„Olga“ und „Pasionaria“

Mancher Jahrestag lädt ein zu Erinnerungen und zu differenzierendem Nachdenken. Vor 25 Jahren starb am 12. November 1989 die aus dem Baskenland stammende mehr als neunzigjährige Franco-Gegnerin und Widerstandskämpferin Dolores Ibárruri. Bekannt wurde sie unter ihrem politischen Namen „La Pasionaria“. Sie gehörte zu den führenden Persönlichkeiten des spanischen Kommunismus. Nach der Niederlage der Republik gegen die faschistische Machtübernahme floh sie in die Sowjetunion.

(Foto: © Welf Schröter)

(Foto: © Welf Schröter)

„La Pasionaria“ war Kommunistin, ein Leitbild für die spanischen Frauen, ein Symbol für die „Internationalen Brigaden“ und zugleich eine loyale Interpretin des Stalinismus. Sie galt als Symbol für die antifaschistische Befreiung und war zugleich Sprecherin eines parteidiktatorischen Gesellschaftsmodells.

„La Pasionaria“ mit ihrem Ausspruch „No pasarán“ („Sie werden nicht durchkommen“) galt in ganz Europa als Sinnbild des Widerstandes gegen Hitler, gegen Franco und Mussolini. Auch die damals über dreißigjährige Karola Bloch war eine begeisterte Anhängerin der selbstbewussten Baskin und Spanierin: „So wie Rosa Luxemburg für mich auf der theoretischen Ebene ein großes Ideal war, so galt die ,Pasionaria‘ auf dem Gebiet der praktischen politischen Tätigkeit mir als Ideal“, erinnert sie sich im Gespräch im Jahr 1986 in ihrer Tübinger Wohnung.

Karola Bloch, die Architektin, Polin, Jüdin entschloss sich zu eigenen Formen des Widerstandes. Unter dem Decknamen „Olga“ reiste sie durch das Nazi-Reich von Paris nach Warschau, um polnischen Freunden geheime Kassiber des antifaschistischen Widerstandes zu überbringen. Trotz großer Angst und Gefährdung gelangen die Aktionen, wie sie in ihrer Autobiografie „Aus meinem Leben“ schrieb.

Doch anders als Dolores Ibárruri floh Karola Bloch vor der Gestapo ganz bewusst nicht in die Sowjetunion sondern in die USA. „Olga“ sah in der Sowjetunion die zentrale militärische Kraft gegen Hitler. Aber anders als die Journalistin der spanischen KP-Zeitung „Mundo Obrero“ stellte sich Karola Bloch gegen das politische System des Stalinismus. Karola Blochs Kommunismusverständnis widersprach der „Diktatur des Proletariats“ und der Parteilinie Moskaus. Während Dolores Ibárruri Menschen an den Geheimdienst Stalins verriet, half Karola Bloch jenen Kommunisten, die vor Stalin auf der Flucht waren. Erst im Jahr 1968 korrigierte sich Dolores Ibárruri und wandte sich gegen die „Breschnew-Doktrin“ und gegen die militärische Niederschlagung des „Prager Frühlings“ in der Tschechoslowakei. Da endlich waren sich beide Frauen wieder einig.

Zwei widerständige Frauen, zwei überzeugte Antifaschistinnen und dennoch zwei unterschiedliche, sich ausschließende Tagträume gesellschaftlicher Zukunft.

 

Eine nicht gehaltene Rede in der Nikolaikirche Leipzigs

Fünfundzwanzig Jahre nach dem von Montagsdemonstranten erfolgreich eingeleiteten Sturz des SED-Regimes in der DDR ist es Zeit an einen historischen Moment zu erinnern, der mit großen Emotionen vorbereitet wurde und doch nie stattfand. Es geht um eine nicht gehaltene Rede in der Leipziger Nikolaikirche.

Leipziger Nikolaikirche (Foto: © Welf Schröter)

Leipziger Nikolaikirche (Foto: © Welf Schröter)

In Tübingen fanden sich schon vor 1989 immer wieder prominente DDR-Kritiker ein, die von der StaSi bedrängt, verfolgt und letztlich aus ihren Wirkungsstätten zwangsweise ausgebürgert wurden. Karola Bloch empfing Rudolf Bahro (1935-1997), Jürgen Fuchs (1950-1999), Jürgen Teller (1926-1999) und viele mit weniger bekanntem Namen. Auch Lew Kopelew (1912-1997) und Vertreter der im polnischen Untergrund tätigen Gewerkschaft Solidarnosc traf die Architektin, Bauhausanhängerin und Antifaschistin in der Neckarstadt.

Mit großer Sympathie und Herzblut verfolgte Karola Bloch im Frühjahr, Sommer und Herbst des Jahres 1989 die Ereignisse in Leipzig. Sie stand unzweideutig auf der Seite des „Neuen Forum“ und der Montagsdemonstranten. So war es ihr eine Freude, nach dem damaligen November das Leipziger „Haus der Demokratie“ mit einer besonderen Buchspende zu unterstützen. Auf Wunsch der dortigen „Initiative für Demokratie und Menschenrechte“ sandte sie eine Gesamtausgabe der Werke Ernst Blochs für die öffentliche Bibliothek des Hauses. Die Leipziger bedankten sich: „Da es in der DDR sehr schwer ist, an die Bloch-Gesamtausgabe heranzukommen, sie ist nicht einmal in der Leipziger Universitätsbibliothek zu lesen, freut uns ihr Besitz umso mehr. Unsere Bibliothek wird von sehr vielen Leuten frequentiert, so dass sie dort allen Interessenten zur Verfügung steht.“

Wochen zuvor saßen in Leipzig Vertreter des „Neuen Forum“, von „Demokratie Jetzt“ und der örtlichen Friedensgruppe sowie einem Gast aus Tübingen im Büro von Pfarrer Christian Führer (1943-2014) zusammen. Es sollte eine Rede und Lesung Karola Blochs (1905-1994) in der Nikolaikirche im Frühjahr 1990 vorbereitet werden. Jürgen Teller, als früherer – von der StaSi verfolgter – Bloch-Assistent war als einleitender Referent vorgesehen. Die Leipziger Bürgerbewegungen wollten zu dieser Veranstaltung einladen.

Karola Bloch war von dieser Einladung sehr berührt. Sie wollte sie annehmen und sich auf die Seite der Demokratie „von unten“ stellen. Doch zu diesem Auftritt kam es nicht. Ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich. Die 85-Jährige konnte nicht reisen. Ein besonderer Moment in Leipzig fand nicht statt. Dieser konnte auch nicht mehr nachgeholt werden.

Schon im Herbst 1989 hatte Jürgen Teller, dem die DDR-Regierung seinen wissenschaftlichen Werdegang zerstörte, nach Tübingen geschrieben: „Karola, […], fehlt uns heute in Leipzig.“

Lesehinweis: Welf Schröter: Utopie und Moral. In: Francesca Vidal (Hg.): Wider die Regel. Mössingen 1991. S. 53-69. ISBN 978-3-89376-015-2

Wenn das Nichts einen Ort erhält

(Foto: © Welf Schröter)

(Foto: © Welf Schröter)

Seit langem streiten Philosophen darüber, ob es ein Nichts gibt und ob dieses Nichts einen Ort haben kann. Was kaum ein Philosoph schaffte, gelang einem schwäbischen Eisenbahner nun im Hauptbahnhof Stuttgart in abendlicher Stunde. Ein Nichts bekam einen Ort und sogar eine Richtung. Frei aus dem Schwäbischen übersetzt ließ er sich wie folgt vernehmen: „Verehrte Fahrgäste, ich begrüße Sie in diesem Zug. Die beiden Triebwagen fahren zusammen bis Tübingen. Dort werden sie getrennt. Der vordere Zugteil fährt nach Aulendorf. Der hintere Wagen geht nach Rottenburg. In welchem Zugteil Sie sitzen, sehen Sie an der Wagenanzeige über der Tür.“

Im dialektischen Sprachschatz eines Älblers schloss er seine Darstellung philosophisch: „Em vordre Doil sdohd nix. Des hoißd Auladorf.“

Die Fahrgäste waren nicht beunruhigt. Im Gegenteil. Sie fühlten sich heimisch. Das Nichts hatte einen Namen und einen Ort erhalten.

 

Das „Alte Herkommen“

Manchmal kommt es vor, dass ein lesender Kopf neugierig in den Bann eines Begriffes gezogen wird. Es scheint, als ob Worte beginnen, Geschichten zu erzählen. Der erste Blick löst Gedanken aus und aktualisiert Erinnerungen. Vergangenes kommt zurück. Das eigene Selbst sucht nach Offenem, nach Uneingelöstem.

(Foto: © Welf Schröter)

(Foto: © Welf Schröter)

Das „Alte Herkommen“ ist ein solches Wort. Das erste Lesen assoziiert zu „Herkommen“ umgangssprachlich den Begriff „Herkunft“. Doch halt! Die Worte sind vielschichtig und tragen verschiedene Zeiten in sich.

Vor 500 Jahren beschrieb das „Alte Herkommen“ die sozialen und wirtschaftlichen Gewohnheitsrechte der armen Bauern. „Altes Herkommen“ bemaß das Recht, Holz im Wald des herrschenden Adels zu schlagen, um selbst in der bäuerlichen Hütte den Winter warm zu überdauern. Das „Alte Herkommen“ galt als alter verlässlicher Brauch, der Rechte regelte.

Als nun Grafen und Herzöge den Bauern das Recht, Holz zu sammeln, wegnahmen, ihnen ihr angestammtes „Altes Herkommen“ entrissen, erhoben sich die Untertanen aus prekärer Lage zum Widerstand. Sie fanden sich unter dem Leitmotiv „Armer Konrad“ zusammen.

Der Bruch des vereinbarten „Alten Herkommens“ durch die Herren löste Verelendung, Kälte und Armut aus. Bäuerlicher Untertan zu sein, wurde nun zugleich Zeichen der Herkunft des „gemeinen Mannes“.

Heute birgt das Wort „Altes Herkommen“ ungleichzeitige Erbschaften in sich. Es erinnert an bäuerlich-aufständische Freiheitshoffnungen der Jahre 1514 und 1525 im Herzogtum Württemberg. Zugleich beleuchtet es die Niederschlagung der demokratischen Bewegung durch Burgherren und städtische Patrizier.

450 Jahre später ließ sich Ernst Bloch zu dem Kommentar hinreißen: „Die Enkel fechtens besser aus!“

 

Die Bewegung des „Armen Konrad“

(Foto: © Welf Schröter)

(Foto: © Welf Schröter)

Es war ein Bauernaufstand im Sommer des Jahres 1514, der dem großen Bauernkrieg 1525 im Südwesten vorausging. Unter der Chiffre „Armer Konrad“ rebellierten im Herzogtum Württemberg darbende Bauern gegen die adelige Obrigkeit. Die Bewegung des „Armen Konrad“ verlangte erst Essen gegen den Hunger, dann Gerechtigkeit. Als die Grafen und Herzöge dies verweigerten, wollten die Bauern aus dem Remstal und aus dem Böblinger Raum den Sturz der Herrschaft. Mit Gewalt, Folter und Gerichten wurde der Aufstand niedergemacht.

Fünfhundert Jahre später erinnern Bürgerinnen und Bürger der kleinen Gemeinde Glashütte nahe der schwäbischen Gemeinde Waldenbuch an jene Aufständischen, die als Glashütter Bauern des „Armen Konrad“ von der Justiz des Adels umgebracht wurden.

Aus der Perspektive der Rebellen beschreiben heute Bürgerinnen und Bürger die aufrührerische Geschichte ihres Ortes. Ein öffentlicher Platz wurde vom Gemeinderat in Respekt vor den demokratischen Bauern von einst in „Platz des Armen Konrad“ benannt. Dort steht ein Schild mit besonderer Aufschrift:

„Peter Wolff, Bernhard Wolff, Caspar Schmid und Peter Koch aus Glashütte, dazu Hans Schmeck aus Waldenbuch und Jörg Legolo aus Stuttgart starben als Teilnehmer am Bauernaufstand Armer Konrad durch das Schwert auf der Hauptstätte zu Stuttgart am 9. August 1514. Sie waren ihrem Traum von der besseren Gerechtigkeit gefolgt.“

(Foto: © Welf Schröter)

(Foto: © Welf Schröter)

In der Bewegung des „Armen Konrad“ hatten sich gleichwohl auch Frauen organisiert: „Sie zihet ihre Stiffel an und rüstet sich gleich wie ein Mann.“

Wie rief doch vor Jahren der Philosoph Ernst Bloch energisch von der Kanzel: „Wohlan, ich will aufrührerisch sein!“

 

Harold Livingston (1923 – 2014)

Harold Livingston (Foto: © Welf Schröter)

Harold Livingston (Foto: © Welf Schröter)

Es war der 22. Juli 2009, als sich in der schwäbischen Kleinstadt Mössingen am Rande der Schwäbischen Alb zwei Männer trafen, die sich zuvor nie begegnet waren und doch indirekt verbunden schienen. Der Philosoph und Naturwissenschaftler Jan Robert Bloch gab dem Unternehmer Harold Livingston die Hand.

Monate später schrieb Jan Robert Bloch in seinem letzten Text vor seinem Tod über das Treffen in Mössingen: „Etwas stieg auf, was entschwunden schien. Etwas kehrte ein, wovon kaum jemand sprach.“ Jan Robert Bloch erinnerte sich an die Freundschaft seiner Eltern Ernst und Karola Bloch mit Adolph Lowe und Beatrice Lowe geb. Löwenstein.

Nur wenige Wochen vor seinem 91. Geburtstag im Oktober starb Harold Livingston in London. Er war der Sohn von Artur Löwenstein, dem Bauhaus-Anhänger und Mitbegründer des Mössinger Textilunternehmens Pausa sowie Bruder von Beatrice Löwenstein. Als 13-jähriger Junge wurde er zusammen mit seinen jüdischen Eltern und weiteren Angehörigen von den Nationalsozialisten vertrieben. Die Firma Pausa wurde in einer geplanten Aktion zwangs„arisiert“. Als 22-jähriger kam Harold Livingston als britischer Soldat zurück. Er gehörte nicht nur zu den Befreiern Deutschlands von der NS-Diktatur sondern auch zu den Befreiern der Inhaftierten im KZ Bergen-Belsen.

Auf Grund der Initiative von Bürgern konnten im Jahr 2009 Mitglieder der Familie Löwenstein 73 Jahre nach ihrer erzwungenen Emigration erstmals wieder Mössingen besuchen. Im Namen der Stadt entschuldigte sich der damalige Oberbürgermeister bei der Familie. Beim seinem dritten Besuch im Sommer 2013 kam Harold Livingston auf Einladung des Theaters Lindenhof und des Löwenstein-Forschungsvereins in die Steinlachstadt. Er nahm als Ehrengast an der Aufführung des Stückes „Ein Dorf im Widerstand“ teil. In einer beeindruckenden Rede entschuldigte sich bei diesem Aufenthalt der örtliche Landrat persönlich bei Harold Livingston für das verbrecherische Verhalten der Behörden und der Bank im Jahr 1936 im Zuge der Enteignung von Artur und Felix Löwenstein.

In hohem Alter konnte Harold Livingston wieder Zugang finden zu den Orten seiner Kindheit, Stuttgart und Mössingen. In Jan Robert Bloch hatte er einen sensiblen Gesprächspartner gefunden. Für den damals 72jährigen Bloch war das Zusammentreffen mit dem damals 85-jährigen Livingston das Symbol für eine andere, glaubwürdige und authentische Erinnerungskultur. Beide standen sie gegen jedwede Ausprägung des Antisemitismus.

 

Authentizität der anderen Privatheit

Die Frage nach der Zukunft des Ich schaffte es auf die Titelseite der WIRED. „Es spricht mehr dafür, dass wir im Netz authentischer sind.“ Mit diesem Satz des Oxforder Philosophen und Informationsethikers Luciano Floridi bricht eine Kontroverse neu auf, die das „virtuelle Ich“ gegen das „biografische Ich“ zu stellen versucht.

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In der WIRED-Ausgabe des Oktober plädiert Google-Berater Floridi für eine Neubewertung des Privaten: „Darum dreht sich ja die Frage nach der Privatsphäre: nicht um Informationen, die wir besitzen, sondern um Informationen, die wir SIND.“ Als Ethiker warnt er davor, eine Kultur zu forcieren, die vortäuscht, man könne im realen Leben auch mit der Löschtaste Geschehenes ungeschehen machen.

WIRED-Journalist Joachim Hentschel spitzt die Position des amerikanischen Philosophen Patrick Stokes zu. Dieser erklärte, es sei das Verdienst der sozialen Online-Netzwerke, dass sie die Differenz der „sozial konstruierten öffentlichen Identität“ und dem „ich, das sich als Subjekt der eigenen Erfahrung wahrnimmt“, erst „anschaulich“ mache. Hentschel fragt lakonisch, ob wir nun Descartes‘ ,Ich denke, also bin ich‘ ersetzen sollen durch ,Ich googelte und fand mich‘.

In dieser etwas ironischen Gegenüberstellung findet sich aber ein wesentlicher Aspekt, nämlich der des Zeitprozesses. Das Erleben des echtzeitig gegoogelten Ich ist ein gegenwärtig-zeitgleiches Wahrnehmen von Daten und Bildern. Im Denken des Menschen vollzieht dagegen sich die Berücksichtigung des Vorzeitigen und des Ungleichzeitigen. Eine Suchmaschine hat kein Bewusstsein. Bewusstlosigkeit versus Bewusstsein. „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“ (Ernst Bloch)

 

 

Lobo entdeckt Bloch

Er gilt als kluger Selbstvermarkter und selbsternannter Internetexperte: Sascha Lobo, Journalist, Autor, Blogger und Marketinghelfer großer Konzerne. Seit jüngster Zeit schreibt er sich als Spiegel-Online-Autor ins Netz ein. Stets sucht er neue Schlagworte – bei sich und anderen –, um sich in der heißen Hektik von Tweets und Blogs „vorne“ zu halten. Nach Jahren der Netzkritik, des Ringens um Datenschutz und Datenhoheit sowie der Kritik an der Netzpolitik entdeckt Sascha Lobo nun den Philosophen Ernst Bloch. Besser müsste man sagen, er schließt sich einer Entdeckung an.IMG_6683

In den neunziger Jahren startete der Diskurs „Arbeitswelt trifft Philosophie – Philosophie trifft Arbeitswelt“ mit Wissenschaft, Unternehmen, Gewerkschaften und Philosophen als Initiative des Netzwerkes Forum Soziale Technikgestaltung unterstützt vom Ernst-Bloch-Zentrum. Kernthese des weit über zehn Jahre laufenden Diskurses ist die Hinwendung zum Begriff „Ungleichzeitigkeit“ aus Blochs Werk „Erbschaft dieser Zeit“.

Die weitreichenden Veränderungen und Transformationen der Arbeitswelt durch den Einsatz moderner Informations- und Kommunikationstechniken führ(t)en zu grundlegenden Brüchen im Verständnis von Arbeit: Das Entstehen „neuer Infrastrukturen der Arbeit“ wurde in diesem Diskurs mit dem kategorialen Blochschen Hilfsmittel der „Ungleichzeitigkeit“ analysiert und gefasst. Die Ergebnisse des Diskurses sind in mehreren Publikationen wie „Gestaltete Virtualität“ und „Identität in der Virtualität“ sowie in mehreren „Bloch-Jahrbüchern“ nachlesbar.

In der Sonntagnachtausgabe (19. Oktober) der ZDF-Philosophie-Sendung von Richard David Precht hat nun auch der SPIEGEL-Blogger Sascha Lobo das Thema aufgegriffen und Blochs Begriff der „Ungleichzeitigkeit“ als einen wichtigen Schlüssel zur Betrachtung der „Zukunft der Arbeit“ gewertet. Damit hat er dem Thema eine enorme zusätzliche Öffentlichkeitswirkung eingeräumt.

Sascha Lobo hält in Kürze die zweite „Zukunftsrede“ im Ernst-Bloch-Zentrum (www.bloch.de) in Ludwigshafen am Rhein. Es wäre ein Gewinn, würde sich Sascha Lobo in einen seit Jahren bestehenden Diskursprozess einvernetzen.

 

Die Zukunft des Ich

Der Diskurs über „Identität in der Virtualität“, wie er seit mehreren Jahren im Spannungsverhältnis von sozialer Technikgestaltung und Blochscher Philosophie geführt wird, bekommt nun von prominenter Seite weiteren Rückenwind.ZukunftICH

Bisherige Grundlage der laufenden Debatte ist die These, dass der Begriff der „Identität“ in der E-Society sich aus dem Konvergieren von biografischer und virtueller Identität neu entwickelt. Für die Kontroverse um „Industrie 4.0“ bedeutet dies, dass Identität zu einem zivilgesellschaftlichen Schlüsselthema der Transformation der „Wissensgesellschaft“ wird: Die Einflüsse und Chancen der „virtuellen Identitäten“ und ihre Rückwirkungen auf das „biografische Ich“ erfordern einen ganzheitlichen Blick und ein auf Ganzheitlichkeit angelegtes Gestaltungskonzept. (Schröter)

Die deutsche Oktober-Ausgabe der IT-Zeitschrift „WIRED“ stellt die Frage nach der Zukunft des „Ich“ und meint: „Soziale Netzwerke und Internet of Things verändern die menschliche Identität radikal.“

Joachim Hentschel sieht die „Technologie als Krücke der Ich-Konstruktion“ und das digitale Ich als „ein Backup der eigenen Persönlichkeit“: „Dass die Ich-Digitalisierung heute noch so oft als Dystopie und Bedrohung verstanden wird, hat aber wohl weniger mit der Angst vor dem Datenmissbrauch zu tun. Eher mit einem verbreiteten bürgerlichen Konzept von Authentizität, in dem das Technische, Virtuelle, Nicht-Körperliche per se als weniger maßgeblich gilt.“ Hentschel warnt – in seiner Sicht immanent konsequent – davor, „Online- und Offline-Ich zu apodiktisch zu trennen.“

Zweifellos steckt in seinem Hinweis auf besagte Authentizität ein richtiges Argument. Das „Virtuelle Ich“ wird in seiner Bedeutung und Wirkungsweise noch immer unterbewertet. Jedoch unterschätzt der Autor das gewachsene soziale und kulturelle Gewicht der Entstehungsgeschichte des „biografischen Ichs“. Das Humanum kann technisch ergänzt, nicht aber ersetzt werden. In Hentschels Prognose steckt zuviel transhumanistischer Perspektive.

 

Vergesellschaftung statt Vermassung

„Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“ Diesem Kernsatz Ernst Blochs folgte der Journalist und Autor Peter Zudeick bei seinem äußerst anregenden Vortrag „Individuum und Veränderung“ bei der Tagung „Vom Ich zum Wir“ in Rottweil, der ältesten Stadt Baden-Württembergs. In seinem Streifzug durch die Philosophiegeschichte von Aristoteles über Nietzsche bis hin zu Bloch unterstrich der Bloch-Schüler, dass die Sozialität des Menschen Grundlage seiner Besonderheit sei, nicht das Resultat.

(Foto: © Welf Schröter)

Peter Zudeick (Foto: © Welf Schröter)

Das menschliche Selbstbewusstsein bilde demnach das Produkt seiner Sozialität, das Produkt seiner Interaktion mit anderen. Die Perspektive liege hierbei auf Vergesellschaftung nicht auf Vermassung, wenn aus dem „Ich“ ein „Wir“ werden solle. Das „Ich“ sei vom „Wir“ nicht zu trennen. Zwischen beiden bestünde ein unauflöslicher Zusammenhang. Selbstverwirklichung könne ohne die soziale Dimension des „Wir“ nicht erreicht werden. Die Fähigkeit, über sich hinaus zu denken, schaffe die Potenziale zur Veränderung.

Nach Bloch heiße Mensch-Sein, konkrete Utopien zu entwickeln. Jeder folge seinen Bedürfnissen so, dass das gesellschaftlich Gemeinsame Zukunft habe. Dabei erinnerte Zudeick an Karl Marx: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen.

Dem stehe die ideologische Reduzierung des Menschen als „homo oeconomicus“ entgegen, die Rationalität nur als Rationalität des wirtschaftlichen Systems, des Marktes begreifen wolle, gleichsam als Wirken einer „unsichtbaren Hand“.

Der Fortschritt der menschlichen Gesellschaft basiere nicht primär auf dem Individuum, auf dem Ego oder dem Egoismus, sondern vor allem auf der Fähigkeit zur sozialen Kooperation. Der Thatcherismus habe dagegen die Existenz der Gesellschaftlichkeit verneint und das Individuum emporgehoben.

Es gehe aber – so Zudeick – um das Erkennen des Vorhandenen und um dessen Veränderung: „Denken heißt Überschreiten“ (Bloch). Es gehe um Alternativen, um Bewegungen von unten, um Vernetzung der Basisbewegungen. Die Gesellschaft müsse sich zurückholen, was der Staat ihr abgenommen habe.

Vor diesem Hintergrund sei es Aufgabe der Bürgerinnen und Bürger selbst, Neues zu denken und auf den Weg zu bringen. Dies könne man von der etablierten Politik nicht erwarten. „Wichtige Entscheidungen gehören nach unten“ (Zudeick).