Unterwegs zum Menschen. Beiträge zur philosophischen Anthropologie Helmut Fahrenbachs

Anlässlich des Erscheinens der Werkausgabe des Tübinger Philosophen Helmut Fahrenbach haben Freunde sowie Schülerinnen und Schüler Beiträge zur kritischen Würdigung verfasst. Über mehrere Jahre hinweg stellte Helmut Fahrenbach sein Gesamtwerk in systematischer Absicht zusammen. Entstanden ist ein zwölfbändiges Werk ‒ ,Talheimer Ausgabe‘‒ in dessen Zentrum die beiden Bände ‚Philosophische Anthropologie‘ stehen. Angesichts der Ausrufung des ‚posthumanistischen‘ Zeitalters ist dies eine zwar nicht intendierte, aber auch nicht zufällige Entgegnung. Anthropologie ist nach Fahrenbach keine Teildisziplin neben Ontologie, Erkenntnistheorie usw., sondern sie reflektiert die grundlegende und zentrale Thematik der Philosophie überhaupt, der es um die ‚Selbst- und Seinserkenntnis‘ des Menschen geht. Dem entsprechend weit ist das Feld, in dem Fahrenbach seine Thesen und Bezüge absteckt: Existenzphilosophie von Kierkegaard bis Jaspers, Kritische Gesellschaftstheorie von Marx, Bloch, Sartre, Plessner, Lefebvre, Marcuse und Habermas, Sprachphilosophie von Herder und Humboldt bis Wittgenstein und Ricœur, Anthropologie von Gehlen bis Günter Dux, Moralphilosophie und Ethik von Kant bis Küng.

Dieser Band entstand auf Anregung des Talheimer Verlags anlässlich der abgeschlossenen Werkausgabe von Helmut Fahrenbach, noch einmal alle aus seinem Freundes- und ehemaligen Schülerkreis, die nach wie vor an seinem Denken interessiert sind, zusammenzutrommeln und zu einer Stellungnahme zu seinen Schriften aufzufordern. Ziel war es, diesen Band Helmut Fahrenbach zu seinem 94. Geburtstag überreichen zu können.

Dieser Band enthält Ausarbeitungen zum philosophischen Denken Helmut Fahrenbachs von Martin Böhler, Reinhard Brunner, Günter Dux, Walter Erhart, Hanna Gekle, Dieter Henrich, Dorothee Kimmich, Ulrich Müller-Schöll, Mathias Richter, Christof Schilling, Barbara Smitmans-Vajda sowie Irene Scherer und Welf Schröter.

Reinhard Brunner, Martin Böhler (Hg.): Unterwegs zum Menschen. Beiträge zur philosophischen Anthropologie Helmut Fahrenbachs. Mössingen-Talheim 2022, 256 Seiten, 34,00 Euro, ISBN 978-3-89376-199-9 (talheimer sammlung kritisches wissen Band 96).

Inhaltsverzeichnis

Reinhard Brunner, Martin Böhler: Unterwegs zum Menschen. Beiträge zur philosophischen Anthropologie Helmut Fahrenbachs ‒ Vorwort

Irene Scherer, Welf Schröter: Auf dem Weg zu Helmut Fahrenbachs zwölfbändiger philosophischer Werkausgabe. Erinnerungen aus verlegerischer Perspektive

Martin Böhler: Zur philosophischen Systematik der Werkausgabe von Helmut Fahrenbach

Dieter Henrich: Die erste Begegnung

Hanna Gekle: Im Bernstein der Zeit – Über das Trauma der Vernunft

Günter Dux: Wie der Geist in die Welt kam

Reinhard Brunner: Bild und Wirklichkeit. Zur anthropologischen Relevanz propositionalen Verstehens

Walter Erhart: „Rätselfragen der Existenz“ – Notizen zum anthropologischen Bezugsrahmen der Geisteswissenschaften

Mathias Richter: Verstehendes In-der-Welt-sein. Fahrenbach und Sartre: die existenzphilosophische Erweiterung der philosophischen Anthropologie und die Grenzen ihres Geltungsanspruchs für eine kritische Gesellschaftstheorie

Ulrich Müller-Schöll: Zum Verhältnis von „metaphilosophischer Praxis“ und einer „Kritik des Alltagslebens“ bei Henri Lefebvre

Martin Böhler: Marcuse reloaded. Anmerkungen zum unausgetragenen Konflikt zwischen Marcuse und Habermas im Werk von Helmut Fahrenbach

Christof Schilling: Vom Praktischwerden der Philosophie in Bildungsprozessen. Überlegungen zur Moralpädagogik im Ethikunterricht

Barbara Smitmans-Vajda: Zukunft? Hoffnung? Ou-topie oder Dis-topie? Vor- und Nachgedanken zu Helmut Fahrenbachs Buch „Wesen und Sinn der Hoffnung“

Dorothee Kimmich: „Es ist gut, auch fabelnd zu denken“ Ernst Bloch und der Rücken der Dinge

Angaben zu den Autorinnen und Autoren

„[…] Dem Entwurf einer zeitgenössischen Philosophischen Anthropologie, die zumindest Hinweise auf eine theoretisch und praktisch zureichende Antwort auf das Problem, das der Mensch für sich selbst ist, geben kann, hat Helmut Fahrenbach unermüdlich seine nun mehr als sieben Jahrzehnte dauernde philosophische Forschung gewidmet. Den Problemen, die sich ihm dabei stellten, ist er in einer Viel-zahl von akribisch ausgearbeiteten philosophischen Aufsätzen so intensiv nachgegangen, dass er jetzt die Summe seines Schaffens in einer nun auf zwölf Bände angewachsenen Werkausgabe vorlegen kann, in der er seine Texte thematisch zusammengestellt und zu einzelnen Bänden zusammengefasst hat. Fahrenbachs Aufsätze waren bis dato zeitlich und editorisch weit gestreut und dadurch heute für viele nicht mehr leicht auffindbar, was einer angemessenen Rezeption im Wege stand. Durch ihre konzentrierte Zusammenstellung wird nun ihr systematischer Zusammenhang ersichtlich und ihre philosophische Bedeutung betont, die Fahrenbach mit seinen prominenteren philosophischen Freunden und Zeitgenossen – Dieter Henrich, Ernst Tugendhat und Jürgen Habermas – auf Augenhöhe zeigt. […]“ (Martin Böhler)

Die zwölfbändige „Philosophische Werkausgabe“ von Helmut Fahrenbach ist erschienen

Nach mehrjähriger Editionsarbeit von 2015 bis 2023 konnte nun die „Philosophische Werkausgabe“ von Helmut Fahrenbach erscheinen. Der Philosoph Helmut Fahrenbach entwickelt seine eigenständige Philosophie auf Grundlage der kritischen Rezeption der Werke von Kant, Hegel, Marx, Löwith, Jaspers, Plessner, Kierkegaard, Wittgenstein, Sartre, Bloch, Marcuse, Lefebvre, Fromm und Habermas.

Fahrenbachs Werk kommt zur richtigen Zeit. Während durch Globalisierung, Robotik und Digitalisierung das aufgeklärte Menschenbild immer mehr in Frage gestellt wird, verteidigt der Autor die Selbstbestimmung des Einzelnen in solidarisch-gesellschaftlicher Emanzipation. Fahrenbach bietet Antworten auf aktuelle Fragen nach den Potenzialen der Humanitas. Es geht um die philosophisch-politische Erbschaft der Citoyennes und der Citoyens sowie der Stabilisierung und Weiterentwicklung der Freiheit. Helmut Fahrenbach entfaltet die Philosophie der Hoffnung zu einer Lebensphilosophie der Zukunft.

Aufbau „Philosophische Werkausgabe“

I. Problemlagen und Perspektiven der Philosophie im 20. Jahrhundert (Mössingen-Talheim 2022, 336 Seiten, 39,00 €, ISBN 978-3-89376-194-4)

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II. Wesen und Sinn der Hoffnung (Mössingen-Talheim 2021, 320 Seiten, 39,00 €. ISBN 978-3-89376-186-9)

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III. Ernst Blochs Philosophie der Hoffnung und Utopie – im Kontext und Diskurs (Mössingen-Talheim 2017, 472 Seiten, 39,00 €, ISBN 978-3-89376-173-9)

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IV. Kierkegaards existenzdialektische Ethik (Mössingen-Talheim 2021, 304 Seiten, 39,00 €, ISBN 978-3-89376-189-0)

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V. Philosophische Anthropologie – Gesellschaftstheorie – Ethik. Anthropologische und ethische Grundlagen einer humanistisch-sozialistischen Lebensphilosophie (Mössingen-Talheim 2021, 256 Seiten, 39,00 €, ISBN 978-3-89376-192-0)

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VI. Philosophie – Politik – Sozialismus. Ein prekäres Verhältnis in Deutschland (Mössingen-Talheim 2016, 488 Seiten, 39,00 €, ISBN 978-3-89376-158-6)

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VII. Bertolt Brecht – Philosophie als Verhaltenslehre (Mössingen-Tal¬heim 2018, 360 Seiten, 39,00 €, ISBN 978-3-89376-177-7)

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VIII. Karl Jaspers – Philosophie menschlicher Existenz und Vernunft (Mössingen-Talheim 2018, 2018, 392 Seiten, 39,00 €, ISBN 978-3-89376-175-3)

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IX./X. Philosophische Anthropologie. 2 Bde. (Mössingen-Talheim 2020, Band 1: Philosophische Anthropologie. Zentrum der Philosophie. Band 2: Anthropologie – Lebens-Praxis – Ethik – Humanistische Lebensphilosophie. (zus. 888 Seiten, 69,00 €, ISBN 978-3-89376-180-7)

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XI. Philosophie kommunikativer Vernunft (Mössingen-Talheim 2022, 328 Seiten, 39,00 €, ISBN 978-3-89376-196-8)

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XII. Brennpunkte neuzeitlicher Philosophie (Mössingen-Talheim 2023, 480 Seiten, 39,00 €, ISBN 978-3-89376-198-2)

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Die philosophische Werkausgabe in elf Titeln (zwölf Bände) folgt der Gliederung des Autors. Aus inhaltlichen problemorientierten Gründen wurden vom Autor wenige wichtige Aufsätze in verschiedenen Bänden identisch aufgenommen.

Siehe: http://www.talheimer.de/talheimer-neuerscheinungen.html

Schwierigkeiten beim Lesen von Hartmut Rosas „Resonanz“

Foto: © Welf Schröter

Foto: © Welf Schröter

Kein Zweifel: Hartmut Rosa hat mit seinen Werken „Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung“ (2012) und „Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehung“ (2016) beachtliche fachliche und intellektuelle Herausforderungen geschaffen. Seine These von der „Resonanz“ als „Modus des In-der-Welt-Seins, das heißt eine spezifische Art und Weise des In-Beziehung-Tretens zwischen Subjekt und Welt“ (Resonanz 285) formuliert auf den ersten Blick einen neuen soziologischen Erklärungsversuch der Folgen der Moderne.

Er sieht „Resonanz“ und „Entfremdung“ als „kategoriale Grundbegriffe einer systematischen Soziologie der Weltbeziehung“ (Resonanz 281). „Resonanz“ ist dabei weder ein materieller noch ein substanzieller sondern ein „relationaler Begriff“ (285). Kein „Gefühlszustand“ sondern ein „Beziehungsmodus“ (288). Ohne „Resonanz“ sei weder „Identität noch Sozialität“ möglich.

Hartmut Rosa ist zu verdanken, dass er die vorhandene Methoden- und Theorievielfalt der soziologischen Annäherungen an die Welt um zwei neudefinierte Kategorien erweitert und akzentuiert hat. Seine Kritik der „Resonanzverhältnisse“ sucht nach dem Gelingen oder der Blockierung von Resonanzen, die bei ihm weit über den Begriff der Kommunikation hinausverweisen.

Der Autor artikuliert, dass er nicht den Anspruch hat, mit diesen Kategorien, die sich seiner Ansicht nach zueinander auch dialektisch verhalten können, alle Weltbeziehungen als resonant oder nicht-resonant sezieren zu wollen. Und doch ist sein jüngstes Buch ein Beleg für den genau diesen in Abrede gestellten dominanten Anspruch. Mit einem zuweilen unterhaltsamen Parforce-Ritt durch Soziologie, Philosophie, Psychologie und durch verschiedene Felder interdisziplinärer Frauenforschung häuft er beerbend nicht enden wollende, komplexe und banale Beispiele, Zitate, Anekdoten und Erzählungen an, die seine Thesen bestätigen können oder sollen. Da müssen dann auch schon einmal Grateful Dead, Bob Dylan, die „Scorpions“ oder Heavy Metal-Rockgruppen als Indizien herhalten.

Bewusst nimmt er Theorieerbschaften auf, legt sie ab oder verformt sie. Dies propagiert er insbesondere in seiner Entleerung des Marx’schen Entfremdungsbegriffs, den er jenseits materieller Rahmsetzungen neu auflädt. Seine Rezeption von ökonomiekritischen Ansätzen endet in der weitgehenden Loslösung von ökonomischen Analysen. Er vollzieht den Abschied von einer sozioökonomischen und formationellen Herangehensweise hin zu einer eher ideen- und empfindungsschwangeren Betrachtung. Zwar räumt er ein, dass „Arbeit und Familie, aber auch die Kunst, die Religion und die Natur“ (294) als moderne „Resonanzräume“ fungieren können, schränkt sich aber im Folgenden weitreichend selbst ein, in dem er ordnend festhält, dass „Natur, Kunst und Religion konstitutive Resonanzräume für die moderne Gesellschaft“ (296) darstellen.

Trotz kritischer Auseinandersetzung mit der Marx’schen Entfremdungsanalyse, dem Marx’schen Arbeitsbegriff und der Position von Lukács rückt der Faktor Arbeit und die Frage der materiellen Vergegenständlichung des Menschen aus dem Fokus an den Rand der Aufmerksamkeit. Rosas bunte und kluge Textkonfiguration bleibt letztlich eklektizistisch. Er nimmt die „Kritische Theorie“ im Sinne Adornos auf, verabschiedet sich davon und wendet sich Luhmann zu. Er untergräbt selber das Potenzial seiner Thesen, in dem er Widergängiges und Widersprüchliches ausgrenzt und sich nur auf Affirmatives stützt.

Mehr noch: Er liest die ihm vorlegenden Werke der Soziologie, Philosophie, Politischen Ökonomie etc. nicht originär in der Intention und der systemischen Konzeption der Verfasser, sondern sucht sich aus den Textstellen anderer Autoren jene Passagen oder Argumentationslinien heraus, die ihm gelegen erscheinen. So gelingt es ihm in seiner „Ich“-Erzähler-Form, sich und seine Resonanztheorie als „verbindendes Glied in der Kette der kritischen Denker“ selbst einzureihen, die von Marx, Lukács, Adorno, Fromm, Marcuse „bis zu Jürgen Habermas und Axel Honneth reicht“ (565). Diese etwas nicht uneitle Selbstreferenz unterstreicht er mit der nicht überraschenden Antwort auf eine von ihm selbst rhetorisch gestellte Frage, ob denn Habermas „zum Begründer und Verteidiger einer resonanten Moderne“ werde, mit dem qualifizierenden Hinweis auf diesbezügliche Habermas’sche Begrifflichkeiten: Diese seien „reduziert“ und „defizitär“ (591). Dagegen sieht Rosa in Marx jenen, der schon zu seinen Zeiten beschrieb, wie „lebendige, resonante Beziehungen zwischen Menschen“ durch „stumme Beziehungen von Dingen“ ersetzt werden (540). Hier deutet Rosa nun Marx um.

An dieser Stelle erscheint es angebracht, Rosa gegen Rosa zu zitieren: „Die 68er-Generation verfügt über eine tendenziell andere, biografisch entwickelte Resonanzlandkarte als die Flakhelfergeneration oder die Mauerfallgeneration“ (657). Der 1965 geborene Resonanzforscher kennt auch die Gründe: „Die Revolte um 1968 war vor allem anderen eine ästhetische und musikalische Revolution, …“ (373).

Der neue Weg von dem sehr guten Band „Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung“ (2012) zu „Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehung“ (2016) ist keine qualitative Verbesserung.

 

Rosas „Resonanz“ ohne Blochs „Heimat“

Foto: © Welf Schröter

Foto: © Welf Schröter

Die neue Ausarbeitung des Soziologen Hartmut Rosa mit dem Titel „Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehung“ (2016) hat große Erwartungen erzeugt. Ausgehend von seinem hervorragenden Band „Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung“ (2012) war zu glauben, dass er seine Analyse der Zusammenhänge von Beschleunigung und Demokratie, von Zeitwahrnehmung und Selbstwahrnehmung vertiefen und erweitern würde. Doch im Kern hat er sich von seiner früheren Perspektive schrittweise entfernt und sich einer affirmierenden Positionierung genähert. (Siehe dazu „Schwierigkeiten beim Lesen von Hartmut Rosas ,Resonanz‘“.)

Rosa legt eine hochinteressante Darlegung der beiden neu definierten Kategorien „Resonanz“ und „Entfremdung“ vor. Nachteilig wirkt sich aus, dass er die Entstehung seiner Theorie früheren Denkern wir Marx, Adorno, Habermas und Bloch geradezu buchstäblich in den Mund legt, als ob diese die wissenschaftliche Tür für Hartmut Rosa geöffnet hätten.

In einem grundlegenden Missverständnis des Bloch‘schen Werkes schreibt Rosa etwa (740): „Kinder sind Resonanzwesen, so hat es sich gezeigt; nicht zuletzt deshalb konnte Bloch postulieren, die (resonante) Heimat, in der noch keiner gewesen sei, scheine uns aus der Kindheit her.“

Rosa nennt zwar das dreibändige Werk von Ernst Bloch „Das Prinzip Hoffnung“ als Referenzliteratur, hat es offensichtlich aber nicht ausreichend rezipiert. Auf 815 Seiten kommt er lediglich zwei Mal auf Blochs „Heimat“-Begriff zu sprechen. Jedoch verwendet er lediglich das auf der Buchrückseite des dritten Bandes zitierte Schlusszitat. Die für die „Resonanz“-Diskussion notwendige Aufhebung des Bloch’schen Begriffes der „Ungleichzeitigkeit“ unterlässt er völlig (604). In der produktiven Spannung von „Resonanz“ und „Ungleichzeitigkeit“ läge aber eine der Schlüssel-Thesen und Anti-Thesen einer zukunftsweisenden systematischen Theorie moderner Gesellschaftlichkeit.

Auch die hegelianische Subjekt-Objekt-Beschreibung mit ihren emanzipatorischen Kritiken durch Marx und Bloch erscheint für Rosa als materialistisch zu wendende Dialektik wenig bedeutsam. Er spricht von seiner eigenen These, in der „Subjekt und Welt einander antworten“(482, 65). Rosa erinnert an die Marx’sche Verdinglichungsanalyse (544, 579), zieht sich aber von der Möglichkeit eines oder mehrerer gesellschaftlicher Subjekte zurück.

„Resonanz ist das Andere der Entfremdung“ (306). Dieser Kernaussage Rosa schiebt der Autor eine Definition von Entfremdung nach, die sich materiell-ökonomischen Konnexen kaum zu öffnen wagt: „Entfremdung bezeichnet damit eine Form der Welterfahrung, in der das Subjekt den eigenen Körper, die eigenen Gefühle, die dingliche und natürliche Umwelt oder aber die sozialen Interaktionskontexte als äußerlich, unverbunden und nichtresponsiv beziehungsweise als stumm erfährt“ (306).

Jenseits von Blochs „belehrter Hoffnung“ („docta spes“) verwandelt Rosa Hoffnung in individuelle Zuversicht: „Resonanz entsteht also niemals dort, wo alles ,reine Harmonie‘ ist, und auch nicht aus der Abwesenheit von Entfremdung, sondern sie ist vielmehr gerade umgekehrt das Aufblitzen von Hoffnung auf Anverwandlung und Antwort in einer schweigenden Welt“ (321).

Gegen die „belehrte Hoffnung“ Blochs erscheint Rosas Hypothese wagemutig, dass „die Resonanzkraft der Geschichte erlischt, dass die geschichtlichen Ereignisse uns nichts mehr zu sagen haben“ (511).

 

Habermas und Europas Ungleichzeitigkeiten

Selten war die Aktualität und Bedeutung eines Begriffs wie „Ungleichzeitigkeit“ aus der Bloch’schen Philosophie so erkennbar wie im Verlauf des Jahres 2012. Die Spannung zwischen der europäischen Idee und den Lasten des nationalstaatlichen Denkens nimmt zu. Habermas, Nida-Rümelin und Bofinger konstatierten am 3. August 2012 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter der Überschrift „Einspruch gegen die Fassadendemokratie“ – einen Strategiewechsel fordernd und konsequent „systemische Probleme“ diagnostizierend: „Diese sind durch Anstrengungen auf der nationalen Ebene nicht zu bewältigen, sie erfordern eine systemische Antwort.“ Gegen „monetären Nationalismus“ und für „das Versprechen eines sozialen Europas“ plädierten sie: „Denn nur für ein politisch geeintes Kerneuropa besteht die Aussicht, den inzwischen fortgeschrittenen Prozess der Umwandlung der sozialstaatlichen Bürgerdemokratie in eine marktkonforme Fassadendemokratie umkehren zu können.“ Hier steht die Unabgegoltenheit des Tagtraumes vom friedfertigen Miteinander in Europa dem ungleichzeitigen Verhaftetsein im Nationalen gegenüber. Ernst Bloch warnte in seinem Buch „Erbschaft dieser Zeit“ vor der Vernachlässigung der gleichzeitigen Präsenz ungleichzeitigen Nationalgefühls in der Bürgerschaft der späten Weimarer Republik. Habermas sekundiert heute in folgenden Worten: „Allerdings sollte die historische Erinnerung an die Einigung des Deutschen Reiches, die vielen Landesteilen dynastisch oktroyiert wurde, gerade uns eine Warnung sein.“ Die Antwort der drei Autoren auf die Herausforderung der „Ungleichzeitigkeiten“ im europäischen Werden greift das subjektive Empfinden bewusst auf: „Der europäische Bundesstaat ist das falsche Modell und überfordert die Solidaritätsbereitschaft der historisch eigenständigen europäischen Völker. Die heute fällige Vertiefung der Institutionen könnte sich von der Idee leiten lassen, dass ein demokratisches Kerneuropa die Gesamtheit der Bürger aus den EWU-Mitgliedsstaaten repräsentieren soll, aber jeden einzelnen in seiner doppelten Eigenschaft als direkt beteiligten Bürger der reformierten Union einerseits, als indirekt beteiligtes Mitglied eines der beteiligten europäischen Völker andererseits.“ Das „Gefühl verletzter Gerechtigkeit“ (Habermas) verlangt bewusst nach einem Mehr an Partizipation und Demokratie. Ein Verdrängen dieses Gefühls könnte als unaufgelöste Erbschaft die Fortsetzung der Vertiefung Europas bremsen oder blockieren: „Nicht alle sind im selben Jetzt da, sie sind es nur äußerlich dadurch, dass sie heute zu sehen sind, dadurch aber leben sie nicht mit den anderen zugleich. Sie tragen vielmehr Früheres mit, das mischt sich ein.“ (Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit)