zum Repräsentanten der NSDAP und verbittet sich abwehrend weitere Briefe von seinem jüdischen früheren Freund. Dessen jüdische Schwester, eine ambitionierte Tänzerin, die naiv in den dreißiger Jahren im Berlin der NS-Zeit künstlerische Karriere machen will, kommt in Gefahr, wird von der SA ermordet, weil der Jung-„Partei-Genosse“ sie nicht zu schützen vermag. Nun schreibt der in Amerika Gebliebene nach Berlin offensiv Briefe und lässt den Abtrünnigen als Partner im jüdischen Geschäftsleben erscheinen. Briefe als Waffe. Dialektik der Kommunikation. Die bittere Rache gelingt. Ein weiteres Opfer.

Die Aufführung in den Räumen der (neuen) Pausa ist geschichtsträchtig. Denn die Firma (alte Pausa) war von den beiden Stuttgarter Unternehmern Felix und Artur Löwenstein 1919 gegründet und 1936 von den NS-Institutionen zwangs-„arisiert“ worden. Beide Löwensteins mussten samt Familien Mössingen verlassen. Dreiundsiebzig Jahre dauerte es bis Bürgerinnen und Bürger die Nachkommen der Löwensteins wieder nach Mössingen einluden. Achtzig Jahre nach der Pausa-Gründung wurde ein Brief von Mössingen nach Manchester geschrieben, der Verantwortung, Erinnerung und Entschuldigungen einläutete.

Das Theater Lindenhof aus Melchingen inszenierte eine Briefkommunikation als dramatisch-dramaturgische Täter-Opfer-Täter-Erkundung. Eine nüchterne schlichte Bühne, mit wenigen Tischen, Lichtveränderungen, Lautscherben, zitierende Briefstimmen und einem Ausdruckstanz als Körpersprache ließen Charaktere brechen. Die Bühne zelebrierte die Macht der Worte.

Bald wird in einer Lesung in den Räumen der Pausa ein anderer Briefverkehr zu Ohren kommen. Die Briefe der Tänzerin Andziula Tagelicht aus dem Warschauer Ghetto an die in den USA im zeitweisen Exil lebende Karola Bloch lassen eine Spannung von Hoffnung und Verzweiflung aufscheinen. Die Tänzerin wollte mit Tanz den Kindern des Ghettos Hoffnung geben. Vergebens. Den letzten Brief, den Karola Bloch aus Warschau erhielt, war ihr eigener. Er kam zurück mit dem Stempel „Empfänger unbekannt“. Nun wusste sie, dass die Tänzerin – und nicht nur sie – ermordet worden waren.

Wenn im kommenden Jahr in Mössingen die Schwiegertochter Karola Blochs, Anne Monika Sommer-Bloch, zum siebzigsten Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto die Worte Andziula Tagelichts mit der Violine interpretiert, wird die Pausa die Erinnerung an die Löwensteins und an die Theater-Aufführung „Empfänger unbekannt“ anmahnen.

Ungleichzeitigkeiten im Konzept „Industrie 4.0“

Nach der Entwicklung erster Manufakturen samt Landflucht und der Maschinisierung der Industrie über die mikroelektronischen Umbauten bis hin zur Virtualisierung globaler Unternehmen hat die Wirtschaftsgeschichte vier Stufen erklommen. Heute sprechen wir von „Industrie 4.0“ und meinen damit die weitgehende Reorganisierung von Arbeit und Produktion auf globaler Ebene. An die Stelle der verorteten Fabrik tritt langsam die „smart factory“ mit dem „smart working“. An die Stelle der Standortkommune kommt die „smart city“. Die Energiewende verlangt nach den „smart grids“. Die Wortstücke sind mehr als nur die Sammlung von modischen Wichtigtuereien. Dahinter steckt der starke Wandel hin zu „Neuen Infrastrukturen der Arbeit“ (Schröter). Doch darunter verbergen sich Hoffnungen und Verunsicherungen von Menschen. Die einen sind noch in der zweiten oder dritten Stufe der Industrialisierung, andere ringen schon mit den Herausforderungen digitaler Entfremdung. Menschen, die sich gleichzeitig treffen, sind in ihrem Denken und Fühlen nicht mehr gleichzeitig. Altes schwingt mit und mischt sich ein. „Industrie 4.0“ unterbricht und trennt Tradiertes, fügt Neues interkulturell zusammen. Verlust und kulturelle Bereicherung liegen nahe beisammen. Doch wie soll es gelingen, dass in der Geschwindigkeit der Herausbildung der „Identität in der Virtualität“ niemand verloren geht? „Industrie 4.0“ ist im Kern eine soziale Veränderung. Wir müssen das Undenkbare denken: Kann gesellschaftliche und individuelle Emanzipation mit Hilfe des „smart working“ und im Einklang mit virtuellen Identitäten erfolgen oder nur gegen sie? 

Karola Bloch (1905-1994) im Jahr 1988. (Bild: © Welf Schröter)

Im Jahr 1988 sprach ich mit der Architektin und Sozialistin Karola Bloch (1905-1994) über den Wandel der Arbeit und die wachsende Technisierung. Sie antwortete damals: „Wenn die Technisierung fortschreitet, wird es immer notwendiger werden, für die Menschen Beschäftigung zu finden. Das wirkt sich auf die gesamte Industrie aus und vergrößert das Problem der Arbeitslosigkeit. Es wird mit der Zeit eine ganz andere Ökonomie kommen müssen. Wenn die Menschen eigentlich nicht mehr soviel arbeiten, aber von irgend etwas leben müssen, brauchen sie eine Bezahlung, ein notwendiges Substrat, um existieren zu können. Unsere Gesellschaft hat sich wahnsinnig verändert und wandelt sich noch. Bis jetzt hat der Einzelne einen Lohn bekommen in der Höhe, die seiner geleisteten Arbeit entsprach. Wenn nun aber die Arbeit wegfällt, muß er dennoch einen Lohn bekommen, um leben zu können. Das ist eine ganz andere Vorstellung, eine andere Ökonomie. Der Begriff der Arbeit als solcher wird sich ändern. Auch die Zukunft der Gewerkschaften wird anders sein, als man sich das heute vorstellt. (…) Ich denke dabei immer an den Menschen, an den Sinn des Lebens. Da kommen ganz andere Faktoren in die Arbeit hinein. Ich habe den Eindruck, als ob die Menschen – vielleicht unbewußt – eigentlich auch an ihrer Zerstörung arbeiten. Denn der Verlust einer Arbeitsfunktion ist doch gleichzeitig etwas Zerstörerisches. Arbeit spielt doch für die Menschen eine ganz enorme Rolle. Wir können uns ein sinnvolles Leben heute ohne Arbeit nicht vorstellen.“ (Karola Bloch: Denkende Maschinen. In: Anne Frommann, Welf Schröter (Hg.): Karola Bloch – Die Sehnsucht des Menschen, ein wirklicher Mensch zu werden“. Reden und Schriften, Band 2. 1989, Seite 96.)

Seyla Benhabib und Nancy Fraser für Judith Butler

Ernst-Bloch-Preis-Trägerin 2009 Seyla Benhabib (Foto: Welf Schröter ©)

Die amerikanische Denkerin Judith Butler hat von einer renommierten deutschen Jury (Axel Honneth und andere) den diesjährigen Adorno-Preis der Stadt Frankfurt zuerkannt bekommen. Diese Entscheidung stellt eine bedeutende Ehrung der 56-jährigen Philosophin und Mitbegründerin der Genderforschung dar. Gegen diese Preisverleihung hat sich scharfer Protest erhoben. Nun droht die Kontroverse in eine schlichte Schwarz-Weiß-Malerei abzugleiten. Doch der Konflikt ist vielschichtiger. Jene, die Judith Butler kritisieren und ihr politische – nicht wissenschaftliche – Vorwürfe machen, sind von einer berechtigten Sorge getragen. Es ist die Sorge um das Existenzrecht des Staates Israel. Sie weisen zu Recht darauf hin, dass die derzeitige Politik des Staates Iran und dessen Verbündete Hisbollah und Hamas den Staat Israel auslöschen wollen. Diese Bedrohung löst Emotionen und Ängste aus. In der bundesdeutschen Politik gibt es Personen, die sich für Linke halten und die der Organisation Hamas das Prädikat „linke Befreiungsbewegung“ verleihen. Doch wer so argumentiert, ist nicht links sondern dumm. Gesellschaftliche Emanzipation kann unzweideutig nur auf der Basis antitotalitär-demokratischen Bewusstseins gelingen. Die Politik der religiösen Hamas aber ist totalitär. Erinnern wir uns daran, als vor einigen Jahren Jan Robert Bloch gebeten wurde, eine Grußadresse für einen Veranstaltung der Organisation „Kultur des Friedens“ in Tübingen zu verfassen. Er lehnte ab, da die Organisatoren in der Hamas eine Kooperationspartnerin sahen. Im Disput um die Verleihung des Adorno-Preises liegen die Wortfronten anders. Die berechtigte Sensibilität der Preisverleihungskritiker, die sich gegen Antisemitismus wehren, wenden ihre ansonsten berechtigte Sorge gegen die Philosophin Butler und verknüpfen ihren Namen mit der Hamas. Dies ist nicht nur überzogen sondern auch falsch. Die Trägerin des Ernst-Bloch-Preises 2009, Seyla Benhabib, hat deshalb zusammen mit Nancy Fraser, die von der Ernst-Bloch-Gesellschaft für den Ernst-Bloch-Preis 2012 vorgeschlagen worden war, und zahlreichen weiteren Persönlichkeiten wie Micha Brumlik, Hauke Brunkhorst und vielen anderen mehr eine Petition an die Stadt Frankfurt (http://www.ipetitions.com/petition/adorno-preis-fuer-butler/) gestartet. International werden Unterschriften gesammelt, um die Stadt zu ermutigen, an der Verleihung des Preises an Judith Butler festzuhalten.

 

Habermas und Europas Ungleichzeitigkeiten

Selten war die Aktualität und Bedeutung eines Begriffs wie „Ungleichzeitigkeit“ aus der Bloch’schen Philosophie so erkennbar wie im Verlauf des Jahres 2012. Die Spannung zwischen der europäischen Idee und den Lasten des nationalstaatlichen Denkens nimmt zu. Habermas, Nida-Rümelin und Bofinger konstatierten am 3. August 2012 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter der Überschrift „Einspruch gegen die Fassadendemokratie“ – einen Strategiewechsel fordernd und konsequent „systemische Probleme“ diagnostizierend: „Diese sind durch Anstrengungen auf der nationalen Ebene nicht zu bewältigen, sie erfordern eine systemische Antwort.“ Gegen „monetären Nationalismus“ und für „das Versprechen eines sozialen Europas“ plädierten sie: „Denn nur für ein politisch geeintes Kerneuropa besteht die Aussicht, den inzwischen fortgeschrittenen Prozess der Umwandlung der sozialstaatlichen Bürgerdemokratie in eine marktkonforme Fassadendemokratie umkehren zu können.“ Hier steht die Unabgegoltenheit des Tagtraumes vom friedfertigen Miteinander in Europa dem ungleichzeitigen Verhaftetsein im Nationalen gegenüber. Ernst Bloch warnte in seinem Buch „Erbschaft dieser Zeit“ vor der Vernachlässigung der gleichzeitigen Präsenz ungleichzeitigen Nationalgefühls in der Bürgerschaft der späten Weimarer Republik. Habermas sekundiert heute in folgenden Worten: „Allerdings sollte die historische Erinnerung an die Einigung des Deutschen Reiches, die vielen Landesteilen dynastisch oktroyiert wurde, gerade uns eine Warnung sein.“ Die Antwort der drei Autoren auf die Herausforderung der „Ungleichzeitigkeiten“ im europäischen Werden greift das subjektive Empfinden bewusst auf: „Der europäische Bundesstaat ist das falsche Modell und überfordert die Solidaritätsbereitschaft der historisch eigenständigen europäischen Völker. Die heute fällige Vertiefung der Institutionen könnte sich von der Idee leiten lassen, dass ein demokratisches Kerneuropa die Gesamtheit der Bürger aus den EWU-Mitgliedsstaaten repräsentieren soll, aber jeden einzelnen in seiner doppelten Eigenschaft als direkt beteiligten Bürger der reformierten Union einerseits, als indirekt beteiligtes Mitglied eines der beteiligten europäischen Völker andererseits.“ Das „Gefühl verletzter Gerechtigkeit“ (Habermas) verlangt bewusst nach einem Mehr an Partizipation und Demokratie. Ein Verdrängen dieses Gefühls könnte als unaufgelöste Erbschaft die Fortsetzung der Vertiefung Europas bremsen oder blockieren: „Nicht alle sind im selben Jetzt da, sie sind es nur äußerlich dadurch, dass sie heute zu sehen sind, dadurch aber leben sie nicht mit den anderen zugleich. Sie tragen vielmehr Früheres mit, das mischt sich ein.“ (Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit)

Projekt 1914 – 2014

Im Jahr 2014 jährt sich zum einhundertsten Mal der Beginn des I. Weltkrieges. Es wird Rückblicke, Geschichtsdarstellungen und politische Bewertungen aus unterschiedlichen Richtungen geben. Was aber haben die Literaten, Intellektuellen, Künstler und Kulturschaffende jener Zeit mit diesem Kriegs“ausbruch“ verbunden? Zu viele ließen sich von nationalistischen Worten betören und griffen nach der Uniform und der Waffe. Ernst Bloch und Hugo Ball aber wetterten gegen den Militarismus. Die Erschütterungen des Krieges ließen künstlerische Reaktionen erwachsen. Nicht nur das Bauhaus und der Expressionismus, Dada und neue Musik entstanden. Ernst Bloch veröffentlichte die erste Version seines Buches „Geist der Utopie“. Der Archäologe der enttäuschten Hoffnungen rang mit Mythos, Religion, Nietzsche und Simmel. – Heute im Vorfeld der Wiederkehr des Jahrestages zeichnet sich eine Lektüre-Renaissance von „Geist der Utopie“ ab. Dazu gehört auch der „Aufschrei“: Auf Vorschlag von Werner Wild bereitet die Ernst-Bloch-Gesellschaft ein besonderes Projekt 1914 -2014 vor unter dem Titel „Der Aufschrei für eine andere, bessere Welt. Sichtweisen auf den neuen Menschen und neue Gemeinschaften als Reaktion auf die Schrecken des I. Weltkrieges“.

„Bloch ist aber da nicht alleine in dem Wieder-Aufgreifen von religiösem und mythologischem Denken, um zu neuen Formen und Inhalten zu kommen, angesichts der geistigen Bankrotterklärungen. Während der Schrecken des I. Weltkrieges, auch schon in seinem Vorfeld gibt es eine intellektuelle, literarische und künstlerische und kunsthandwerkliche Bewegung in diese Richtung, wie etwa Simmel, Rosenstock-Huessy, Mann, Ball, Hausmann, Hesse, Kirchner, Höch, Dix, Werbern, Schönberg, Landauer, um nur einige zu nennen. Expressivität, Mythen und Religion, meistens mit Adaptionen auch aus anderen als der christlichen Weltreligionen. Dies geschieht sowohl inhaltlich als auch formal. So finden wir die völlige Formveränderung der Sprache im zeitweiligen Dadaismus von Hugo Ball, der danach sehr schnell zum eher traditionellen Katholizismus zurückkehrt. Der Maler und Dadaist Raoul Hausmann erklärt aus seiner Sicht – in einer Sprache, die der Bloch’schen nicht unverwandt ist –, um was es geht, bei den neuen Formen: „ […] Gemeinschaft, die Auflösung des Ich, des Einzelnen, in der Wucht der Wahrheit des Wir.“ (Wild)

Projektskizze http://www.ernst-bloch-gesellschaft.de/images/vorschlag%20projekt%201914-2014%20webversion.pdf

(Das Bild zeigt die Skulptur „Endlose Treppe“ von Max Bill, der damit Blochs Werk „Das Prinzip Hoffnung“ interpretierte.)

Virtualisierung der Arbeit

Inzwischen ist der „Wandel der Arbeit“ ein Thema für viele Akteure in der Gesellschaft geworden. Nicht nur Gewerkschaften, Betriebs- und Personalräte diskutieren die „Virtualisierung der Arbeit“ und „Neue Infrastrukturen der Arbeit“ (Schröter) sondern auch Selbstständige, Freelancer und Kleinbetriebe.

Die Informationstechnologie bietet die Grundlagen dafür, dass Teile von Arbeitsabläufen und wachsende Ausschnitte von Arbeitsvolumina per technischer Leitung verlagert werden können. Die Digitalisierung von Vorgängen zieht eine tendenzielle Flüchtigkeit nach sich. Die Potenziale der Arbeitswelten am Netz und über das Netz lockern die Bindung an Orte und vereinbarte Räume. Mehr noch: Die beschleunigt voranschreitende Virtualisierung verwandelte den Charakter der Arbeitsinhalte und des Verständnisses von Arbeit. Arbeit beginnt sich strukturell zu enträumlichen.

Die industrielle Arbeitswelt der materiellen Produktion und der materiellen Dienstleistungen wird immer mehr von virtuellen Arbeitsumgebungen durchdrungen. Reale und virtuelle Arbeitswelten verschmelzen zu einer neuen Wirklichkeit, zu einer verspannten Räumlichkeit. Diese neue Wirklichkeit entsteht unter anderem dadurch, dass das Reale das Virtuelle und das Virtuelle das Reale konstitutiv wechselseitig bedingt. Das eine ist ohne das andere auf Dauer nicht handlungsfähig. Die Erwerbsarbeit des industriellen Typs wird schrittweise abgelöst von einer Mischung des Realen und des Virtuellen. Die Durchlässigkeit der Räume prägt die Wahrnehmung des Raumes als nicht-beständig. Zur synchronen Dreigliedrigkeit des Industriearbeitsplatzes von Ort, Zeit und Organisation tritt in der wissensbasierten asyn­chronen Arbeitsrealität die Ungleichzeitigkeit des Ortes, der Zeit und der Verfasstheit von Arbeit als dauerhafte vierte Konstante. Die Arbeitswelten der Informations- und Wissensgesellschaften fußen unter anderem auf der Ungleichzeitigkeit des Realen mit dem Virtuellen. Eine derartige Ungleichzeitigkeit verlangt eine strukturell andere Emanzipationsstrategie. Sie schließt eine Emanzipation mit Hilfe der Virtualität und vor allem in der Virtualität ein.

Die Initiative „Arbeitswelt trifft Philosophie – Philosophie trifft Arbeitswelt“ – getragen vom Forum Soziale Technikgestaltung und weiteren Partnern – führt dazu einen strukturierten Diskurs durch.

Herrn Uljanows Utopie

Es war ein Hörspiel besonderer Art, das Simone Schneider für den Deutschlandfunk hervorbrachte. Unter dem Titel „Roter Stern“ erklang am 8. September 2012 eine umfassende akustische Collage mit bitterbösem satirisch und dadaistisch aufgeladenen Sprachfetzen aus dem Äther: „Das Schiff der Utopie unter dem Sowjetemblem: Der Hochseedampfer Roter Stern schwimmt zwischen Russland und Amerika, gesteuert von einer fantastischen Besatzung. Eine Arche der Neuzeit, deren Reise in den 20er-Jahren beginnt und heute endet, mit ihrem Untergang.“ Es ist die Rückkehr der russischen Revolutionen von 1905 und 1917 sowie deren Nachgeschichte bis Gorbatschow. Schneider zerlegt und zerstört in sprachkritischer Schärfe den von Herrn Wladimir Iljitsch Uljanow ausgerufenen idealen Traum einer Tscheka-Sowjetgesellschaft. Die Fahrt des irrealen Schiffes in die Zukunft verläuft historisch rückwärts. Unter der die Dialektik parodierenden Parole „Vergesst die Apokalypse, beginnen wir mit der Genesis“ zerfällt die Staatsrhetorik: „Utopia ist fest in den Händen der Katastrophendienste.“ So lautet eine Eilmeldung. „Hungerstreikende zelten unter einem Zitat von Puschkin“. Bei diesen Nicht-Sätzen wirkt weniger ein hoffendes Noch-Nicht als vielmehr ein erleichtertes Nicht-Mehr. – Nur der Wille zur Genesis blieb als Wort haften. Simone Schneider hat die Utopie von ihrer totalisierenden Verstaatlichung befreit. Ein schmerzhafter, aber unabdingbarer Schritt.

Gauck und Heimat

Unter dem Motto „Unsere Heimat kommt nicht in braune Hände“ hielt Bundespräsident Joachim Gauck am 20. Jahrestag des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen am 26. August 2012 eine bemerkenswerte Rede. Darin sprach er von den „größten ausländerfeindlichen Ausschreitungen in der Geschichte der Bundesrepublik“. Rostock habe ein „Brandmal“. Einen wesentlichen Teil seiner Ansprache befasste sich Gauck mit dem mitgetragenen Früheren, das sich einmischt: „Ich weiß, dass in Lichtenhagen, in Rostock, wie überall in der DDR viele Menschen nach der Wiedervereinigung arbeitslos wurden, dass sie sich als Verlierer sahen, enttäuscht waren über die Zustände im neuen Deutschland, in dem sie – anstatt zu Wohlstand zu gelangen – häufig sozial abrutschten. Ich weiß, dass sich viele tief verunsichert fühlten, orientierungslos in der neuen Freiheit, überfordert mit den unzähligen und einschneidenden Veränderungen, ungeübt in der Übernahme von Verantwortung. Ich weiß, dass bei manchen Menschen die Furcht vor der Freiheit umschlug in Wut und Aggression. Die Entstehung solcher Gefühle kann man erklären. Aber unsere Erfahrung lehrt: Wenn Hass entsteht, wird nichts besser, aber alles schlimmer. Hass darf als Mittel der Konfliktlösung niemals geduldet sein!“ An anderer Stelle analysiert er: „Auch Erfahrungen von materieller Sicherheit, Frieden und einer gesicherten Ordnung führten und führen dazu, dass der Einzelne wie die Gesellschaft die Angstimpulse besser beherrschen können. In Zeiten der Krise jedoch, Zeiten des Umbruchs oder der Identitätssuche wächst die Angst rapide.“ Hier sprach Gauck auf den Spuren Blochs „Ungleichzeitigkeit“ und folgerte immanent: „Es liegt nicht am schlechteren Charakter der Ostdeutschen, dass es Unterschiede zu den Westdeutschen gibt, sondern an unseren unterschiedlichen Prägungen und Erfahrungen: Hier im Osten konnten wir nicht teilhaben an einer Zivilgesellschaft von aktiven und eigenverantwortlichen Bürgern.“ Doch zugleich verlässt er Blochs Denken, wenn er den Heimat-Begriff als Ort bezeichnet, von dem man herkommt bzw. in dem man lebt. Blochs Heimat-Definition setzt die Genesis an das Ende der Geschichte der Menschwerdung und sieht Heimat als die zu gestaltende konkrete Utopie in naher Zukunft.