Naturrecht und menschliche Würde

Arno Münster am 3. Dezember 2014 in Tübingen. (Foto: © Welf Schröter)

Arno Münster am 3. Dezember 2014 in Tübingen. (Foto: © Welf Schröter)

Es war ein unzweideutiges Plädoyer für die Freiheit des Menschen, die unter keinem politischen Vorwand und schon gar nicht durch den Avantgardeanspruch irgendeiner Partei eingeschränkt werden dürfe. Mit dieser Haltung eröffnete Arno Münster, der sich in seiner philosophischen Arbeit Ernst Bloch verpflichtet sah und sieht, im denkwürdigen Hörsaal Eins in der Neuen Aula der Tübinger Universität sein Werben um die Verteidigung der Würde des Menschen. Die Freiheit der Citoyenne und des Citoyen ist die Grundlage und Bedingung humaner gesellschaftlicher Emanzipation hin zur – wie Bloch es nannte – Genesis der Menschheit, die diese noch vor sich habe. Es gelte die kantianische Erbschaft in Blochs Denken hervorzuheben, der immer die Trikolore als Ausgangspunkt und Leitmotiv gesellschaftlicher Veränderung annahm. 

Ernst Bloch habe – so Arno Münster – in seinen Isolationsjahren in der DDR zwischen 1957 und 1960, in denen die SED den rebellischen Denker zum Schweigen bringen wollte, sein wichtiges Buch „Naturrecht und menschliche Würde“ verfasst und später in der Bundesrepublik veröffentlicht. Das Werk – so Münster – müsse heute neu gelesen werde. Es habe unabgegoltene Aktualität wie insgesamt der Blochsche Naturrechtsgedanke. 

Bloch, der in den dreißiger Jahren gegen den Protest der aktiven Hitlergegnerin Karola Bloch, seine Wertschätzung Stalins veröffentlichte, hat in diesem Werk faktisch den Stalinismus wie auch den Leninismus kategorial seziert und abgelehnt. Das Buch muss als radikale Kritik am diktatorischen Regime Ulbrichts gelesen werden. Rudolf Bahro konnte später mit seiner „Alternative“ darauf aufsetzen. 

Arno Münster stellte Ernst Bloch in die Tradition des Denkens des französischen Kriegsgegners Jean Jaurès, der vor 100 Jahren zu Beginn des Ersten Weltkrieges einem politischen Attentat zum Opfer fiel. Auch Jaurès sah im Dokument der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ das Schlüsseldokument europäischer Freiheitsbestrebungen.

„Es gibt kein richtiges 1917 ohne ein richtiges 1789“ (Arno Münster).

 

 

Das Digitale als Allianz zwischen Mensch und Technik?

Klaus Kornwachs am 29. November 2014 auf Einladung des Forum Soziale Technikgestaltung im Ernst-Bloch-Zentrum in Ludwigshafen am Rhein (Foto: © Welf Schröter)

Klaus Kornwachs am 29. November 2014 auf Einladung des Forum Soziale Technikgestaltung im Ernst-Bloch-Zentrum in Ludwigshafen am Rhein (Foto: © Welf Schröter)

Vor einem übergroßen Porträt des Philosophen Ernst Bloch eröffnete der blochkritische Technikphilosoph Klaus Kornwachs seine nachdenkliche Rede über „Industrie 4.0 – Ungleichzeitigkeit und Allianztechnik“ mit einem Bloch-Zitat aus dem „Prinzip Hoffnung“: „Unsere bisherige Technik steht in der Natur wie eine Besatzungsarmee im Feindesland und vom Landesinneren weiß sie nichts, die Materie der Sache ist ihr transzendent.” 

Nach ausgiebiger Analyse ökonomischer und produktionstechnischer Tendenzen der letzten Jahre wandte sich der technikaffine Redner den prognostizierbaren Auswirkungen von „Industrie 4.0“ zu. Bezugnehmend auf den Titel der Tagung „Identität in der Virtualität“ in der Reihe „Arbeitswelt trifft Philosophie – Philosophie trifft Arbeitswelt“ wagte er eine anspruchsvolle These zur Notwendigkeit neuer Wege der Technikgestaltung im Hinblick auf die heraufziehende Logik von „Industrie 4.0“: „Das Entstehen von Fachkräftemangel und Sockelarbeitslosigkeit durch Anpassungsprobleme an gestiegene Qualifikationsanforderungen ist nicht nur eine Herausforderung an die Ökonomie und Wirtschaftspolitik (Politische Ökonomie), sondern auch an die Technikgestaltung und die Innovationsfähigkeit.“ (Kornwachs)

Kern der Überlegungen Kornwachs‘ ist die Annahme, dass die neue Generation digitaler Software und leistungsfähiger Netze die Widersprüche zwischen Mensch und Technik weniger vertiefen sondern eher aufheben helfe. Er setze auf eine Vermittlungsfunktion des Digitalen, die eine neuartige, durchaus kreative Allianz zwischen Mensch und Technik möglich mache.

Die Transformation der Arbeit geschehe dabei unter den Bedingungen gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und technologischer Ungleichzeitigkeit. Kornwachs: „Außerdem lösen die technischen Möglichkeiten nicht nur die klassischen Vorstellungen von Arbeitsort und Arbeitszeit und Identität auf, sondern es gibt jetzt schon eine breite Koexistenz völlig unterschiedlicher Formen von Arbeitsorganisationen und Formen von Arbeitsteilung nebeneinander, die miteinander zu vermitteln durch die IKTs immer besser ermöglicht wird, für den Einzelnen aber undurchschaubar ist.“ 

Blochs Allianzverständnis müsse daher aktualisiert und in Kritik am Hegelschen Arbeitsbegriff weiterentwickelt werden.

 

 

Von der Singularität des Menschen zur Singularität der Maschine

(Foto: © Welf Schröter)

(Foto: © Welf Schröter)

Aus dem Kreis der IT-Szene Kaliforniens kommen seit geraumer Zeit neue Thesen. Es heißt, bis zum Ende des 20. Jahrhunderts habe die Technikentwicklung die Begrenzung des Menschen auf sein biologisches Dasein konfirmiert. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts aber sei ein neuer Menschheitstraum auf die Bühne getreten. Die Singularität des Menschen werde von der Singularität der Technik abgelöst. In rund einem Jahrzehnt sei die Computertechnik soweit, ein Menschliches Gehirn abzubilden. In drei bis vier Jahrzehnten werde die Leistungsfähigkeit des organischen Gehirns durch ein technisches Gehirn um das millionen- bis milliardenfache überflügelt.Kern des Traums ist nicht die Ersetzung des Gehirns durch ein technisches Artefakt, sondern die Kombination von organischer mit anorganischer Materie.

Die Informationstechnik sieht sich nicht mehr als Gegenstück zum Menschen sondern als dessen verewigendem inneren Bestandteil. Zwischen Google, Facebook und Apple kreist eine Diskussion unter dem Namen Transhumanismus. Die Verschmelzung des Menschen mit der IT-Technik.Der Traum sieht nicht nur die Verlängerung der Existenz von Informationstechnik, sondern den Ausbruch des Menschen aus seiner biologischen Begrenztheit vor. Der Paradigmenwechsel liegt nicht in der Humanisierung des Menschen sondern in der Humanoidisierung der Maschine.

Dabei greifen die Apologeten des Transhumanismus auf philosophische Traditionen zurück. “Denken heißt Überschreiten” formulierte einstens Ernst Bloch. Die Transhumanisten wollen überschreiten. Sie überschreiten jedoch die humane ethische Dimension menschlicher Kultur. Der Rückgriff in Silicon Valley auf Bloch und Adorno mag verblüffen. Es ist ein Fehlgriff. Denn beide Denker haben ihre Utopie-Kontroverse stets als Veredelung des Menschen nicht als Veredelung von dessen technischer Kopie verstanden. Transhumanismus ist nicht die Fortführung der “konkreten Utopie” des Menschen sondern dessen Verkehrung in eine algorithmische Ultima Ratio.

Die philosophische Kontroverse in Europa hinkt dieser Debatte weit hinterher. Es bedarf eines öffentlichen gesellschaftlichen Diskurses über die Zukunft des Menschenbildes. Die Idee, den religiösen Ewigkeitsanspruch technisch humanoid zu realisieren, offenbart dialektisch eher die Forderung nach einer Aufhebung in einer – nach Bloch – sozialen Genesis statt der körperlichen Abstraktion der biologischen Endlichkeit. Der Traum der Unendlichkeit im Jenseits will sich informationstechnisch in einen Traum der Unendlichkeit im Diesseits verwandeln.

Vor kurzem warf ein Wissenschaftler in einem renommierten Forschungsinstitut provokativ ein, der Mensch sei ohnehin nur “ein Datum”. Damit war nicht die zeitliche Perspektive sondern die numerische gemeint. Der Mensch als quantifizierende Summe aus Informationen und Daten. Sicherlich lässt sich die menschliche Existenz auch als “Datum” beschreiben. Jedoch lässt sie sich nicht darauf reduzieren.

Schon einmal versuchten Anhänger der “Vorsehung”, Menschen nur auf ein numerisches Datum, eine mehrstellige Zahl zurückzuführen. Sie wurde in die Haut eingefügt. Die Überlebenden trugen sie als Zeichen bis an ihr Lebensende. Die Reduktion des Menschen auf sein “Datum” wäre Grundlage einer inhumanen Gesellschaft. Eine Anti-Utopie.

 

Eine nicht gehaltene Rede in der Nikolaikirche Leipzigs

Fünfundzwanzig Jahre nach dem von Montagsdemonstranten erfolgreich eingeleiteten Sturz des SED-Regimes in der DDR ist es Zeit an einen historischen Moment zu erinnern, der mit großen Emotionen vorbereitet wurde und doch nie stattfand. Es geht um eine nicht gehaltene Rede in der Leipziger Nikolaikirche.

Leipziger Nikolaikirche (Foto: © Welf Schröter)

Leipziger Nikolaikirche (Foto: © Welf Schröter)

In Tübingen fanden sich schon vor 1989 immer wieder prominente DDR-Kritiker ein, die von der StaSi bedrängt, verfolgt und letztlich aus ihren Wirkungsstätten zwangsweise ausgebürgert wurden. Karola Bloch empfing Rudolf Bahro (1935-1997), Jürgen Fuchs (1950-1999), Jürgen Teller (1926-1999) und viele mit weniger bekanntem Namen. Auch Lew Kopelew (1912-1997) und Vertreter der im polnischen Untergrund tätigen Gewerkschaft Solidarnosc traf die Architektin, Bauhausanhängerin und Antifaschistin in der Neckarstadt.

Mit großer Sympathie und Herzblut verfolgte Karola Bloch im Frühjahr, Sommer und Herbst des Jahres 1989 die Ereignisse in Leipzig. Sie stand unzweideutig auf der Seite des „Neuen Forum“ und der Montagsdemonstranten. So war es ihr eine Freude, nach dem damaligen November das Leipziger „Haus der Demokratie“ mit einer besonderen Buchspende zu unterstützen. Auf Wunsch der dortigen „Initiative für Demokratie und Menschenrechte“ sandte sie eine Gesamtausgabe der Werke Ernst Blochs für die öffentliche Bibliothek des Hauses. Die Leipziger bedankten sich: „Da es in der DDR sehr schwer ist, an die Bloch-Gesamtausgabe heranzukommen, sie ist nicht einmal in der Leipziger Universitätsbibliothek zu lesen, freut uns ihr Besitz umso mehr. Unsere Bibliothek wird von sehr vielen Leuten frequentiert, so dass sie dort allen Interessenten zur Verfügung steht.“

Wochen zuvor saßen in Leipzig Vertreter des „Neuen Forum“, von „Demokratie Jetzt“ und der örtlichen Friedensgruppe sowie einem Gast aus Tübingen im Büro von Pfarrer Christian Führer (1943-2014) zusammen. Es sollte eine Rede und Lesung Karola Blochs (1905-1994) in der Nikolaikirche im Frühjahr 1990 vorbereitet werden. Jürgen Teller, als früherer – von der StaSi verfolgter – Bloch-Assistent war als einleitender Referent vorgesehen. Die Leipziger Bürgerbewegungen wollten zu dieser Veranstaltung einladen.

Karola Bloch war von dieser Einladung sehr berührt. Sie wollte sie annehmen und sich auf die Seite der Demokratie „von unten“ stellen. Doch zu diesem Auftritt kam es nicht. Ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich. Die 85-Jährige konnte nicht reisen. Ein besonderer Moment in Leipzig fand nicht statt. Dieser konnte auch nicht mehr nachgeholt werden.

Schon im Herbst 1989 hatte Jürgen Teller, dem die DDR-Regierung seinen wissenschaftlichen Werdegang zerstörte, nach Tübingen geschrieben: „Karola, […], fehlt uns heute in Leipzig.“

Lesehinweis: Welf Schröter: Utopie und Moral. In: Francesca Vidal (Hg.): Wider die Regel. Mössingen 1991. S. 53-69. ISBN 978-3-89376-015-2

Das „Alte Herkommen“

Manchmal kommt es vor, dass ein lesender Kopf neugierig in den Bann eines Begriffes gezogen wird. Es scheint, als ob Worte beginnen, Geschichten zu erzählen. Der erste Blick löst Gedanken aus und aktualisiert Erinnerungen. Vergangenes kommt zurück. Das eigene Selbst sucht nach Offenem, nach Uneingelöstem.

(Foto: © Welf Schröter)

(Foto: © Welf Schröter)

Das „Alte Herkommen“ ist ein solches Wort. Das erste Lesen assoziiert zu „Herkommen“ umgangssprachlich den Begriff „Herkunft“. Doch halt! Die Worte sind vielschichtig und tragen verschiedene Zeiten in sich.

Vor 500 Jahren beschrieb das „Alte Herkommen“ die sozialen und wirtschaftlichen Gewohnheitsrechte der armen Bauern. „Altes Herkommen“ bemaß das Recht, Holz im Wald des herrschenden Adels zu schlagen, um selbst in der bäuerlichen Hütte den Winter warm zu überdauern. Das „Alte Herkommen“ galt als alter verlässlicher Brauch, der Rechte regelte.

Als nun Grafen und Herzöge den Bauern das Recht, Holz zu sammeln, wegnahmen, ihnen ihr angestammtes „Altes Herkommen“ entrissen, erhoben sich die Untertanen aus prekärer Lage zum Widerstand. Sie fanden sich unter dem Leitmotiv „Armer Konrad“ zusammen.

Der Bruch des vereinbarten „Alten Herkommens“ durch die Herren löste Verelendung, Kälte und Armut aus. Bäuerlicher Untertan zu sein, wurde nun zugleich Zeichen der Herkunft des „gemeinen Mannes“.

Heute birgt das Wort „Altes Herkommen“ ungleichzeitige Erbschaften in sich. Es erinnert an bäuerlich-aufständische Freiheitshoffnungen der Jahre 1514 und 1525 im Herzogtum Württemberg. Zugleich beleuchtet es die Niederschlagung der demokratischen Bewegung durch Burgherren und städtische Patrizier.

450 Jahre später ließ sich Ernst Bloch zu dem Kommentar hinreißen: „Die Enkel fechtens besser aus!“

 

Die Bewegung des „Armen Konrad“

(Foto: © Welf Schröter)

(Foto: © Welf Schröter)

Es war ein Bauernaufstand im Sommer des Jahres 1514, der dem großen Bauernkrieg 1525 im Südwesten vorausging. Unter der Chiffre „Armer Konrad“ rebellierten im Herzogtum Württemberg darbende Bauern gegen die adelige Obrigkeit. Die Bewegung des „Armen Konrad“ verlangte erst Essen gegen den Hunger, dann Gerechtigkeit. Als die Grafen und Herzöge dies verweigerten, wollten die Bauern aus dem Remstal und aus dem Böblinger Raum den Sturz der Herrschaft. Mit Gewalt, Folter und Gerichten wurde der Aufstand niedergemacht.

Fünfhundert Jahre später erinnern Bürgerinnen und Bürger der kleinen Gemeinde Glashütte nahe der schwäbischen Gemeinde Waldenbuch an jene Aufständischen, die als Glashütter Bauern des „Armen Konrad“ von der Justiz des Adels umgebracht wurden.

Aus der Perspektive der Rebellen beschreiben heute Bürgerinnen und Bürger die aufrührerische Geschichte ihres Ortes. Ein öffentlicher Platz wurde vom Gemeinderat in Respekt vor den demokratischen Bauern von einst in „Platz des Armen Konrad“ benannt. Dort steht ein Schild mit besonderer Aufschrift:

„Peter Wolff, Bernhard Wolff, Caspar Schmid und Peter Koch aus Glashütte, dazu Hans Schmeck aus Waldenbuch und Jörg Legolo aus Stuttgart starben als Teilnehmer am Bauernaufstand Armer Konrad durch das Schwert auf der Hauptstätte zu Stuttgart am 9. August 1514. Sie waren ihrem Traum von der besseren Gerechtigkeit gefolgt.“

(Foto: © Welf Schröter)

(Foto: © Welf Schröter)

In der Bewegung des „Armen Konrad“ hatten sich gleichwohl auch Frauen organisiert: „Sie zihet ihre Stiffel an und rüstet sich gleich wie ein Mann.“

Wie rief doch vor Jahren der Philosoph Ernst Bloch energisch von der Kanzel: „Wohlan, ich will aufrührerisch sein!”

 

Authentizität der anderen Privatheit

Die Frage nach der Zukunft des Ich schaffte es auf die Titelseite der WIRED. „Es spricht mehr dafür, dass wir im Netz authentischer sind.“ Mit diesem Satz des Oxforder Philosophen und Informationsethikers Luciano Floridi bricht eine Kontroverse neu auf, die das „virtuelle Ich“ gegen das „biografische Ich“ zu stellen versucht.

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In der WIRED-Ausgabe des Oktober plädiert Google-Berater Floridi für eine Neubewertung des Privaten: „Darum dreht sich ja die Frage nach der Privatsphäre: nicht um Informationen, die wir besitzen, sondern um Informationen, die wir SIND.“ Als Ethiker warnt er davor, eine Kultur zu forcieren, die vortäuscht, man könne im realen Leben auch mit der Löschtaste Geschehenes ungeschehen machen.

WIRED-Journalist Joachim Hentschel spitzt die Position des amerikanischen Philosophen Patrick Stokes zu. Dieser erklärte, es sei das Verdienst der sozialen Online-Netzwerke, dass sie die Differenz der „sozial konstruierten öffentlichen Identität“ und dem „ich, das sich als Subjekt der eigenen Erfahrung wahrnimmt“, erst „anschaulich“ mache. Hentschel fragt lakonisch, ob wir nun Descartes‘ ,Ich denke, also bin ich‘ ersetzen sollen durch ,Ich googelte und fand mich‘.

In dieser etwas ironischen Gegenüberstellung findet sich aber ein wesentlicher Aspekt, nämlich der des Zeitprozesses. Das Erleben des echtzeitig gegoogelten Ich ist ein gegenwärtig-zeitgleiches Wahrnehmen von Daten und Bildern. Im Denken des Menschen vollzieht dagegen sich die Berücksichtigung des Vorzeitigen und des Ungleichzeitigen. Eine Suchmaschine hat kein Bewusstsein. Bewusstlosigkeit versus Bewusstsein. „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“ (Ernst Bloch)

 

 

Lobo entdeckt Bloch

Er gilt als kluger Selbstvermarkter und selbsternannter Internetexperte: Sascha Lobo, Journalist, Autor, Blogger und Marketinghelfer großer Konzerne. Seit jüngster Zeit schreibt er sich als Spiegel-Online-Autor ins Netz ein. Stets sucht er neue Schlagworte – bei sich und anderen –, um sich in der heißen Hektik von Tweets und Blogs „vorne“ zu halten. Nach Jahren der Netzkritik, des Ringens um Datenschutz und Datenhoheit sowie der Kritik an der Netzpolitik entdeckt Sascha Lobo nun den Philosophen Ernst Bloch. Besser müsste man sagen, er schließt sich einer Entdeckung an.IMG_6683

In den neunziger Jahren startete der Diskurs „Arbeitswelt trifft Philosophie – Philosophie trifft Arbeitswelt“ mit Wissenschaft, Unternehmen, Gewerkschaften und Philosophen als Initiative des Netzwerkes Forum Soziale Technikgestaltung unterstützt vom Ernst-Bloch-Zentrum. Kernthese des weit über zehn Jahre laufenden Diskurses ist die Hinwendung zum Begriff „Ungleichzeitigkeit“ aus Blochs Werk „Erbschaft dieser Zeit“.

Die weitreichenden Veränderungen und Transformationen der Arbeitswelt durch den Einsatz moderner Informations- und Kommunikationstechniken führ(t)en zu grundlegenden Brüchen im Verständnis von Arbeit: Das Entstehen „neuer Infrastrukturen der Arbeit“ wurde in diesem Diskurs mit dem kategorialen Blochschen Hilfsmittel der „Ungleichzeitigkeit“ analysiert und gefasst. Die Ergebnisse des Diskurses sind in mehreren Publikationen wie „Gestaltete Virtualität“ und „Identität in der Virtualität“ sowie in mehreren „Bloch-Jahrbüchern“ nachlesbar.

In der Sonntagnachtausgabe (19. Oktober) der ZDF-Philosophie-Sendung von Richard David Precht hat nun auch der SPIEGEL-Blogger Sascha Lobo das Thema aufgegriffen und Blochs Begriff der „Ungleichzeitigkeit“ als einen wichtigen Schlüssel zur Betrachtung der „Zukunft der Arbeit“ gewertet. Damit hat er dem Thema eine enorme zusätzliche Öffentlichkeitswirkung eingeräumt.

Sascha Lobo hält in Kürze die zweite „Zukunftsrede“ im Ernst-Bloch-Zentrum (www.bloch.de) in Ludwigshafen am Rhein. Es wäre ein Gewinn, würde sich Sascha Lobo in einen seit Jahren bestehenden Diskursprozess einvernetzen.

 

Die Zukunft des Ich

Der Diskurs über „Identität in der Virtualität“, wie er seit mehreren Jahren im Spannungsverhältnis von sozialer Technikgestaltung und Blochscher Philosophie geführt wird, bekommt nun von prominenter Seite weiteren Rückenwind.ZukunftICH

Bisherige Grundlage der laufenden Debatte ist die These, dass der Begriff der „Identität“ in der E-Society sich aus dem Konvergieren von biografischer und virtueller Identität neu entwickelt. Für die Kontroverse um „Industrie 4.0“ bedeutet dies, dass Identität zu einem zivilgesellschaftlichen Schlüsselthema der Transformation der „Wissensgesellschaft“ wird: Die Einflüsse und Chancen der „virtuellen Identitäten“ und ihre Rückwirkungen auf das „biografische Ich“ erfordern einen ganzheitlichen Blick und ein auf Ganzheitlichkeit angelegtes Gestaltungskonzept. (Schröter)

Die deutsche Oktober-Ausgabe der IT-Zeitschrift „WIRED“ stellt die Frage nach der Zukunft des „Ich“ und meint: „Soziale Netzwerke und Internet of Things verändern die menschliche Identität radikal.“

Joachim Hentschel sieht die „Technologie als Krücke der Ich-Konstruktion“ und das digitale Ich als „ein Backup der eigenen Persönlichkeit“: „Dass die Ich-Digitalisierung heute noch so oft als Dystopie und Bedrohung verstanden wird, hat aber wohl weniger mit der Angst vor dem Datenmissbrauch zu tun. Eher mit einem verbreiteten bürgerlichen Konzept von Authentizität, in dem das Technische, Virtuelle, Nicht-Körperliche per se als weniger maßgeblich gilt.“ Hentschel warnt – in seiner Sicht immanent konsequent – davor, „Online- und Offline-Ich zu apodiktisch zu trennen.“

Zweifellos steckt in seinem Hinweis auf besagte Authentizität ein richtiges Argument. Das „Virtuelle Ich“ wird in seiner Bedeutung und Wirkungsweise noch immer unterbewertet. Jedoch unterschätzt der Autor das gewachsene soziale und kulturelle Gewicht der Entstehungsgeschichte des „biografischen Ichs“. Das Humanum kann technisch ergänzt, nicht aber ersetzt werden. In Hentschels Prognose steckt zuviel transhumanistischer Perspektive.

 

Vergesellschaftung statt Vermassung

„Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“ Diesem Kernsatz Ernst Blochs folgte der Journalist und Autor Peter Zudeick bei seinem äußerst anregenden Vortrag „Individuum und Veränderung“ bei der Tagung „Vom Ich zum Wir“ in Rottweil, der ältesten Stadt Baden-Württembergs. In seinem Streifzug durch die Philosophiegeschichte von Aristoteles über Nietzsche bis hin zu Bloch unterstrich der Bloch-Schüler, dass die Sozialität des Menschen Grundlage seiner Besonderheit sei, nicht das Resultat.

(Foto: © Welf Schröter)

Peter Zudeick (Foto: © Welf Schröter)

Das menschliche Selbstbewusstsein bilde demnach das Produkt seiner Sozialität, das Produkt seiner Interaktion mit anderen. Die Perspektive liege hierbei auf Vergesellschaftung nicht auf Vermassung, wenn aus dem „Ich“ ein „Wir“ werden solle. Das „Ich“ sei vom „Wir“ nicht zu trennen. Zwischen beiden bestünde ein unauflöslicher Zusammenhang. Selbstverwirklichung könne ohne die soziale Dimension des „Wir“ nicht erreicht werden. Die Fähigkeit, über sich hinaus zu denken, schaffe die Potenziale zur Veränderung.

Nach Bloch heiße Mensch-Sein, konkrete Utopien zu entwickeln. Jeder folge seinen Bedürfnissen so, dass das gesellschaftlich Gemeinsame Zukunft habe. Dabei erinnerte Zudeick an Karl Marx: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen.

Dem stehe die ideologische Reduzierung des Menschen als „homo oeconomicus“ entgegen, die Rationalität nur als Rationalität des wirtschaftlichen Systems, des Marktes begreifen wolle, gleichsam als Wirken einer „unsichtbaren Hand“.

Der Fortschritt der menschlichen Gesellschaft basiere nicht primär auf dem Individuum, auf dem Ego oder dem Egoismus, sondern vor allem auf der Fähigkeit zur sozialen Kooperation. Der Thatcherismus habe dagegen die Existenz der Gesellschaftlichkeit verneint und das Individuum emporgehoben.

Es gehe aber – so Zudeick – um das Erkennen des Vorhandenen und um dessen Veränderung: „Denken heißt Überschreiten“ (Bloch). Es gehe um Alternativen, um Bewegungen von unten, um Vernetzung der Basisbewegungen. Die Gesellschaft müsse sich zurückholen, was der Staat ihr abgenommen habe.

Vor diesem Hintergrund sei es Aufgabe der Bürgerinnen und Bürger selbst, Neues zu denken und auf den Weg zu bringen. Dies könne man von der etablierten Politik nicht erwarten. „Wichtige Entscheidungen gehören nach unten“ (Zudeick).