Vergesellschaftung statt Vermassung

„Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“ Diesem Kernsatz Ernst Blochs folgte der Journalist und Autor Peter Zudeick bei seinem äußerst anregenden Vortrag „Individuum und Veränderung“ bei der Tagung „Vom Ich zum Wir“ in Rottweil, der ältesten Stadt Baden-Württembergs. In seinem Streifzug durch die Philosophiegeschichte von Aristoteles über Nietzsche bis hin zu Bloch unterstrich der Bloch-Schüler, dass die Sozialität des Menschen Grundlage seiner Besonderheit sei, nicht das Resultat.

(Foto: © Welf Schröter)

Peter Zudeick (Foto: © Welf Schröter)

Das menschliche Selbstbewusstsein bilde demnach das Produkt seiner Sozialität, das Produkt seiner Interaktion mit anderen. Die Perspektive liege hierbei auf Vergesellschaftung nicht auf Vermassung, wenn aus dem „Ich“ ein „Wir“ werden solle. Das „Ich“ sei vom „Wir“ nicht zu trennen. Zwischen beiden bestünde ein unauflöslicher Zusammenhang. Selbstverwirklichung könne ohne die soziale Dimension des „Wir“ nicht erreicht werden. Die Fähigkeit, über sich hinaus zu denken, schaffe die Potenziale zur Veränderung.

Nach Bloch heiße Mensch-Sein, konkrete Utopien zu entwickeln. Jeder folge seinen Bedürfnissen so, dass das gesellschaftlich Gemeinsame Zukunft habe. Dabei erinnerte Zudeick an Karl Marx: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen.

Dem stehe die ideologische Reduzierung des Menschen als „homo oeconomicus“ entgegen, die Rationalität nur als Rationalität des wirtschaftlichen Systems, des Marktes begreifen wolle, gleichsam als Wirken einer „unsichtbaren Hand“.

Der Fortschritt der menschlichen Gesellschaft basiere nicht primär auf dem Individuum, auf dem Ego oder dem Egoismus, sondern vor allem auf der Fähigkeit zur sozialen Kooperation. Der Thatcherismus habe dagegen die Existenz der Gesellschaftlichkeit verneint und das Individuum emporgehoben.

Es gehe aber – so Zudeick – um das Erkennen des Vorhandenen und um dessen Veränderung: „Denken heißt Überschreiten“ (Bloch). Es gehe um Alternativen, um Bewegungen von unten, um Vernetzung der Basisbewegungen. Die Gesellschaft müsse sich zurückholen, was der Staat ihr abgenommen habe.

Vor diesem Hintergrund sei es Aufgabe der Bürgerinnen und Bürger selbst, Neues zu denken und auf den Weg zu bringen. Dies könne man von der etablierten Politik nicht erwarten. „Wichtige Entscheidungen gehören nach unten“ (Zudeick).

 

Dialektik der Ungleichzeitigkeit

Altes Industriegesellschaftliches vermischt sich mit neuem „Informationsgesellschaftlichem“. Der Druck am Arbeitsplatz wächst nun drastisch an. Der Inhalt der Worte Markt, Wettbewerb, Globalisierung nimmt den Atem. Der Druck spitzt sich weiter zu und unterwirft Arbeit und Leben dem Diktat der Ökonomisierung der Zeit. Die Versuche, auf dieses Diktat der Ökonomisierung der Zeit zu reagieren, einander wieder etwas Luft zu verschaffen, auf die Herausforderungen zu antworten, vollziehen sich selbst immer mehr unter den Spielregeln und mit den Schlagworten der Ökonomisierung der Zeit.

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Diese erinnern daran, dass zwischen den Schichtungen unseres Bewusstseins, zwischen den Teppichen der erlebten Zeit alte Tagträume lagern, die noch nicht erfüllt, nicht eingelöst sind. Zu dem Wunsch nach dem Wiederentdecken des menschlichen „Arbeitsvermögens“  gesellten sich qualitative Fragen nach dem Unabgegoltenen früherer Auseinandersetzungen. Wo sind die enttäuschten Hoffnungen früherer Jahre? Wo sind die alten und älteren Tagträume des öffentlichen Raumes abgeblieben? Unter welchen Bewusstseinschichtungen und unter welchen Erfahrungsteppichen liegen sind verborgen, nicht verloren, aber noch nicht wieder gefunden? Wie lassen sich diese alten Schätze finden und heben?

Diese Schätze stehen nicht in den Bibliotheken, in den Datenbanken, in den Social Medias. Sie sind aufbewahrt in den Gedächtnissen der handelnden Menschen, in den Gedächtnissen gesellschaftlich-öffentlicher Diskussionen, in den Gedächtnissen von öffentlichen Tagträumen, der erfüllten und nicht-erfüllten, der enttäuschten und unabgegoltenen. Sie sind – blochianisch ausgedrückt – als Ungleichzeitige mit uns gleichzeitig vorhanden, aber für uns nicht immer erkannt. Sie sind latent da. Mit dem Begriff „Ungleichzeitigkeit“ lassen sich wie Teppiche überlagerte Bewusstseinsschichten Schritt für Schritt, bildlich gesprochen Teppich für Teppich, wieder zugänglich und auffindbar machen.

Bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts gab es eine relativ einheitliche Arbeitswelt und eine relativ einheitliche Vorstellung davon, was Arbeit ist und wie man sie regelt. Diese relative Einheitlichkeit ergab für die Menschen die Chance der persönlichen Lebensplanung. Der eingetretene Entmischungsprozess wird durch den Einsatz neuer Technologien, durch Informations- und Kommunikationstechnik enorm beschleunigt.

Der Entmischungsprozess bedeutet in der Umkehrung, dass die alte Einheitlichkeit nicht wieder rückholbar ist. Es gilt zu überlegen, wie eine neue gemeinsame Grundlage unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens, unseres solidarischen Miteinanders aussehen kann. Die Erbschaft des alten Solidaritätsgedankens verfügt über viele Schichtungen, über Unerfülltes, Uneingelöstes, Unabgegoltenes. Die ungleichzeitigen Schätze der Solidarität liegen noch zwischen den besagten Teppichen. Es sind Splitter aus Ethik, Moral, Erfahrungen, Enttäuschungen, die wir benötigen, um ein neues Leitbild einer solidarischen Gesellschaft hervorzubringen.

Ein solches neues solidarisches Bild einer Gesellschaft wird nicht mehr allein über den Begriff Arbeit definiert und bestimmt werden. Dies ergibt sich aus dem Erosions- und Entmischungsprozess der Arbeitswelt selbst. Arbeitsvermögen, Tätigkeiten, „tätige Muße“ (Bloch), kreatives Arbeiten, gesellschaftliches Mindesteinkommen, Teilhabe an der Gesellschaft werden neu miteinander verknüpft werden müssen.

Mit neuen Fragen können wir in neuer Weise auf die Erfahrungs- und Bewusstseinsschichtungen, auf und unter die Teppiche blicken. Wir finden dadurch Neues, indem wir neu fragen. Die Antworten auf unsere neuen Fragen können wir zum Teil aus unserem ungleichzeitigen gesellschaftlich-geschichtlichen Gedächtnis gewinnen. Denken wir an das Thema Zeit, dass sich durch die Jahrhunderte und Jahrtausende menschlich erlebter Geschichte zieht. Es gab schon gute Antworten, aber sie sind verschüttet. Es gilt, sich zu erinnern.

Für Ernst Bloch lag die Genesis in der Zukunft. Heimat entsteht für ihn in der Zukunft als Ergebnis gesellschaftlichen Handelns.

 

Rot der Hoffnung

Wer Ernst Blochs Hoffnungsphilosophie verstehen will, sollte sein Lesen mit der ersten Version von „Geist der Utopie“ (1918) beginnen. In jener Kriegszeit zwischen 1915 und 1917 intensivierte sich Blochs Ringen mit der Religion und dem Christentum. Die Kritik der herrschenden Verhältnisse beginne mit der Kritik der Religion.Rotes Fenster2

Blochs Hoffnungsdenken ist diesseitig. Das Versprochene der Religion muss diesseitig werden. So ist die Genesis für Bloch nicht am Anfang der Menschengeschichte, sondern sie bildet dessen erfüllte Zukunft.

Der Kirchenfenstermaler und französische Künstler François Chapuis fasste sein Hoffnungsverständnis in ein geradezu expressionistisches Farbenspiel: Ein Chagall nachempfundenes tiefes Blau will „die Menschheit aus der Hölle holen“, die Hoffnung aber fordert ein belebendes Rot.

Wenn Bloch fordert, Hoffnung muss enttäuscht werden, damit sie als „belehrte Hoffnung“ (docta spes) wirken kann, so bietet Chapuis ein leuchtendes Rot, „im Schmerz geboren, wiederbelebend“.

Bloch und Chapuis  haben sich nicht gekannt. In ihrer Hoffnungssicht jedoch zeigt sich Verwandtes. Während das Christentum den Glaube ins Zentrum rückt, lässt Bloch – und mit ihm Chapuis – die Hoffnung zum wesentlichen Handlungsmotiv werden. Sie ist es, die die Genesis einläuten soll.

Chapuis aber steht dem Denken des französischen Dichters und Dramatikers nahe, der 1914 im begonnenen Weltkrieg starb. Der Sozialist Péguy war es, der in seinem poetischen Gedicht den Christengott zu neuen Einsichten verleiten wollte. Er lässt diesen über Glaube und Liebe spekulieren, um dann den Christengott irritiert innehalten zu lassen: „Was mich wundert, sagt Gott, das ist die Hoffnung. Da komm ich nicht mit. Diese kleine Hoffnung, die nach gar nichts aussieht. (…) Die kleine Hoffnung schreitet einher zwischen ihren zwei großen Schwestern, und man beachtet nicht einmal, dass sie da ist.“

In seinem literarischen Werk „Das Tor zum Geheimnis der Hoffnung“, das erst 1929 posthum erschien, lässt Péguy den Christengott erkennen: „Die Hoffnung sieht, was noch nicht ist, und was sein wird. Sie liebt, was nicht ist, und was sein wird.“ Charles Pierre Péguy, der Zola-Anhänger, starb vor einhundert Jahren in den ersten Wochen des Ersten Weltkrieges am 5. September 1914. Er hat Blochs Philosophie über das „Noch-Nicht“ nicht lesen können.

Das widerständige Leben der Karola Bloch

Im zwanzigsten Todesjahr Karola Blochs kamen in Pfullingen in Sichtweite des früheren Neske-Verlagshauses über fünfzig interessierte Zuhörerinnen und Zuhörer zusammen, um Felicitas Vogel, der Kuratorin der Neske-Bibliothek, bei ihrer Lesung aus Karola Blochs Autobiografie „Aus meinem Leben“ zu lauschen.

Im Garten des ehemaligen Klarissenklosters, das aus einer der frühen religiösen Frauenbewegungen hervorgegangen war, wurde das widerständige Leben der Polin und Jüdin, Architektin und Sozialistin Karola Bloch dem vorwiegend weiblichen Publikum leidenschaftlich und berührend vor Augen geführt. Die frühere Leiterin der Stadtbibliothek und heutige Kuratorin der Neske-Bibliothek, Felicitas Vogel, las aus der Lebensgeschichte der aktiven Hitlergegnerin. Zu dem Nachmittag hatte die Neske-Bibliothek und die Volkshochschule Pfullingen mit Unterstützung des Talheimer Verlages eingeladen.

In seinem Grußwort würdigte Welf Schröter, Mitherausgeber der Schriften Karola Blochs und langjähriger politischer Vertrauter der am 31. Juli 1994 Gestorbenen, den Mut und die Zivilcourage Karola Blochs. Ihr Leben sei gezeichnet gewesen von der unermesslichen Trauer um ihre Eltern und Angehörigen, die ins Warschauer Ghetto verschleppt und im KZ Treblinka ermordet wurden. Bis zu ihrem Tod sei Karola Bloch von diesem Trauma verfolgt worden. Schröter sprach sich dafür aus, der Haltung Karola Blochs nachzukommen und sich heute energisch gegen Antisemitismus zu wenden.

(Foto: © Welf Schröter)

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In der Lesung wurde sowohl die junge rebellische Karola Bloch, die aus einem begüterten Elternhaus einer Textilunternehmerfamilie kam, ebenso lebendig wie die spätere Architekturstudentin, die sich in die Bauhaustradition begab. Ihre erste große Liebe war der Schriftsteller und spätere Spanienkämpfer Alfred Kantorowicz. Er war es, der ihr den zwanzig Jahre älteren Ernst Bloch vorstellte. Damit begann eine lebenslange Beziehung zwischen zwei Menschen, die über die Exilstationen Wien, Paris, Prag, New York, Boston, Leipzig nach Tübingen kamen. In der Hoffnung, dass nach 1945 mit der DDR ein besseres Deutschland entstünde, gingen beide nach Leipzig. Schon nach wenigen Jahren geriet Karola Bloch in Widerstreit mit der SED. Die Blochs erhielten Berufs- und Publikationsverbot. Anlässlich des Mauerbaus 1961 blieben sie während eines Aufenthaltes in Westdeutschland. 1981 veröffentlichte Karola Bloch ihre Autobiografie im Pfullinger Neske-Verlag. Seit 1995 ist eine Neuauflage in einem anderen Verlag wieder lieferbar.

Stimme gegen den Ersten Weltkrieg

Aus seinem Schweizer Exil schrieb 1918/19 Ernst Bloch seine ungewöhnlich scharfe Abrechnung mit dem Ersten Weltkrieg. Für ihn war Preußen-Deutschland der hauptsächliche und zentrale Kriegsverursacher und Kriegstreiber. Am Abend des 1. August 2014, dem einhundertsten Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges, wurden in den Räumen der früheren Thiepval-Kaserne Tübingen Auszüge aus Blochs journalistischer Arbeit „Vademecum für heutige Demokraten“ gelesen.

(Foto: © Welf Schröter)

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Unerbittlich griff Bloch den preußischen Militarismus an und sah in dessen Handeln den Kern des Kriegsgrundes. Deshalb rief er Gleichgesinnte auf, sich gegen das deutsche Kriegsregiment zu erheben: „Wir also vor allem müssen hier kämpfen, wir neue Jugend, wollen wir nicht einsam und heimatlos zugrunde gehen.“

Schon 1918/19 erkannte Bloch, dass bei einem Scheitern des Zerschlagens des militaristischen deutschen Regimes, die Gefahr bestehe, dass der Ruf nach „Blut“ und „Rasse“ zurückkäme. Damit drohe noch schlimmeres Unheil.

Ausgiebig umriss der damals 33-Jährige die Notwendigkeit, dass es nach dem Krieg eine öffentliche gesellschaftliche Form des Bereuens und der Aussöhnung geben müsse. Nur so könne verhindert werden, dass sich neuer gefährlicher Nationalismus aufbaue. Statt obrigkeitsstaatlichem Denken bedürfe es einer „Revolution des Herzens“.

Nur die Selbstanklage tilge die Kriegsprämissen, „soll eine wirkliche Aussöhnung der Welt mit Deutschland und Deutschlands mit der Welt, ein vollzählig ermöglichtes moralisches Weltparlament geschehen“ (Bloch).

Ernst Blochs „Vademecum“ (1918/19)

Martin Korol (links) und Jost Hermand 2014 in Berlin (Foto: © Martin Korol)

Martin Korol (links) und Jost Hermand 2014 in Berlin (Foto: © Martin Korol)

Mehr als einhundert Intellektuelle, Schriftstellerinnen und Autoren, Kunstschaffende und Gewerkschafterinnen hatten sich vor kurzem in Berlin unter dem Zitat Albert Einsteins „Das Denken der Zukunft muss Kriege unmöglich machen“ zu einer politischen Debatte zum Thema „Der Krieg in Kunst, Literatur und Wissenschaft“ zusammengefunden. Es galt, die Literatur und Kunst zu befragen, wie sie sich politisch den Kriegen entgegenstellte. Gedanken von Erich Fried, Anita Augspurg, Heinrich Böll, Albert Einstein, Lida Gustava Heymann, Arnold Zweig und Leonhard Frank wurden hörbar. Jost Hermand eröffnete mit seinen reichen literarischen und politischen Kenntnissen den Blick zurück für einen Blick nach vorn.

Dazwischen kamen die Worte Ernst Blochs in Erinnerung, wie er vom Schweizer Exil aus mit seiner Schrift „Vademecum für heutige Demokraten“ den Ersten Weltkrieg analysierte. Bloch hatte diesen Text aus dem Jahr 1918, der im Frühjahr 1919 erstmals veröffentlicht wurde, später nicht in seine Gesamtausgabe im Suhrkamp Verlag aufgenommen. Erst der „Blochianer“ und Hans-Mayer-Schüler Martin Korol gab den Text zum 100. Geburtstag Ernst Blochs 1985 acht Jahre nach dem Tod des Philosophen in „Kampf, nicht Krieg“ heraus.

Blochs „Geh-mit-mir“-Schrift (lat.: vade mecum) ist es wert, sie heute neu zu lesen. Der damals 33-jährige Publizist und Journalist im Exil schrieb mit brennender Leidenschaft sein zentrales frühes Antikriegswerk nieder. In der allgemeinen Bloch-Rezeption und im Schatten von „Geist der Utopie“ ist diese Schrift in der heutigen Bloch-Community kaum präsent. Bei genauerer Betrachtung hatte Ernst Bloch in diesem umfangreichen Zeitungsaufsatz, den er vor Ende des Ersten Weltkrieges begann, wesentliche Vorarbeiten für seine spätere Analyse „Erbschaft dieser Zeit“ (1934) und der Bedeutung der „Ungleichzeitigkeit“ (Bloch) geleistet.

Bloch sezierte im Vademecum die politische Lage in Europa. In unerbittlicher Härte beschrieb er die zentrale Kriegsschuld von Preußen-Deutschland und Österreich. In loyaler und zugleich scharfer Kritik an Marx warnte er vor einer Unterschätzung der Bedeutung des Agrarischen in der deutschen Geschichte bei einem gesellschaftlichen Umbruch. Er wandte sich kühl gegen Lenins Verherrlichung des Proletariats und sagte für die russische Entwicklung einen Rückschlag in einen autoritären Staat voraus.

Vor allem aber sah Ernst Bloch in der Zerschlagung des agrarisch bedingten preußischen Militärstaates die zentrale Bedingung für eine gesellschaftliche Emanzipation in Deutschland und Europa. Sollte dies nicht gelingen, werde der preußische Kriegswahn mit seiner Blut-und-Rasse-Ideologie alsbald wieder auferstehen und ein neues Desaster auslösen. Was Bloch 1918/19 voraussah, kam 1933 zur Macht.

„Wir haben also kein Gefühl für Verbrecher, bloß weil sie erfolgreich waren. Ein Sein, und wenn es Jahrtausende zählt, hat nicht die Kraft, über das Recht zu entscheiden. Es ist Wahnsinn und wird durch den Rekurs auf ,Blut‘ und ,Rasse‘ (gebraucht, als ob Menschen Zuchthengste wären) nicht sittlicher, wenn sich die Niederträchtigkeit von heute durch die Niederträchtigkeit von gestern legitimiert.“ (Ernst Bloch, Vademecum, 1919)

 

Praktische Vernunft

(Foto: © Welf Schröter)

Einblick ins Ernst-Bloch-Zentrum Ludwigshafen (Foto: © Welf Schröter)

225 Jahre nach dem Sturm auf die Pariser Bastille an jenem 14. Juli ist die Erbschaft des Citoyen und der Citoyenne in den europäischen Gesellschaften sowie darüber hinaus heute noch immer nicht abgegolten, nicht vollendet. Noch immer ist der Tagtraum der Bürger-, Freiheits- und Menschenrechte stärker als ihre Einlösung.

Zu schnell haben jene, die die Vollendung des Marktes anstrebten, die Erbschaft der Jakobiner angetreten. Zu schnell haben jene anderen, die die bürgerliche Demokratie kennenlernten, sie verkürzt als Stimme des Wertgesetzes diskreditiert.

In Kritik gegenüber dem Marxschen Denken erhob Ernst Bloch 1967 seine eigene Stimme, um den Citoyen gegen seine Gegner zu verteidigen. Es sei ungenügend, die Erbschaft des französischen Juli nur als Wegbereitung der „Verfallstendenzen“ einer kapitalistischen Gesellschaft zu begreifen. 1789 trage noch ein anderes „Erbe“ in sich, nämlich „das Erbe des bürgerlichen Naturrechts der Aufklärung und die aus seiner Rechtsutopie einer »bürgerlichen Gesellschaft« größter und gleicher individualer Freiheit und Sicherheit hervorgehende Demokratie der Französischen Revolution.“

In seiner Rede zur Entgegennahme des Friedenspreises des deutschen Buchhandels in der Paulskirche setzte Bloch auf das Subjekt, das Subjektive, den Wärmestrom gegen allzu abirrenden Kältestrom: „Wenn die Verhältnisse die Menschen bilden, so hilft nichts als die Verhältnisse menschlich zu bilden; es lebe die praktische Vernunft.“

Kantianisch geprägt sucht er die Kräfte der Aufklärung, symbolisiert als Trompetenstoß im „Fidelio“. Aufklärung und Aufhebung des Ungleichzeitigen in der Geschichte des Bewußtseins der Citoyens und Citoyennes.

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„Fryheit!“

(Foto: © Welf Schröter)

(Foto: © Welf Schröter)

Es waren die Jahre um 1525. Die Bauern erhoben sich im Südwesten. Sie träumten den öffentlichen Tagtraum der Befreiung vom Adelsjoch, von der Selbstbefreiung durch Revolten gegen Herzöge und Adelige. Sie wollten die Versprechungen der Lutherischen Religionskritik einfordern. „Fryheit!“ rief Thomas Münzer.

Je länger man aber auf ein Wort schaut, desto fremder schaut es zurück. Blicken wir auf den Begriff „Freiheit“. Heute sagt uns das Wort, dass verfassungstextlich gedacht, die Bürgerinnen und Bürger Freiheit des Wortes genießen und vor dem Gesetz gleich sind. Die Verfassungswirklichkeit bringt uns andere Sichtweisen nahe. Dem „niederen Stand“ fehlt noch heute die soziale Freiheit.

Vor 500 Jahren erhoben sich die Patrizier und Bürgerlichen der Städte, allen voran Tübingen. Sie boten den Herren Unterstützung gegen die aufmüpfigen Bauern in Böblingen, im Remstal und in Oberschwaben an. Als Preis forderten sie Privilegien und Standesrechte zu ihrer eigenen Absicherung gegenüber dem Lehnsherrn.

Als am 8. Juli 1514 der besagte „Tübinger Vertrag“ zustande kam, um diese Hilfeleistung zu belohnen, hatten die Stadtherren  Freiheitsrechte für sich errungen. Die „Fryheit“ der Bauern aber wurde geopfert. Sie wurden nieder gemacht.

So ringen heute in Tübingen und Umgebung jene klugen Köpfe, die den „Tübinger Vertrag“ als Zähmung des Landesherren und Beitrag zur Freiheit beschreiben, mit jenen, die – frei nach Konrad Wolf – den „Armen Konrad“ als wahren Freiheits-Freischärler aufwerten wollen. Das Theater Lindenhof sieht sich auf den Spuren Konrads.

Wie aber ist es möglich, dass in einer Stadt, in der sechzehn Jahre lang ein politischer Philosoph von Rang und Theoretiker gesellschaftlicher Emanzipation lebte, in diesem Disput nicht zur Geltung kommt. „Die Enkel fechtens besser aus“ donnerte einst Ernst Bloch, der an einem 8. Juli geboren wurde. Der Blick zurück gleicht manchmal einem Dauerblick auf ein Wort, das immer fremder wird.

Für Ernst Bloch war Münzer ein „Theologe der Revolution“, ein „Rebell in Christo“, der das Freiheitsreich Gottes auf Erden verfestigen wollte. Bloch blickte auf die „Fryheit“ des unteren Standes, weniger auf die „Freiheit“ des Patriziats. Im „Armen Konrad“ zeigte sich schon der spätere Citoyen vor der Bastille.

Und Ernst Bloch? Er veränderte die Perspektive. Nicht der Blick aus dem Rathausfenster erschließt die Wirklichkeit. Erst der Blick von unten zeigt die Achse für die notwendige „Drehung“ und Wendung. Doch es war der folgende, von Ernst Bloch aufgegriffene und weitergetragene Satz zur Erinnerung an die Erbschaft der Bauernkriege, der vor Jahren das Tübinger Pflaster bewegte: „Unsere Herren machen es selber, daß der gemeine Mann ihnen feind wird.“

Leipzig erinnert sich an Jürgen Teller

V.l.n.r.: Regine Möbius, Welf Schröter, Irene Scherer (Foto: © talheimer)

V.l.n.r.: Regine Möbius, Welf Schröter, Irene Scherer (Foto: © talheimer)

Für einen Abend lang schien es so, als ob Ernst und Karola Bloch, Jürgen und Johanna Teller sich im Leipziger Literaturhaus noch einmal getroffen hätten, um über scheinbar vergessene und doch noch nachwirkende Vergangenheiten zu sprechen. Der Philosoph, die Architektin und Widerstandskämpferin, der Bloch-Schüler und die Galeristin – sie hatten über mehrere Jahrzehnte Briefe von Leipzig nach Tübingen und umgekehrt ausgetauscht. In teilweise literarisch verschlüsselten „Depeschen“ sezierten die Systemgegner-Ost und die Systemgegner-West ihre Wirklichkeiten.

Nun erhielt das Quartett seine Stimmen in der Löwenstadt für Stunden zurück. Die Leipziger Autorin und stellvertretende Vorsitzende des Verbandes deutscher Schriftsteller (VS), Regine Möbius, die Verlegerin Irene Scherer und der Mitherausgeber des Bandes „Briefe durch die Mauer“, Welf Schröter, lasen aus den Korrespondenzen von „Marcion“, „Polonia“, „Major Tellheim“ und „Minna von Barnhelm“. Im zwanzigsten Jahr des Todes von Karola Bloch und im fünfundzwanzigsten Jahr der erfolgreichen Leipziger „Montagsdemonstrationen“ war dieser Abend eine Ehrung des 1999 gestorbenen DDR-Kritikers Jürgen Teller. Dessen Sohn, Hannes Teller, nahm diese Würdigung im Namen der Familie dankend entgegen.

Doch in diesem Augenblick wurden nicht nur bereits veröffentlichte Briefsentenzen zitiert. Überraschend haben sich zahlreiche neue unbekannte Briefe Karola Blochs gefunden, die erstmalig zu Gehör kamen. Jürgen Teller hatte sie – wegen befürchteter Hausdurchsuchungen der Staatssicherheit – so gut versteckt, dass sie nun erst durch Zufall gefunden wurden.

Darin schreibt Karola Bloch über prominente Freunde, politische Ereignisse der achtziger Jahre, ihre Trauer über den Tod „E.B.‘s“, die Präsenz der Shoah. Sie berichtet von den Editionsarbeiten des Bloch‘schen philosophischen Nachlasses.

Melancholisch klingen manche Zeilen, in denen sie 1984 mit ihrem letzten Wohnort fremdelt: „Drum bin ich wieder im kleinen Tübingen, das mir nie Heimat wurde. In Berlin fühle ich mich wohler, liebe halt Großstädte.“

„dann erst kann … wahrhaft Freiheit sein“

Inschrift „Tempel des Literaturgottes“ auf der Leipziger Buchgrafik-Ausstellung gegen den nahenden Krieg 1914 (Foto: © Welf Schröter)

Es waren nicht nur Tausende von Menschen auf dem „Platz des himmlischen Friedens“. In zahlreichen Städten Chinas gingen Millionen von Menschen für mehr Demokratie und Freiheitsrechte auf die Straße. Sie forderten keinen Umsturz, sie forderten Verbesserungen für ihr Land. Sie gingen im Geiste ihrer Literatur und Lesekultur, ihrer Bücher und ihres kulturellen Wissens auf den großen Platz der Öffentlichkeit.

Als vor 25 Jahren am 4. Juni 1989 in Peking mit Waffengewalt gegen Studenten, Arbeiter, Professoren, Schriftsteller vorgegangen wurde und am Ende mehrere tausend Tote auf der Straße lagen, ging ein Schock nicht nur durch die Oppositionsbewegungen in Leipzig, Warschau und Prag. Würden die Kommunistischen Parteien auch dort zu den Waffen greifen lassen? Hätte die „Samtene Revolution“ eine Chance?

Im Juni 1989 nahm Karola Bloch die Nachrichten von Tiananmen-Platz mit tiefem Erschrecken zur Kenntnis: „Es ist furchtbar, was in Peking geschieht. Sie erschlagen Menschen und lassen sie hinrichten, obwohl sie gar nicht Feinde des Sozialismus sind, sondern lediglich Demokratie und Reformen verlangen. Ich bin entsetzt, wenn ich erfahre, wie Menschen zum Tode verurteilt werden. Es ist etwas so Unwiederbringliches. Sind wir jetzt nicht zu Ende mit dem Kommunismus?“ (Sehnsucht 2, 94)

Für sich persönlich beantwortete Karola Bloch die gestellte Frage negativ: „Ich sehe, dass der Kommunismus nicht fähig war, die Menschen zu ergreifen und zu erobern.“ Dabei unterschied sich ihr persönliches Verständnis der kommunistischen Idee von denen Stalins, Ulbrichts und andere grundlegend. Für die Polin, Architektin und Sozialistin aus jüdischem Haus waren Freiheit und Demokratie untrennbar mit dem Tagtraum eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ verbunden.

Ähnlich hatte sich ihr späterer Mann Ernst Bloch schon 1918 gegen den Ersten Weltkrieg als sehnlichst Hoffender und enttäuscht Kritiserender der „Russischen Revolution“ geäußert: „Erst muß diese Phase: die bürgerliche, die politische Freiheit, das demokratische Minimum überall, vor allem aber in den Zentralstaaten, zu Ende gebracht werden; dann erst kann die soziale Freiheit, die ökonomisch-soziale Demokratie, das demokratische Maximum wahrhaft Freiheit sein und bleiben.“

Und an anderer Stelle schrieb er: „Weil also Marx allein mit dem Hochkapitalismus zu rechnen gelehrt hatte, gab man der beginnenden proletarischen Fabrikverschmutzung Rußlands als der programmgemäßen Antithesis in kommunistisch-kapitalistisch-sozialistischer Wirtschaftsdialektik den gottlosen Segen; und machte gerne, mit der Minderheit an Soldatenpöbel und Fabrikarbeitern, preußisch-zaristische ,Diktatur des Proletariats‘.“

Es gibt Dinge, über die heute ein anständiger Mensch nicht zweierlei Meinung sein kann. So eines der gängigen Bloch-Zitate. Wer heute also die Unabgegoltenheit Blochschen Denkens artikuliert oder artikulieren will, wird dies vom Standpunkt der Überlebenden des Tiananmen vom Juni 1989 aus leisten müssen, wenn Glaubwürdigkeit die eigene Rede prägen soll.

 

Anne Frommann, Welf Schröter (Hg.): Karola Bloch – Die Sehnsucht des Menschen, ein wirklicher Mensch zu werden, Reden und Schriften. Zwei Bände, Mössingen 1989.

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