Blochs Begriff der Ungleichzeitigkeit als Möglichkeit zur Verteidigung der Demokratie

Blochs Begriff der Ungleichzeitigkeit als Möglichkeit zur Verteidigung der Demokratie. Ein Impuls anlässlich des 47. Todestages von Ernst Bloch am 4. August 2024

„Ja, ich will aufrührerisch sein!“ Mit diesem Satz solidarisierte sich Ernst Bloch mit jenen Bürgerinnen und Bürgern, mit jenen Citoyennes und Citoyens, denen die bundesrepublikanische Gesellschaft nicht demokratisch genug war, denen das Verfassungsversprechen zu wenig Verfassungsrealisierung einlöste. Blochs Kritik an der Demokratie war keine Ablehnung des Demokratischen sondern eine Forderung nach der Demokratisierung der Demokratie. Darin unterscheidet sich Blochs Gesellschaftskritik grundlegend von jenem politischen Denken, das zur Dialektik nicht willens ist oder sich intellektuell ermüdet von dieser zurückzieht. Neben dem juristisch angelegten Regelungswerk unserer Gesellschaft, die sich allzu oft in positivistischer Haltung nur dem Formalen zuwendet, bedarf es einer materialistischen Analyse der Hemmnisse von angestrebten Demokratisierungen. In dieser Verknüpfung von dialektischem und materialistischem Denken ist Blochs Begriff der „Ungleichzeitigkeit“ zuhause. In der aktuellen Kontroverse um die Verteidigung der Demokratie gegen autoritäre und illiberale Bestrebungen bietet Blochs Ansatz ein wichtiges Instrument zur Förderung einer reflektierenden Bewusstseinsarbeit.

Die Verteidigung des Demokratischen wird möglich als Folge rationalen Kommunizierens und als Folge der Analyse von ungleichzeitigem Bewusstsein. Unser Denken, unser Bewusstsein trägt bewusst und unbewusst Unabgegoltenes und nicht aufgehobene Vergangenheit mit sich. Ein Beispiel: Unsere Eltern und Großeltern gaben in Worten, Gesten und Körpersprachen die NS-Erziehung an Kinder und Kindeskinder weiter. Rollenbilder von Männern und Frauen wurden in der Psyche der Menschen verankert. Die Revolte der Achtundsechziger, die Frauenbewegungen, die Emanzipationsbewegungen haben diese „Erbschaft“ praktisch aufgegriffen und bewusster Veränderung zugänglich gemacht. Ungleichzeitigkeit wurde bewusst erfahrbar und aufhebbar.

Doch in der Revolte der Kinder gegen ihre NS-Eltern blieb oftmals ein anderes ungleichzeitiges Fragment zu wenig geortet. Es ist die zu gering aufgeklärte Latenz des Nationalen. Es ist ein noch immer vorhandenes Fühlen und Agieren als vermeintlich nationales Bewusstsein. Das nationalistische Denken in Europa ist deutlich älter als die NS-Zeit. Nationales Handeln war im 19. Jahrhundert Ausdruck demokratischer Opposition gegen Fürstengewalt. Die Verstaatlichung des Nationalismus kippte das Emanzipatorische „Von-unten“ ins Wilhelminische „Von-oben“.

Im Prozess der Verteidigung der Demokratie gegen jene, die Nation, Religion und Herkunft über die Verfassungs- und Menschenrechte stellen wollen, hilft die Blochsche Perspektive des ungleichzeitigen Bewusstseins, um das Universalrecht des Menschen als Individuum dem Völkisch-Nationalen entgegenzusetzen. Gerade in der Auseinandersetzung über den russischen Angriff auf die Ukraine und über den Hamas-Angriff vom 7. Oktober scheinen unabgegolten alte Bewusstseinsstufen auch in aufgeklärt kritischen Diskursen unaufgehoben zu wirken. Dabei bleibt festzuhalten, dass der blutige Überfall der Hamas mit den Massenvergewaltigungen und den Entführungen in keiner Weise zu rechtfertigen ist.

Wir alle wissen, es gibt nicht „die“ Deutschen, „die“ Schwaben, „die“ Christen. Warum aber gibt es im vermeintlich linken Diskurs „die“ Palästinenser und „die“ Israelis. Warum gibt es „die“ Russen und „die“ Ukrainer? Mit diesem alten Denken verteidigt man keine Demokratie. Man schwächt sie. Dagegen sollte gelten: Entlang des Denkens von universalistischen Menschen- und Demokratierechten müssen wir nach Demokratinnen und Demokraten in Rußland, in der Ukraine, in Israel und in Palästina fragen. Nicht die Nationalflagge bedeutet Zukunft sondern das Bekenntnis zu wahrhafter Demokratie.

Wer heute zu Recht und notwendigerweise zur Verteidigung der Demokratie aufruft, darf sich nicht scheuen, sich selbst zu hinterfragen: Wieviel undemokratisches oder gar antidemokratisches Bewusstsein tragen wir ungeklärt in uns, wenn wir über Israel oder Palästina reden? Wollen wir nationales Denken stärken oder wollen wir die Demokratie voranbringen? Statt den nationalistischen Parolen für oder gegen Israel, für oder gegen Palästina, benötigen wir eine Solidarität mit all jenen Frauen und Männern in Israel und in Palästina, die gemeinsam für eine demokratische Zivilgesellschaft im universalistischen Sinne eintreten. Es geht um die Gemeinsamkeit all jener, die für verfasste Menschenrechte und deren rechtsstaatliche Umsetzung ringen. Nationalflaggen helfen da nicht. Konkrete Hoffnungen und konkrete Utopien erbringen gerade jene Ansätze, die bewusst das Nationale überschreiten.

In unserem eigenen Denken herrscht noch viel Ungleichzeitiges. Oftmals tragen wir – ohne richtig zu überlegen – alte Parolen aus der Zeit der Befreiungsbewegungen vergangener Jahrzehnte in die Gegenwart. Haben wir nicht gelernt, dass militärisch geführte nationalistische Befreiungsbewegungen das Nationale über die Demokratie stellen? Haben wir Mugabe, Gaddafi und Ortega vergessen? Wollen wir wirklich im Geiste der Hamas die Religion über dem Menschenrecht einstufen? Für die Frauenbewegung im Iran gegen die Mullahs stellt die Hamas eine frauenfeindliche, rechtsradikale und religiös-autoritäre Organisation dar. Ist diese plötzlich für uns eine Demokratiebewegung, nur weil sie mit Koran-Parolen gegen das Unrecht der israelischen Besatzung auftritt?

Wenn von uns gefordert wird, wir sollten uns zwischen der israelischen und der palästinensischen Flagge entscheiden, sollten wir zurückfragen, welche gemeinsamen israelisch-palästinensischen und palästinensisch-israelischen zivilgesellschaftlichen Demokratie-Projekte solidarisch unterstützt werden können.

Doch auch die unabdingbare Aufarbeitung des Kolonialismus und dessen Folgen benötigt Selbstreflexion. Ist nicht der anti-kolonialistische kritische Diskurs selbst noch mit den Muttermalen des Kolonialismus infiziert? Muss nicht im Prozess der Kritik auch das Nationale der Kritik selbst der Kritik unterzogen werden? Mit Bloch könnten wir sagen: Es bedarf nicht nur der Negation sondern auch dialektisch der Negation der Negation. Nationalismus ist keine passende Antwort auf Kolonialismus und Imperialismus. Nationalismus ist ebenso keine adäquate Antwort auf terroristische Verbrechen.

Gesellschaftspolitische Interventionen im Sinne der Demokratie fußen auf der Analyse komplexer Zusammenhänge und entsprechender Kompetenz. Der Tübinger Philosoph Helmut Fahrenbach fasste die Herausforderung in seinem Buch „Philosophie kommunikativer Vernunft“ in seine Worte:

Der spannungs- und konfliktreich „vernetzten“ Weltlage kann nur ein Denken und Handeln gerecht werden, das die Disparitäten und Spannungen zwischen Einheit und Differenz, Allgemeinem und Besonderem, Macht und Abhängigkeit durch eine die Verbindung und Verschiedenheit in der gegenwärtigen Welt zugleich wahrende und vermittelnde Sicht theoretisch zu erfassen und praktisch zum Abbau bzw. Ausgleich zu bringen versucht. Zur Klärung der damit gestellten Aufgaben ist auch Philosophie vonnöten, freilich nicht irgendeine, sondern eine Philosophie kommunikativer Vernunft, für die das dialektische Verhältnis von Einheit und Vielheit, Allgemeinem und Besonderem eine zentrale Reflexionsaufgabe darstellt und dies insbesondere im Hinblick auf die Ermöglichung der Verständigungs- und Kooperationsprozesse, die für die Entwicklung und den Bestand einer humanen, ausgleichenden Welteinheit in einer sozio-kulturell pluralistisch und politisch-ökonomisch disparat verflochtenen Weltgesellschaft notwendig sind. (Fahrenbach)

Verteidigung der Demokratie bedeutet, in kommunikativer Vernunft den Wert universaler Menschenrechte über den Wert des Nationalen zu setzen. Nicht umgekehrt. Das ungleichzeitige Bewusstsein in uns und in unseren Diskursen bedarf der Aufklärung und der dialektischen Aufhebung. In diesem Sinne ist uns das Denken des vor 47 Jahren am 4. August 1977 gestorbenen Ernst Bloch noch immer voraus.

Die Rückkehr des letzten Jahrhunderts

Letzte Überlebende des französischen Widerstandes gegen Hitler erinnern in einer elsässischen Stadt 2015 an das Kriegsende 1945. (Foto: © Welf Schröter)

Letzte Überlebende des französischen Widerstandes gegen Hitler erinnern in einer elsässischen Stadt 2015 an das Kriegsende 1945. (Foto: © Welf Schröter)

Ein Vierteljahrhundert nachdem die deutsch-deutsche Mauer durch demokratische Basisbewegungen von der Ostseite her endlich zum Einsturz gebracht wurde, regt sich in der bundesdeutschen Politik der rückwärtsgewandte Geist des Nationalen. Nicht marginale Gruppierungen am rechten Rand der Gesellschaft, nicht antieuropäische Tendenzen in politisch links stehenden Einzelströmungen geben Anlass zu prioritärer Sorge, sondern die Rückkehr des Nationalen in den Köpfen christdemokratischer Spitzenpolitiker inmitten der Bundesregierung provozieren das Gespenst des „hässlichen Deutschen“. Es offenbart sich ein Nationalismus des bürgerlichen Zentrums.

Die antieuropäischen Ausfälle reißen jene Vertrauensarbeiten ein, die zivilgesellschaftliche Akteure aus Deutschland gegenüber den Partnern in Frankreich, Polen, Rußland und Italien – um nur eine Auswahl zu nennen – in den letzten Jahrzehnten mühsam geschaffen haben.

Man muss dem früheren Außenminister Joschka Fischer Recht geben, der in einem scharfen Essay in der Süddeutschen Zeitung die katastrophalen Verfehlungen des Berliner Finanzministeriums angreift, das sich anheischig macht, Außenpolitik monokausal aus der Finanzpolitik abzuleiten. Mit spitzer Feder seziert Fischer:

„Die Frage, welchen Weg das wiedervereinigte Deutschland im 21. Jahrhundert einschlagen wird – hin zu einem europäischen Deutschland oder zu einem deutschen Europa –, ist mitnichten eine Frage von Pathos oder gar der politischen Romantik, sondern die sehr harte, realpolitische, ja historische Grundsatzfrage für alle deutsche Außenpolitik schlechthin.“

Der Grund hierfür liegt für Fischer in einer nüchternen Erkenntnis aus deutscher Geschichte:

„Die ,Macht der Mitte‘ sollte nie wieder zur Gefahr für den Kontinent und für sich selbst werden. (…) Mehr noch: Die wirtschaftliche Stärke der europäischen Zentralmacht sollte, in Verbindung mit der Aussöhnung mit dem alten ,Erbfeind‘ Frankreich, diese in einen gemeinsamen europäischen Markt mit der Perspektive einer dereinst stattfindenden politischen Einigung Europas bringen.“

Bitter fügte Fischer seiner Schrift gegen den Bundesfinanzminister und auf dessen politischen Verhalten am 13. Juli 2015 anspielend hinzu:

„Zum ersten Mal wollte Deutschland nicht mehr Europa, sondern weniger, und das heißt im Klartext: die Verwandlung der Euro-Zone von einem europäischen Projekt quasi in eine deutsche Einflusszone. Man könnte sagen, dies ist die spezifische Form von ,Renationalisierung im europäischen Gewande‘.“

Mehr als ein Vierteljahrhundert nach der Aufhebung der Blockgrenzen in Zentraleuropa, der Integration der früheren „Warschauer-Pakt-Staaten“ in die Europäische Union und mehr als ein Jahrzehnt nach Einführung des Euro als eine möglichst alle und alles verbindende gemeinsame Währung versucht ein Christdemokrat den Weg der Europäisierung Europas und der Europäisierung Deutschlands zurückzudrehen. Hätte dieser Mann doch vor 1989 in Leipzig, Prag oder Warschau gelebt, er würde heute das kostbare Leitbild Europa mit größter Vorsicht ansprechen. Doch der Mann ohne historisches Gedächtnis will wieder eine tonangebende deutsche Rolle in einem deutschen Europa.

Ein solches Ansinnen ist gefährlich, gefährlich für die europäischen Partnerinnen und Partner sowie auch gefährlich für die hiesige Zivilgesellschaft. Wer hätte gedacht, dass man im Jahr 2015 die Europapolitik des Christdemokraten Helmut Kohl gegen die Anti-Europapolitik des Christdemokraten Wolfgang Schäuble verteidigen muss. Würde sich Schäuble doch an die Mahnungen von Vaclav Havel, Richard von Weizsäcker, Władysław Bartoszewski und Jacques Delors erinnern. Sie erkannten den hohen Wert der politischen Idee von Europa und deren uneingeschränkter Dominanz über Markt und Finanzen.

Der „historische Bruch“ (Fischer) in der deutschen Europapolitik erfolgt im siebzigsten Jahr der von den Alliierten ermöglichten Befreiung vom Nationalsozialismus. Dieser „Bruch“ wäre leichter korrigierbar, wenn er nicht jene Latenz des Nationalen, jene Latenz deutscher Selbstüberhöhung und jene Latenz unabgegoltener Erbschaften berührte und in erneute Bewegtheit versetzte. Es ist den Zivilgesellschaften in Frankeich und in Italien zu danken, dass sie sich dem erneuten Streben nach deutscher Dominanz entgegenstellen.

Schon vor beinahe einhundert Jahren hatte sich Ernst Bloch in seinem Werk „Geist der Utopie“ (1919) der Idee Europas zugewandt. Er warnte vor „den Golems des europäischen Militarismus“ und in einer weitsichtigen Äußerung erkannte er die Gefahr, die dann zum Zweiten Weltkrieg führte. Er schrieb:

„Welches ist denn das Vaterland des wahrhaft ausgebildeten christlichen Europäers? Im Allgemeinen ist es Europa, insbesondere ist es in jedem Zeitalter derjenige Staat in Europa, der auf der Höhe der Kultur steht. Jener Staat, der gefährlich fehlgreift, wird mit der Zeit freilich untergehen, demnach aufhören, auf der Höhe der Kultur zu stehen.“

Die Gedanken der Re-Nationalen heute verhalten sich zur Gegenwart ungleichzeitig. Sie stehen mit dem Rücken zur europäischen Zukunft. Sie verweigern sich dem Noch-Nicht Europas und wenden sich ab vom gemeinsamen zivilgesellschaftlichen, solidarischen und vielfältigen Tagtraum eines ganzen Kontinents.

Die Metamorphose der Kommunikation

© Foto: Welf Schröter

© Foto: Welf Schröter

Es war Alexander Kluge, der schon in seiner einschlägigen Edition „Chronik der Gefühle“ aus dem Jahr 2004 einen gut zu findenden Schlüsselsatz versteckte: „Die Kommunikation beruht auf Vertrauen, über das Ohr verknüpft.“ Er fügte hinzu: „Es funktioniert gegen alle Wahrscheinlichkeit.“

Wer vor mehr als einem Jahrzehnt – noch vor dem sich alsbald beschleunigenden Prozess der Informatisierung, Digitalisierung und Virtualisierung unserer Lebens- und Arbeitswelten – diese Aussage las oder hörte, fand schnell zu einem zustimmenden Kopfnicken. Heute aber sieht uns dieser Satz fremd, wenn nicht ver- und entfremdet an.Inzwischen hat der Einsatz der Informations- und Kommunikationstechniken den Kern dieser ohrbezogenen Analyse beinahe hinweggespült. An die Stelle der gleichzeitig-synchronen Kommunikation von Menschen zu Mensch ist inzwischen eine technisch reduzierte, zumeist asynchrone „Kommunikation“ von „Mensch zu Maschine“ und „Maschine zu Mensch“ geworden. Fachleute aus der Informatik und aus den Ingenieurwissenschaften bezeichnen einen zielgerichteten und strukturierten Datenaustausch nun als „Kommunikation“.

© Foto: Welf Schröter

© Foto: Welf Schröter

Der ganzheitlich kulturell-soziale Begriff Kommunikation, bei dem Menschen von Angesicht zu Angesicht, mit Worten, Gesten, Mimik, Augenkontakt und Körpersprache Botschaften austauschen, wird aus dem Zukunftsszenario „Industrie 4.0“ schrittweise ausgegrenzt. Statt nach Vertrauen in den Menschen fragen wir nach „Vertrauen“ in das IT-System. Der echtzeit-automatisierte, re-sychronisierte virtuelle Transaktionsraum will Daten durch Daten, Softbots durch Softbots, Maschinen durch Maschinen abprüfen lassen, um verlässliche Ergebnisse bzw. Befehle als „vertrauensvoll“ einordnen zu können, um die Bestätigung der Geschwindigkeit als Vertrauenssignal zu deuten.

Das Ohr im Klugeschen Sinne ist nicht mehr im Zentrum unserer Wahrnehmung. Im Hinblick auf unsere Medien- und Netznutzung stehen wir an der Schwelle zu einem gravierenden Wechsel: Bald wird die „Kommunikation“ im Netz mehrheitlich eine „Kommunikation“ zwischen Dingen, zwischen Geräten, zwischen materiellen und immateriell vorgespiegelten Gegenständlichkeiten sein.

In der zwischenmenschlichen Kommunikation vermittelt(e) die Sprache und die sie ergänzenden Ausdrucksformen den Vorschein, die Möglichkeit der Vertrauensbildung. Vertrauen wuchs durch sinnlich-körperliche Kommunikation. Die individuelle Identitätsarbeit für das Entstehen des eigenen Ichs realisierte sich vorwiegend entlang unseres kommunikationskulturellen Verhaltens. Der Sozialpsychologe Heiner Keupp spricht zu Recht von einer zu erreichenden Kohärenz: „Identitätsarbeit hat als Bedingung und als Ziel die Schaffung von Lebenskohärenz.“

Die paradigmatische Verschiebung des Schwerpunktes im öffentlichen Kommunikationsverständnis stellt nicht nur eine technische Herausforderung dar. Es ist vor allem ein ganzheitlich-kultureller Prozess, der die Erbschaft der bisherigen Errungenschaften humaner Sozialität in Frage stellt und das Unabgegoltene und Ungleichzeitige in der Ich-Werdung aufdeckt. Identität will in der Virtualität und aus der Virtualität entstehen. Die biografisch erworbene „Identitätskonstruktion“ (Keupp) konfrontiert sich mit dem virtuell modellierten Identitätsmanagement: „Biografisches Ich“ und „Virtuelles Ich“ (Schröter) beginnen sich zu polarisieren und fragmentieren die ungleichzeitige Identitätsarbeit. Das gesellschaftliche Werden und der Erwerb von solidarischer Sozialkompetenz stehen am Scheideweg angesichts der sich atomisierenden Identitäten im Netz.

Die zunehmenden Digitalisierungen von Arbeitswelten und Gesellschaft verlangen heute vor allem einen nichttechnisch ausgelegten Rückgriff auf unsere öffentlichen Emanzipationsmuster einer demokratischen Zivilgesellschaft. Lange war Blochs Diktum nicht so aktuell wie heute: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“ – Das „Wir“ gilt es zu betonen.

(Dies ist der 100. Beitrag im bloch-blog.)

 

Nous sommes Charlie Hebdo! – Wir sind Charlie Hebdo!

705558-uneafficheSolidarität mit den französischen Verlegern und Journalisten

Mit großer Trauer nimmt die Redaktion des bloch-blog Anteil an dem Leid der Angehörigen der ermordeten Journalisten und Verleger der französischen Zeitung „Charlie Hebdo“. Als Arbeitende des Wortes erklären wir uns solidarisch mit den Kolleginnen und Kollegen bei „Charlie Hebdo“. Wir sehen uns verbunden mit den landesweiten Protesten in ganz Frankreich zur Verteidigung der Meinungsfreiheit und der Pressefreiheit.

Die große Errungenschaft der „Französischen Revolution“ ist die Durchsetzung der Bürgerrechte als Citoyenne und Citoyen. Diese Erbschaft mit der Trennung von Kirche und Staat bildet die Grundlagen moderner Zivilgesellschaften nicht nur in Europa.

Wer das Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit angreift, will die Demokratie schädigen. Demokratie aber ist die Grundlage unseres Zusammenlebens in politischer Toleranz.

Mit der Aussage „Nous sommes Charlie Hebdo!“ – „Wir sind Charlie Hebdo!“ schließen wir uns den europaweiten und weltweiten Solidaritätsbekundungen an.

Wer versucht, Religion über die Demokratie zu stellen, will rückwärtsgewandte Unmündigkeit statt nach vorne gerichteter Aufklärung hin zu individueller Freiheit.

Wer versucht, Religion zu instrumentalisieren, um Menschen auszugrenzen und ihrer Rechte zu berauben, hat die Werte der Trikolore und die Werte des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus siebzig Jahre nach der Befreiung durch die Alliierten nicht verstanden.

„Unmündigkeit ist trotz größter zivilisatorischer und kultureller Entfaltung nach wie vor geblieben. Unsere Aufgabe ist es, unaufhaltsam aufzuklären, das Bewußtsein des Menschen wachzurütteln. Andere Waffen haben wir nicht.“ (Karola Bloch)

 

Warum Mandela nicht nach Tübingen kam

Textauszug Karola Bloch (Sehnsucht I, 142)

Wie Martin Luther King hatte auch Nelson Mandela einen Traum, einen Tagtraum. Mandela sah eine afrikanische Gesellschaft entstehen, die er hoffend als „Regenbogen-Nation“ bezeichnete. Ähnlich wie Kings Traum von der gemeinsam-wechselseitigen Emanzipation von Schwarz und Weiß in den USA.

Mandela war Jurist. Er war in seiner Wahrnehmung den gesellschaftlichen Prozessen weit voraus. Er wollte Selbstbefreiung hin zu einer gleichberechtigten Versammlung der Citoyennes und Citoyens in einem Staat der gesicherten demokratischen Rechte aller. Sein Tod im Alter von 95 Jahren am 5. Dezember 2013 hinterlässt zwar eine errungene politisch verankerte Richtung der Entwicklung, aber dennoch mit großem unabgegoltenem „Noch-Nicht“:  „Ein Mensch, der einem anderen die Freiheit raubt, ist ein Gefangener des Hasses. […] Der Unterdrückte und der Unterdrücker sind gleichermaßen ihrer Menschlichkeit beraubt.“ (Aus seiner Autobiografie)

Jahre und Jahrzehnte gab es ein weltweites Ringen um die Freilassung des Bürgerrechtlers und bekanntesten Mitglieds des African National Congress. Auch in Tübingen sprachen sich viele Personen für seine Befreiung aus. Zu ihnen zählte unter anderem die Architektin Karola Bloch: „Die verbrecherische Regierung dieses Landes, den Schöpfern der Apartheid, muss von allen rechtschaffenen Menschen geächtet werden.“

Im Juni 1985 – anlässlich des 25. Jahrestages der blutigen Niederschlagung des schwarzen Aufstandes von Sharpeville 1960 – brachte ein Doktorand der Geschichtswissenschaft den Antrag in den Senat der von Studierenden in „Ernst-Bloch-Universität“ umbenannten Alma Mater ein, den bekanntesten Juristen Südafrikas, den jahrzehntelang mit der Häftlingsnummer 46664 gefangen gehaltenen Rechtswissenschaftler Nelson Mandela, an die Universität Tübingen einzuladen, ihn mit einer Ehrung der juristischen Fakultät zu begrüßen und ihm den Campus als Ort der öffentliche Rede anzubieten. Diese symbolische Einladung an einen Inhaftierten sollte – im 100. Geburtsjahr Ernst Blochs – ein Zeichen zivilgesellschaftlicher Verbundenheit und Solidarität setzen. 

Der damalige Präsident der Hochschule, Adolf Theis, zugleich Vorsitzender des Senats, schloss sich diesem Anliegen grundsätzlich an. Das Gremium beschloss mit Mehrheit, die öffentliche Einladung an Nelson Mandela auszusprechen und Vertreter der Professorenschaft zu beauftragen, die Einladung zu überbringen.

Doch die Vertreter der damaligen Professorenschaft stießen auf so viele eigene Hemmnisse, dass es nie zur Einladung an Nelson Mandela kam. So mancher wollte damals in ihm noch immer einen Gewalttäter und Terroristen sehen. Die 508-jährige Universität Tübingen hatte eine große Chance der Selbstkorrektur verpasst.

Nelson Mandelas Tagtraum ist derweil von einem afrikanischen zu einem globalen Tagtraum geworden. Dessen Realisierung erfordert Zivilcourage und solidarisches Agieren. Noch heute.