Blochs „mehrschichtige Dialektik“ als Gestaltungsansatz in der „digitalen Transformation“

In der Geschichte der Gesellschaften in Europa und insbesondere in der deutschen gebrochenen Historie führten tiefgreifende Transformationen immer wieder zu Polarisierungen zwischen jenen, die das Bisherige bewahren, und jenen, die das Vorhandene überschreiten wollten. Bei Übergängen und Umbrüchen innerhalb einer sozialökonomischen Formation markierten die Beschleunigungen des Wandels nicht selten eine größere Rolle als die Richtung des Wandels selbst. Geschwindigkeit dominierte die subjektive Wahrnehmung und die psychologischen Reaktionsmuster.

Der durch die Globalisierung eingeleitete Bedeutungsverlust des Nationalen und des Nationalstaates wird durch den Prozess der beschleunigten Digitalisierung bzw. der „digitalen Transformation“ abermals akzentuiert. Die seit mehr als zwei Jahrzehnten voranschreitende Entortung und Entzeitlichung menschlicher Begegnungsmöglichkeiten erscheint angesichts weltumspannender Internetinfrastrukturen als Bestätigung des Nicht-Nationalen und als sich verstärkende Ausrichtung weg vom nationalen Denken.

Foto: © Welf Schröter

Die „digitale Transformation“ wird dabei zunächst subjektiv in ihrer Veränderungskraft als durchsetzungsfähiger empfunden, als sie zu Beginn in ihrem faktischen Gehalt ist. Die sich beschleunigende Transformation des virtuellen Raumes mit dem gleichzeitig sich qualitativ konvergierenden Mensch-Netz-Interaktionsraum löst Emotionen aus, die ungleichzeitig zum Realen und ungleichzeitig zum Historischen wirken. Menschen sehen sich nicht mehr als souverän Handelnde sondern als immer häufiger bloße Assistenten oder Entmündigte von Technik.

In ihrem sozialpsychologisch-soziologischen Deutungsverhalten hinken Sozialwissenschaften und Philosophie größtenteils hinter dem derzeit vorherrschenden Primat des Technisch-Digitalen hinterher. Eine wesentliche Stärkung des Primats des Gesellschaftlich-Sozialen und der Subjektidentität ließe sich erreichen, wenn ein interdisziplinärer Diskurs sich auf der Basis von Ernst Blochs „mehrschichtiger Dialektik“ vorantreiben ließe. Blochs Begriff der „Ungleichzeitigkeit“ entfaltet im Hinblick auf gesellschaftlich-kulturelle wie sozialpsychologische Herangehensweisen und Methoden seine ganzheitliche Wirkung.

Angesichts des Wandlungsprozesses der Arbeit und deren latenzhafter Identität-Nicht-Identität der weiteren Entfremdung des tätigen Menschen und seiner Emanzipationspotenziale mit Hilfe des Abstrakt-Virtuellen kann die „mehrschichtige Dialektik“ zur Aufhebung unabgegoltener „belehrter Hoffnungen“ (Bloch) beitragen. Die „digitale Transformation“ des Hier und Jetzt in ein humanes Morgen gelingt eher auf der Basis „mehrschichtiger Dialektik“.

Eine Aussage des Tübinger Philosophen Helmut Fahrenbach, die dieser unter Rückgriff auf Blochs Kritik an ökonomistischem Denken traf, ließe sich methodisch heute neu lesen: „Wenn die marxistische Aufklärung gegen diese Irrationalismen nur objektive ökonomische Wahrheiten setzt, anstatt in der dialektischen Kritik des Irrationalen auch die utopisch-subversiven Elemente (Potentiale) freizulegen und zu reflektieren, wird sie am Lebensgefühl und Bewusstsein der Menschen wirkungslos vorbeireden.“ (Helmut Fahrenbach: Philosophie – Politik – Sozialismus. 2016. ISBN 978-3-89376-1586)

 

Wer ist das Volk? Die Vermessung der Demokratie – Spannungen im zivilgesellschaftlichen Bewusstsein

978-3-89376-170-8Für die Erneuerung und Ausweitung der Demokratie in Europa setzt sich die erstmals zur Frankfurter Buchmesse 2016 erschienene Buchzeitschrift „Latenz“ ein. Das Journal für Philosophie und Gesellschaft, Arbeit und Technik, Kunst und Kultur wird von einer fünfköpfigen Fachredaktion geleitet. Dreißig international renommierte Fachexpertinnen und Fachexperten aus Frankreich, Polen, Österreich, Kroatien und Deutschland bilden einen kompetenten Beirat. Der Schwerpunkt der ersten Ausgabe legt Antworten auf die Frage vor „Wer ist das Volk?“ und leistet Beiträge zur Neuvermessung der europäischen Idee der Demokratie.

„Nach mehr als 25 Jahren verlegerischer Tätigkeit auf dem offenen Feld des Sachbuches sehen wir den Bedarf nach einer Buchzeitschrift, die das aufklärerische Denken aus Philosophie und Sozialwissenschaften mit gesellschaftspolitischem Handeln verbindet,“ betonen die Herausgeber Irene Scherer und Welf Schröter: „Es geht einerseits um die Verteidigung und Aufhebung der Werte der „Trikolore“ als Erbschaft der Citoyennes und der Citoyens, um Sichtung des Unabgegoltenen und scheinbar Verschollenen, um die Wiederentdeckung enttäuschter ungleichzeitiger Hoffnungen als Gärstoff für Besseres. Zugleich rückt die Weiterentwicklung der Gegenwart zugunsten einer Humanisierung des Menschen unverändert auf die Tagesordnung.“

Das Journal „Latenz“ will ein Debatten-Forum sein. Autorinnen und Autoren unterschiedlicher Fachdisziplinen und gesellschaftlicher Gruppierungen sollen eine Plattform erhalten, auf der innerhalb eines breiten Themenspektrums zwischen Gesellschaftstheorie und historisch-politischer Analyse, ökonomischer Prognose und ästhetischer Kritik versucht werden soll, die Gegenwart zu vermessen, deren innere Dynamik aufzuspüren und auf ihr eventuell emanzipatorisches Potenzial hin zu befragen.

Buchangaben 

Auftritt eines neuen „Triadischen Balletts“ aus cyber-physischen Systemen?

Erinnerungen an Oskar Schlemmers "Triadisches Ballett". (Foto: © Welf Schröter)

Erinnerungen an Oskar Schlemmers „Triadisches Ballett“. (Foto: © Welf Schröter)

Wenn im 21. Jahrhundert Kommunikation auf Kreativität und Kunst trifft, wenn Virtualisierung die Arbeit und das Leben im Alltag erreicht, beginnen sich Mensch und Maschine auf ein neues verändertes und veränderndes Miteinander einzulassen. Technisch entmaterialisierte Kommunikation greift nach dem Modus der Wahrnehmung und verschiebt die Grenzen zwischen haptisch-sinnlichem und optisch-sinnlichem Empfinden, um im Virtuellen ein neues Fundament zu errichten. Letzteres entfaltet sich alsbald zum Tanzboden von künstlichen Artefakten, die – den Menschen simulierend – an seiner Stelle tätig werden.Das unsterbliche Ballett der cyber-physischen Systeme gibt den Schwan und meint doch eher die Seeräuber-Jenny, ohne zu verkünden, dass dieses Ballett die Grenzen der Zeit in Richtung sich wiederholender Echtzeit zu überschreiten sucht. Die Kunstschaffenden für den symbolischen Tanz des Digitalen streben nach dem Ausbruch aus dem Konventionellen, eine neue Konvention schaffend. Das Publikum träumt von der befreienden Entgrenzung, um dann doch eher nur vordere Parkettreihen zu besetzen. „Die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie einmal war.“ (Karl Valentin)

Damals im frühen 20. Jahrhundert fand am 22. September 1922 in Stuttgart die Uraufführung des „Triadischen Balletts“ in den Räumen des Württembergischen Landestheaters Stuttgart statt. Der Bauhaus-Künstler Oskar Schlemmer hatte das Ballett als Illustration des Umbruchs aus der wilhelminischen Starrheit hinein in die fluide Moderne geschaffen und inszeniert. Oskar Schlemmers damalige Freunde Felix und Helene Löwenstein wie auch Lily Hildebrandt waren begeistert. Im Programmheft zum 22. September 1922 hieß es technik- und zukunftsverliebt:

„Das Triadische Ballett, Tanz der Dreiheit, das mit dem Heiteren kokettiert, ohne der Groteske zu verfallen, das Konventionelle streift, ohne mit seinen Niederungen zu buhlen; zuletzt Entmaterialisierung der Körper erstrebt, ohne sich okkultisch zu sanieren, soll die Anfänge zeigen …“

In der großen Schlemmer-Ausstellung 2015 in Stuttgart las sich ein Textschild anknüpfend wie folgt:

„Im Programmheft zur Uraufführung wird das ,Künstliche‘ als Quelle von Wahrheit und Schönheit betont und als Gegensatz zum Streben nach ,Wirklichkeit‘ – sprich Individualismus – in der Kunst gesehen.“

Oskar Schlemmers Traum eines Gesamtkunstwerkes, das den Linien der Abstraktion, der Zeitlosigkeit und der Modernität folgt, entsprang dem Willen, „das Metaphysische zu binden“ (Schlemmer). Vor dem Hintergrund der heutigen industrieverbundenen Kreativwirtschaft mit ihren CPS-Personae erscheint Schlemmers Verhältnis zur Technik wie ein Kapitel Unabgegoltenheit in der Erbschaft der Humanisierung des Menschen. Wie schrieb er doch 1922 zukunftstrunken und faktisch schon Gedanken der heutigen humanoiden Robotik vorwegnehmend:

„Die Mittel jeder Kunst sind künstliche und jede Kunst gewinnt, wenn sie ihre Mittel erkennt und bejaht. … Chaplin wirkt Wunder indem er ganz künstlich ist. Ob die Mechanisierung des Lebens von heute durch Maschine und Technik, gegen die sich die Sinne nicht verschließen können. Auch die Maschine Mensch und den Mechanismus Körper nachdrücklich fühlbar und bewusst werden lässt.“

Ein neuer grundlegender Wandel von Arbeit und sozialem Zusammenhalt, von „E-Society“ und Robotik wandert in die alltäglichen Vorstellungswelten der Citoyennes und Citoyens der Gegenwart. Nicht der Tanz auf dem Vulkan sondern ein neues „Triadisches Ballett“ fordert heraus, will Neues, bringt Altes mit, aktualisiert Ungleichzeitiges und enthebt auf der Bühne den Menschen seiner „Invariante der Richtung“ (Bloch). Das CPS-Ballett folgt dem Crescendo-Ruf: Vom „Pas de deux“ zum choreografierten „Ballet d’action“, ohne „Cabriole“ und ohne „Contretemps“.

Als Künstler der rebellischen „Üecht-Gruppe“ schrieb Oskar Schlemmer am 15. November 1919 in einem Flugblatt: „In der Kunst ist lernen gleichbedeutend mit leben wollen.“ Fast einhundert Jahre später wäre anzufügen, dass die cyber-physischen Ballett-Schuhe vor dem Betreten der Bühne anzuziehen sind.

Ist heute im Angesicht der CPS die „Entmaterialisierung“ der Körper eine „konkrete Utopie“, die der Humanisierung des Menschen näher kommt, oder liegt in der Entkörperlichung ein Stück nachholende Vergangenheit, die mehr rückwärts verweist als nach vorne öffnet? – Oskar Schlemmer wird es wohl gewusst haben.

„Wohlan, ich will aufrührerisch sein“

(Foto: © Welf Schröter)

(Foto: © Welf Schröter)

Es gibt Momente, in denen scheinen die Worte „Unabgegoltenheit“ und „Sehnsucht“ geradezu mit den Fingern greifbar zu sein. Wenn ältere Gesichter, in deren Augen noch immer das Feuer der begründeten und „belehrten Hoffnung“, der „docta spes“ (Ernst Bloch) lodert, aus ihren Lebensfalten Rückbesinnungen entpacken auf gemeinsames öffentliches Leben, auf Protest und Widerspruch, auf Leidenschaft für die „gemeinsame Sache“ (Karola Bloch), dann blitzt ein vorzeitiger Vorschein der Identität aus Vernunft und Wirklichkeit (Hegel) auf, der Ermutigung bringt und Hoffnung sät. Solche Momente sind nicht eben häufig. Doch im Erdgeschoß eines mittelalterlichen Fachwerkhauses in der Tübinger Innenstadt trat dieser Moment der ungleichzeitigen Gleichzeitigkeit ein.

Im Rahmen des Tübinger Bücherfestes 2015 fand am 17. Mai eine Lesung im Rahmen der derzeit noch laufenden Ausstellung zur Tübinger Protestbewegung der siebziger Jahre statt. Die Lesung im „Protestmuseum“ (Kornhaus) trug den Titel „Wohlan, ich will aufrührerisch sein“ (Ernst Bloch) – Rebellische Reden, freche Worte und aufmüpfige Beiträge von Karola und Ernst Bloch sowie Gretchen und Rudi Dutschke.

Zwei Stimmen aus den siebziger Jahren lasen zur aktuellen Ausstellung „Protest“ aus Briefen und Schriften, aus „Lieber Genosse Bloch“ und „Dutschke und Bloch“ sowie „Karola Bloch – Die Sehnsucht des Menschen, ein wirklicher Mensch zu werden“. Rund 100 Zuhörerinnen und Zuhörern quittierten die knapp einstündige Wanderung durch Texte der Blochs und der Dutschkes mit einem außergewöhnlich langanhaltenden Beifall.

Viele Junge und Junggebliebene aus dem Auditorium ließen sich durch den ersten Dialog Ernst Blochs mit Rudi Dutschke im Februar 1968 in Bad Boll an rebellische Zeiten erinnern. Da wurden emanzipatorisches Christentum und antitotalitäre Marxrezeption lebendig. Da waren Christus neben dem „Prager Frühling“, Gretchen Dutschke neben Elisabeth Käsemann präsent.

Die Zuhörenden folgten mit Schmunzeln Karola Blochs humorvoll spitzer Bemerkung über fliegende Tomaten auf Professoren. Sie spürten der Frage nach, was an dem Denken der Dutschkes und Blochs noch immer unabgegolten ist und welche Impulse uns heute bei der Verteidigung der Menschenrechte wieder aktuell erscheinen.

Den Schlusspunkt setzte ein Zitat aus dem Munde Rudi Dutschkes, der schon im Februar 1968 den heute hochaktuellen Begriff und die allseits akzeptierte Notwendigkeit einer „lernenden Gesellschaft“ als Basis einer stetigen Emanzipation „von unten“ formulierte.

In den Gesichtern der innerlich Junggebliebenen glätteten sich die Falten. Im Herzen wurden sie wieder Twens und es schien, als ob sie in sich „Ton, Steine, Scherben“ und Wolf Biermanns Ermutigungen für Ermutiger summten. Vielleicht waren auch ein paar Töne von Jimi Hendrix und Janis Joplin dabei.

 

Nichts ist vergessen

(Foto: © Welf Schröter)

(Foto: © Welf Schröter)

Siebzig Jahre nach der Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee der Sowjetunion ist die Erinnerungsarbeit inzwischen auch auf die „Dritte Generation“ übergegangen. Die unauslöschliche Traumatisierung wächst hinüber in die Leben der Nachgeborenen. Die Verantwortung geht in neue Hände.Wer von Traumata geplagt und geprägt ist, kann Forderungen nach einem sogenannten „Schlussstrich“ und nach dem verletzenden Ausruf „Nun muss das aber mal endlich ein Ende haben“ nur mit ungläubigem Kopfschütteln und begründetem Widerspruch  beantworten. Die Erwartung eines „Schlussstrichs“ entstammt dem Denken der Täter, auch der „Zweiten Generation“ der Täter. Diese und deren Nachkommen werden die andauernde Wirkmächtigkeit der Traumatisierungen anerkennen und respektieren müssen.

Die Shoah ist in unser aller Bewußtseinsschichten eingebrannt. Vielleicht lässt sich das Denken an den Holocaust zuweilen im Alltag überdecken und zeitweise verschütten. Doch dieses Brandmal wirkt in unseren sich zeitlich überlappenden Erfahrungsschichten ungleichzeitig weiter. Die Shoah wird nie abgegolten sein. Dieses Weiterwirken kann vielleicht durch verantwortungsgetriebenes Rückerinnern gelindert, nicht jedoch aufgehoben werden.

Wie sehr unreflektierte Tätersprache noch immer aktuell ist und verletzen kann, lässt sich an zwei journalistischen Formulierungen aus Tageszeitungen des Januar 2015 ablesen. Da wird vom „Ghetto Lodz“ und vom „polnischen Auschwitz“ geschrieben. Man muss nicht zur jüngsten Trauma-Generation gehören, um festzustellen, dass es das deutsche KZ „Litzmannstadt“ auf dem Boden der polnischen Stadt Lodz war. Auf der Gemarkung nahe der polnischen Stadt Oświęcim wurde das deutsche KZ Auschwitz errichtet.

Verletzend wirkt auch jene Aussage öffentlicher Amtsträger, die eine Einladung an Vertreterinnen und Vertreter der „Dritten Generation“ der Opfer mit dem Hinweis ablehnen, es sei nun genug getan und alles weitere sei Privatsache. Eine solche Haltung beleidigt nicht nur die Nachkommen der Überlebenden.

Vor diesem Hintergrund ist der Satz von Bundespräsident Joachim Gauck „Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz“ eine ermutigende Positionsbestimmung und Haltung. Die Erbschaft jener Zeit darf heute nicht auf Täterdenken verkürzt und verdreht werden. Es gilt, die Legenden der Täter offen zu legen und den inneren Erbschaften der Opfer und ihrer Nachkommen zuzuhören.

Das Unaussprechliche befindet sich nicht im Wort „damals“ sondern in der Ortsangabe „dort“. Der Raum wirkt im Gegenwärtigen.

Das Unabgeltbare der Shoah weitet die Unabgegoltenheit erinnerter Spuren. Die Shoah wurde und wird auch Teil von Ernst Blochs Genesis-Perspektive. Das Ungleichzeitige durchdringt den Wunsch nach dem werdenden Wir. Die Shoah entzieht sich dem Bestreben nach dialektischer Aufhebung.

 

 

Konstruktion und De-Konstruktion von Identität

(Foto: © Welf Schröter) Konfrontationen der Identität - Konfrontationen der Architektur

(Foto: © Welf Schröter) Konfrontationen der Identität – Konfrontationen der Architektur

Ist die Herausbildung von Identität „ein lebenslanger Prozess der Konstruktion und Revision von Selbstbildern“? Erreicht der Mensch „Identität“ oder bestenfalls „Identitäten“? – In einer modernen Welt soll und muss Identität widersprüchlich sein, soll und muss Identitätswechsel erlaubt sein. Identität ist somit formbar und veränderbar. Parallel zum arbeitsweltlich-philosophischen Diskurs über „Identität in der Virtualität“, bei dem Identitätsbildung aus der Digitalisierung und Virtualisierung von Industrie- und Dienstleistungsarbeit abgeleitet werden soll, gab die Staatliche Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart Impulse zur Identitätsdebatte aus künstlerischer und musikalischer Arbeitsperspektive. In ihrer Zeitschrift „Spektrum #23“ durchstreiften Schaffende unterschiedlichster Fachumgebungen ihren Alltag, um Identitätsstiftendes zu finden. Deren Lektüre regt zur konstruktiven Aufhebung an.

„Du wirst, was Du tust“, ruft es aus der tanzenden Musik. Identität ist nicht zwangsläufig vorhanden. Identität ist Werden, ist Prozess. Von Identität lässt sich nicht im Singular sprechen. Identität ist Vielheit, besser noch Vielfalt. Identität entsteht durch Offenheit, mehr noch durch Protest, durch Handeln.

Die Humanisierung der Identität wäre die Forderung nach komplexer Identität. Identität entsteht und wächst durch Differenz. Identität folgt der Konstruktion und De-Konstruktion.

Der Komponist Mauricio Kagel brachte einst das Wort von der „fragmentarischen Identität“ ein. Für Bloch steht hinter dem „Ich“ das Werden zum Wir. Die virtuelle Identität ist nur vordergründig ein „Ich“. Tatsächlich fügt sich das „Ich“ vom Vorgestern zum „Ich“ vom Gestern hinein in das „Ich“ vom Morgen als ungleichzeitiges „Wir“ des Jetzt. „Identität in der Virtualität“ heißt vordergründige Gleichzeitigkeit bei tatsächlicher Ungleichzeitigkeit.

Nicht umsonst rief der biblische Daniel den Engel Gabriel zu interpretierender Assistenz herbei, um zurückliegend Unabgegoltenes im Gesicht des Gegenwärtigen für den hörend Sehenden erkennbar zu machen: „Lege diesem das Gesicht aus, damit er’s versteht.“

 

Naturrecht und menschliche Würde

Arno Münster am 3. Dezember 2014 in Tübingen. (Foto: © Welf Schröter)

Arno Münster am 3. Dezember 2014 in Tübingen. (Foto: © Welf Schröter)

Es war ein unzweideutiges Plädoyer für die Freiheit des Menschen, die unter keinem politischen Vorwand und schon gar nicht durch den Avantgardeanspruch irgendeiner Partei eingeschränkt werden dürfe. Mit dieser Haltung eröffnete Arno Münster, der sich in seiner philosophischen Arbeit Ernst Bloch verpflichtet sah und sieht, im denkwürdigen Hörsaal Eins in der Neuen Aula der Tübinger Universität sein Werben um die Verteidigung der Würde des Menschen. Die Freiheit der Citoyenne und des Citoyen ist die Grundlage und Bedingung humaner gesellschaftlicher Emanzipation hin zur – wie Bloch es nannte – Genesis der Menschheit, die diese noch vor sich habe. Es gelte die kantianische Erbschaft in Blochs Denken hervorzuheben, der immer die Trikolore als Ausgangspunkt und Leitmotiv gesellschaftlicher Veränderung annahm. 

Ernst Bloch habe – so Arno Münster – in seinen Isolationsjahren in der DDR zwischen 1957 und 1960, in denen die SED den rebellischen Denker zum Schweigen bringen wollte, sein wichtiges Buch „Naturrecht und menschliche Würde“ verfasst und später in der Bundesrepublik veröffentlicht. Das Werk – so Münster – müsse heute neu gelesen werde. Es habe unabgegoltene Aktualität wie insgesamt der Blochsche Naturrechtsgedanke. 

Bloch, der in den dreißiger Jahren gegen den Protest der aktiven Hitlergegnerin Karola Bloch, seine Wertschätzung Stalins veröffentlichte, hat in diesem Werk faktisch den Stalinismus wie auch den Leninismus kategorial seziert und abgelehnt. Das Buch muss als radikale Kritik am diktatorischen Regime Ulbrichts gelesen werden. Rudolf Bahro konnte später mit seiner „Alternative“ darauf aufsetzen. 

Arno Münster stellte Ernst Bloch in die Tradition des Denkens des französischen Kriegsgegners Jean Jaurès, der vor 100 Jahren zu Beginn des Ersten Weltkrieges einem politischen Attentat zum Opfer fiel. Auch Jaurès sah im Dokument der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ das Schlüsseldokument europäischer Freiheitsbestrebungen.

„Es gibt kein richtiges 1917 ohne ein richtiges 1789“ (Arno Münster).

 

 

Praktische Vernunft

(Foto: © Welf Schröter)

Einblick ins Ernst-Bloch-Zentrum Ludwigshafen (Foto: © Welf Schröter)

225 Jahre nach dem Sturm auf die Pariser Bastille an jenem 14. Juli ist die Erbschaft des Citoyen und der Citoyenne in den europäischen Gesellschaften sowie darüber hinaus heute noch immer nicht abgegolten, nicht vollendet. Noch immer ist der Tagtraum der Bürger-, Freiheits- und Menschenrechte stärker als ihre Einlösung.

Zu schnell haben jene, die die Vollendung des Marktes anstrebten, die Erbschaft der Jakobiner angetreten. Zu schnell haben jene anderen, die die bürgerliche Demokratie kennenlernten, sie verkürzt als Stimme des Wertgesetzes diskreditiert.

In Kritik gegenüber dem Marxschen Denken erhob Ernst Bloch 1967 seine eigene Stimme, um den Citoyen gegen seine Gegner zu verteidigen. Es sei ungenügend, die Erbschaft des französischen Juli nur als Wegbereitung der „Verfallstendenzen“ einer kapitalistischen Gesellschaft zu begreifen. 1789 trage noch ein anderes „Erbe“ in sich, nämlich „das Erbe des bürgerlichen Naturrechts der Aufklärung und die aus seiner Rechtsutopie einer »bürgerlichen Gesellschaft« größter und gleicher individualer Freiheit und Sicherheit hervorgehende Demokratie der Französischen Revolution.“

In seiner Rede zur Entgegennahme des Friedenspreises des deutschen Buchhandels in der Paulskirche setzte Bloch auf das Subjekt, das Subjektive, den Wärmestrom gegen allzu abirrenden Kältestrom: „Wenn die Verhältnisse die Menschen bilden, so hilft nichts als die Verhältnisse menschlich zu bilden; es lebe die praktische Vernunft.“

Kantianisch geprägt sucht er die Kräfte der Aufklärung, symbolisiert als Trompetenstoß im „Fidelio“. Aufklärung und Aufhebung des Ungleichzeitigen in der Geschichte des Bewußtseins der Citoyens und Citoyennes.

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„dann erst kann … wahrhaft Freiheit sein“

Inschrift „Tempel des Literaturgottes“ auf der Leipziger Buchgrafik-Ausstellung gegen den nahenden Krieg 1914 (Foto: © Welf Schröter)

Es waren nicht nur Tausende von Menschen auf dem „Platz des himmlischen Friedens“. In zahlreichen Städten Chinas gingen Millionen von Menschen für mehr Demokratie und Freiheitsrechte auf die Straße. Sie forderten keinen Umsturz, sie forderten Verbesserungen für ihr Land. Sie gingen im Geiste ihrer Literatur und Lesekultur, ihrer Bücher und ihres kulturellen Wissens auf den großen Platz der Öffentlichkeit.

Als vor 25 Jahren am 4. Juni 1989 in Peking mit Waffengewalt gegen Studenten, Arbeiter, Professoren, Schriftsteller vorgegangen wurde und am Ende mehrere tausend Tote auf der Straße lagen, ging ein Schock nicht nur durch die Oppositionsbewegungen in Leipzig, Warschau und Prag. Würden die Kommunistischen Parteien auch dort zu den Waffen greifen lassen? Hätte die „Samtene Revolution“ eine Chance?

Im Juni 1989 nahm Karola Bloch die Nachrichten von Tiananmen-Platz mit tiefem Erschrecken zur Kenntnis: „Es ist furchtbar, was in Peking geschieht. Sie erschlagen Menschen und lassen sie hinrichten, obwohl sie gar nicht Feinde des Sozialismus sind, sondern lediglich Demokratie und Reformen verlangen. Ich bin entsetzt, wenn ich erfahre, wie Menschen zum Tode verurteilt werden. Es ist etwas so Unwiederbringliches. Sind wir jetzt nicht zu Ende mit dem Kommunismus?“ (Sehnsucht 2, 94)

Für sich persönlich beantwortete Karola Bloch die gestellte Frage negativ: „Ich sehe, dass der Kommunismus nicht fähig war, die Menschen zu ergreifen und zu erobern.“ Dabei unterschied sich ihr persönliches Verständnis der kommunistischen Idee von denen Stalins, Ulbrichts und andere grundlegend. Für die Polin, Architektin und Sozialistin aus jüdischem Haus waren Freiheit und Demokratie untrennbar mit dem Tagtraum eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ verbunden.

Ähnlich hatte sich ihr späterer Mann Ernst Bloch schon 1918 gegen den Ersten Weltkrieg als sehnlichst Hoffender und enttäuscht Kritiserender der „Russischen Revolution“ geäußert: „Erst muß diese Phase: die bürgerliche, die politische Freiheit, das demokratische Minimum überall, vor allem aber in den Zentralstaaten, zu Ende gebracht werden; dann erst kann die soziale Freiheit, die ökonomisch-soziale Demokratie, das demokratische Maximum wahrhaft Freiheit sein und bleiben.“

Und an anderer Stelle schrieb er: „Weil also Marx allein mit dem Hochkapitalismus zu rechnen gelehrt hatte, gab man der beginnenden proletarischen Fabrikverschmutzung Rußlands als der programmgemäßen Antithesis in kommunistisch-kapitalistisch-sozialistischer Wirtschaftsdialektik den gottlosen Segen; und machte gerne, mit der Minderheit an Soldatenpöbel und Fabrikarbeitern, preußisch-zaristische ,Diktatur des Proletariats‘.“

Es gibt Dinge, über die heute ein anständiger Mensch nicht zweierlei Meinung sein kann. So eines der gängigen Bloch-Zitate. Wer heute also die Unabgegoltenheit Blochschen Denkens artikuliert oder artikulieren will, wird dies vom Standpunkt der Überlebenden des Tiananmen vom Juni 1989 aus leisten müssen, wenn Glaubwürdigkeit die eigene Rede prägen soll.

 

Anne Frommann, Welf Schröter (Hg.): Karola Bloch – Die Sehnsucht des Menschen, ein wirklicher Mensch zu werden, Reden und Schriften. Zwei Bände, Mössingen 1989.

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Identität in der „virtuellen Lebenslage“

(Foto: © Welf Schröter)

Der Blick auf die Arbeitswelt zeigt neue Brüche. Im letzten Jahrhundert war der industrielle Arbeitsplatz vor allem von drei Faktoren geprägt: Arbeit hatte ihren Ort, Arbeit hatte ihre Zeit, Arbeit hatte ihre Verfasstheit. Die Einführung der Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) führte zu einer zunehmenden Flexibilisierung von Ort, Zeit und Verfasstheit von Arbeit. Rund zwei Jahrzehnte danach haben sich die sozialen und organisatorischen „neuen Infrastrukturen von Arbeit“ deutlich verändert: Arbeit und Arbeitsmengen sind nicht mehr an den Ort Betrieb gebunden, mehr und mehr Arbeitsvolumina wandern aus dem Ort Betrieb aus, das „Prinzip Betrieb“ bröckelt. Die materiellen und sozialen Interessen von Kernbelegschaften und „Freien“ driften auseinander.

Die Verfasstheit der betrieblichen Organisation und Mitbestimmung passen immer weniger zu den laufenden Veränderungen: Aus der Elektronisierung des Arbeitsplatzes und der Arbeitsabläufe im Betrieb wurde die Virtualisierung der Arbeitswelten.

Was passiert mit dem menschlichen Subjekt? Im Lebensgefühl, im persönlichen Befinden, in der sozialen Eingebundenheit , in der technischen Anwendungsumgebung und in den materiellen Interessen entsteht bei immer mehr Menschen eine veränderte Lebenslage, die nicht mehr identisch ist mit der abgegrenzten Rolle einer abhängig beschäftigten Person innerhalb eines Betriebes. Es kommt zum Wandel der Lebenslage: Entgrenzung der alten Arbeitswelt, Neuverortung in der digitalen Arbeitsgesellschaft, persönliche Neuorientierung und Notwendigkeit einer neuen Selbstvergewisserung. Die „Virtuelle Lebenslage“ wird zu einer bestimmenden Bedingung.

Was heißt bisher „Virtuelle Lebenslage“? Es ist zum einen der persönliche Datenschatten (Datenspur) im Netz, die personenbezogene Profilbildung durch Zusammenführen der Spuren, fremdgesteuerte „Identitäts“schaffungen durch Integration der Personen zugeordneten Social Media-Spuren, die Verknüpfung privater mit beruflichen Datenspuren, die Globalisierung und Entterritorialisierung der Datenspuren. „Das Netz vergisst nichts.“

Der Begriff „Identität“ läßt sich aber auf verschiedene Weise verstehen: als pädagogisch-didaktisch-erzieherisch-psychologisches Entwicklungsziel, als beruflich-inhaltliche Corporate Identity, als soziokulturelles Ergebnis, als technisch verstandenes Konstrukt von Rollen und Berechtigungen im Netz, als juristische Festlegung, als Mensch-Maschine-Interaktion, als personenbezogener Datensatz, als Datenbestandteil des Cyber-Physical-System.

Für die Diskussion sollte gelten, dass der Begriff „Identität“ nicht nur die technischen Rollen und Profile im Netz meint, sondern vor allem die ganzheitliche soziale und persönliche Lebenslage, die vollständige Subjektivität des Menschen. Es geht um die Rückeroberung eines ganzheitlichen Menschenbildes. Die Begriffe „Identität in der Virtualität“ und „Virtuelle Lebenslage“ ordnen sich sodann dem unter. Es geht um die Erlangung einer selbstbestimmten Lebenslage entgegen einer virtuell zu oft fremdbestimmten.

Die neue „Virtuelle Lebenslage“ mit ihrer Schein-Autonomie aber trägt Vergangenheit, das alte Leben, in sich und mit sich. Bedürfnisse und Hoffnungen, die im bisherigen Leben unerfüllt und unabgegolten blieben, suchen sich den Weg in die neue Umgebung. Alte Zeiten mischen sich in neue Zeitläufte. Die „Virtuelle Lebenslage“ ist in sich ungleichzeitig. Sie lässt noch immer die Sehnsucht nach einem humanen Menschen in sich keimen. Es ist die „Sehnsucht des Menschen, ein wirklicher Mensch zu werden“ (Karola Bloch).